Claudia am 06. Juni 1999 —

Wie schön, wenn MENSCH mal fehlt / Rückfall in die Sucht

Heute, am hellichten Sonntagmorgen, bin ich um kurz nach sieben rausgegangen, um mir eine Zeitung und Zigaretten zu holen. Wie still das war! Wie leer! Freie Straßen, kein Mensch weit und breit, ein bißchen Vogelgezwischer, sonst nichts. Und das in der geographischen Mitte Berlins, der Metropole, mit der man ständige Bewegung, Lärm, Buntheit und vielfältiges Leben assoziiert. Ja, das Wetter ist heute nicht besonders, der Himmel ist bedeckt und sieht nach Regenschauern aus – das schreckt sogar die fröhlichen Frühspaziergänger ab.

Ich lief durch die Straßen und genoß die Ruhe und Frische, die Abwesenheit alles Sozialen. Wie schön, wenn MENSCH mal fehlt! Normalerweise sucht man im Raum nach Ruhe, reist in entlegene ruhige Ecken für ein paar Tage der Erholung – hier hatte ich auf einmal die Ruhe in der Zeit gefunden. Trotz aller Individualisierung, trotz der Aufhebung so vieler Regeln und Traditionen gibt es noch diese Rythmen: Nacht, Tag, schlechtes Wetter, Sonntag… Und sie gestatten es, den leeren Raum am selben Ort zu finden, an dem Nachmittags der Bär tobt!

Sucht – meine unendliche Geschichte….

Als ich dann bei Kaffee und erster Zigarette die Mail abrief, mußte ich feststellen, daß mein über ein Jahr altes „Nichtrauchertagebuch“ bei GMX als Toplink erwähnt ist. Nun schreiben mich wieder viele nette Menschen an und verwickeln mich in ihre aktuelle Rauchproblematik. Normalerweise antworte ich auf solche Mails nicht. Ich hatte mich damals entschieden, das Nichtrauchertagebuch im Netz zu lassen, obwohl ich einige Monate nach Abschluß wieder mit der alten Sucht begonnen hatte, dumm und unbelehrbar, wie ich nunmal bin. Ich ließ es stehen, weil es offenbar einigen Leuten nützte bei ihrem eigenen Versuch, das Rauchen zu lassen. Es hatte, sozusagen als netzliterarisches Werk, eine Eigendynamik entwickelt, die ich nicht gewaltsam beenden wollte.

Meine Freunde und Online-Bekannten wissen natürlich, daß ich wieder „unter der Nikotinbestie“ lebe. Doch auf die Mails, die mich aufgrund des Nichtrauchertagebuchs erreichten, antwortete ich nur selten, es wäre ja auch blöd, einer textlichen Motivation ein ebenso textliche Demotivation folgen zu lassen. Manche Leute schrieben auch wörtlich: bitte sage mir nicht, daß Du wieder rauchst! – nun gut, ich ließ es bleiben.

Aber jetzt, wo die Mails ein bißchen viel werden, setze ich doch einen Link zu diesem Tagebuch-Eintrag. Ich eigne mich nicht als Vorbild und Heilige der Suchtbekämpfung, im Gegenteil. Allenfalls kann ich über meine jeweilige Verfassung, meine Versuche, Erfolge und Mißerfolge schreiben – und vielleicht, je nachdem, was die aktuellen Leser von ‚Power of Now‘ nun für richtig finden, werde ich das Nichtrauchertagebuch löschen.

Als ich einige Zeit nach Beendigung des Nichtrauchertagebuchs wieder zu rauchen anfing, war das die übliche Dummheit der Süchtigen: Da war doch mal ein Lusterlebnis, probier doch mal, ob es noch eines ist…. Hinzu kam, daß ich gewaltig zugenommen hatte, ganz ohne spürbar mehr zu essen. Ich fühlte mich zunehmend unwohl in meinem Körper. Zwar war die Lunge echt erholt, aber die zusätzlichen Kilos machten mir wirklich zu schaffen. Und das untergrub so langsam meine Anti-Rauch-Motivation. Ich erkannte, daß mein Leben, wie es ist, das im wesentlichen sitzende Leben vor dem Monitor, nicht so einfach durch Weglassen einer Droge zu gesunden ist. Die Sucht geht lediglich auf andere Stoffe über – oder wird sogar stofflos, z.B. indem man ein Workaholic wird. Ich hätte dagegen weitere Disziplin setzen müssen: auch das Essen problematisieren wie vorher das Rauchen, regelmäßig Sport treiben, absichtlich den Ausgleich veranstalten, Fitneßzentrum, Joggen, Massage, Sauna – doch dazu war und bin ich nicht bereit. So sehr will ich einfach nicht um meine Befindlichkeit kreisen, das langweilt mich und ich konnte noch nie viel Energie in Dinge stecken, die mich langweilen.

Allerdings hat das Ganze doch eine Folge: als ich der Nikotibestie wieder verfallen und mir über all dies klarer geworden war, nahm ich den Wunsch, die Stadt zu verlassen, zum ersten Mal ernst. Vom Computer aufstehen und einen Schritt in den Wald gehen, einen Garten pflegen, zu Fuß die Dörfer in der Umgebung erkunden – DAS sind Aktivitäten, die ich mir schon lange wünsche. Ich hoffe, sie werden mich nicht nur glücklicher machen (eigentlich bin ich ja glücklich genug!), sondern mir den körperlichen Ausgleich bringen, der es mir gestattet, das blödsinnige Saugen am Glimmstengel wieder sein zu lassen.

Ich freu mich schon sehr auf Gottesgabe, wo ich in drei Wochen hinziehe!

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