Claudia am 18. Oktober 2000 —

Medizin

Es ist recht spät fürs Schreiben, den halben Vormittag hab‘ ich nämlich beim Zahnarzt verbracht. Die „Sanierung“ schreitet voran und ich bin immer wieder erstaunt über die fortgeschrittenen Techniken, die heute in Sachen Zahnersatz zum Einsatz kommen. Kritik an der High-Tech-Medizin übt an dieser Stelle niemand, seltsam, nicht? Bzw. allzu verständlich: Wer will schon aussehen, wie die Hexe in Hänsel & Gretel!

Seit ich übrigens beim Zahnarzt Leistungen in Anspruch nehme, die ich zu 50 oder 100 Prozent selber zahle, hat sich meine Einstellung verändert. Ich fühle mich tatsächlich nicht mehr als Opfer einer ominösen Behandlung, die von undurchschaubaren Institutionen so und nicht anders vorgeschrieben ist, sondern empfinde mich als Kundin, die sich einen gewissen Luxus leistet. Klar, dass ich die Ergebnisse des ganzen Aufwands auch schätze und ordentlich pflege! Entsetzt höre ich die Stories, die mir der Zahnarzt erzählt: von Menschen, die nicht mal den Gegenwert eines guten Essens in die bessere Optik investieren, die ihren Mundraum offensichtlich als Bereich empfinden, für dessen Gesundheit andere zuständig sind – nur keine Mark extra und locker versiffen lassen, es wird ja wieder repariert!

Zur „Krise im Gesundheitswesen“ denk‘ ich seit längerem, es wäre angesagt, bei allen leichten und mittleren Beschwerden auf Selbstbeteiligung umzustellen. Natürlich nicht bei Sozialhilfeempfängern und anderen Härtefällen, aber Otto Normalverdiener sollte schon in die Lage versetzt werden, auch finanzielle Gesichtspunkte in Betracht zu ziehen, wenn es darum geht, sich um die eigene Gesundheit zu kümmern. Dagegen halte ich es für unmenschlich, bei Leuten mit schweren Krankheiten und dauernden Schmerzen an den Medikamenten zu sparen oder Operationen zu verschieben. Der Not-wendige Kern der High-Tech-Medizin sollte für alle zur Verfügung stehen, wogegen z.B. die „alternativen Behandlungsformen“ ruhig weiter privat gezahlt werden können. Es passt ja auch irgendwie nicht zum GEIST vieler Formen von Alternativmedizin, ihr mit einer Versorgungsmentalität zu begegnen.

Manchmal wird in Science-fiction-Filmen gezeigt, wie jemand ziemlich verhackstückt wird und hinterher in einer Krankenstation hast-du-nich-gesehen wieder „gesundwächst“. Mein Zahnarzt sagt, in fünf Jahren schon könnten sie Knochen und evtl. auch Zähne „nachwachsen“ lassen, das ist ja schon nah dran! Mal angenommen, die Medizin entwickelt sich auf allen Gebieten sehr viel weiter und man könnte tatsächlich bis in ein Alter von 100 oder mehr relativ gesund und fit bleiben, vielleicht sogar glatt im Gesicht und mit einem straffen Körper: Wäre das ein Glück oder ein neues Elend? Niemand denkt daran, dass es auch ein psychisches und geistiges Altern gibt. Ein guter Teil davon stellt sich im besten Fall als Weisheit dar – aber ein anderer Teil ist einfach Abnutzung und Niedergang. Das eine vom anderen zu trennen, ist vermutlich unmöglich. Jeder weiß, dass man sich z.B. in den mittleren Jahren nicht mehr so „unsterblich“ verliebt wie mit zwanzig. Zum einen deshalb, weil man das nun schon öfter erlebt hat, die Abläufe kennt und einfach nicht mehr in Stande ist, derart ins Illusionäre abzudriften. Man erkennt, was die Faszination eines anderen ausmacht: sexuelle Anziehung, Aspekte der Macht oder geistige Potenzen, oder auch ganz spezifische Eigenheiten, die an einmal geliebte Menschen erinnern. Man ist realistischer geworden – und kühler. Das alles ist Erfahrung, doch andrerseits ist auch die Hormonlage im Körper eine völlig andere als mit 20. Die Natur hat es schon aufgegeben, noch mit aller Macht zur Paarung anzutreiben, und das macht es leicht, legt es sogar nahe, keine rosa Brille mehr aufzusetzen.

Würde man nun medizinisch den hormonalen Status Quo der Jugend simulieren, um glatt und straff zu bleiben, inwieweit könnte sich die psychisch-geistige Ebene noch so entwickeln? Man denke auch an die Agressivität bei jungen Männern: Will das jemand bei 60-Jährigen Politikern?

Ich glaube, das geistige Chaos wird immer größer werden – und bin mir niemals sicher, ob solche Gedanken nun „richtig“ sind oder selber nur eine Alterserscheinung.

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