Claudia am 25. April 2001 —

Anspruch und Wirklichkeit

Endlich ist es wärmer geworden, dafür schüttet es gleich wieder. Selten so einen floppenden Frühling erlebt. Andrerseits sagt ein alter Spruch „es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Klamotten“. Ich finde, das hat was, nur ICH hab‘ es offensichtlich nicht. Wie immer: weder die richtigen Kleider, noch die richtige Einstellung, nicht genügend Flexibilität und nicht die rechte „Offenheit für den Augenblick“. Auch mangelt es deutlich an Achtsamkeit für die materielle Umwelt. Schon wieder muß ich eine neue Batterie kaufen, weil ich unbemerkt im Auto das Standlicht eingeschaltet hatte – und nach zwei Tagen war es natürlich aus mit dem Strom! Dabei schalte ich sogar absichtlich das Licht nicht ein, solange es halbwegs hell ist, DAMIT ich nachher nicht vergessen kann, es auszuschalten. Neuere Autos fiepen aus gutem Grund, wenn man das Licht brennen läßt, die sind schon für das Monitor-orientierte Bewußtsein ausgelegt, ein Bewußtsein, das auf einer hellen rechteckigen Fläche alles optimal im Griff hat, dort unter Umständen zu hochkomplexen Leistungen aufläuft – aber wehe, mensch bewegt sich im realen 3-D-Raum!

Dort, im richtigen Leben, hatte ich heut‘ auch ein Erfolgserlebnis. Bei einem Besuch in der Shopping-Mall beschloß ich, gleich „aushäusig“ zu essen. Das mache ich immer dann, wenn ich von der Sauna komme, und zwar ohne das Über-Ich bei der Speisenwahl mitreden zu lassen, zu diesem einen Termin NICHT! Es guckt mir ja niemand zu, weder mein Lebensgefährte, noch mein Yogalehrer und auch keine unüberschaubare Lesergemeinde. Ganz allein in der Fressmeile folge ich meinen Gelüsten, kopfschüttelnd zwar, aber ich mach’s! Und wohin führt mich das regelmäßig? Zum mecklenburgischen Brachial-Essen, dieses Deutsch-wie-bei-Muttern-Angebot: Schweinebraten, Eisbein, Kassler, Rippchen und dergleichen Schrecknisse jeder entwickelten Eßkultur. Monatelang war meine Wahl immer wieder Kasslerbraten mit Sauerkraut und Salzkartoffeln, vielleicht eine frühkindliche Prägung? Ich verschlang es jedenfalls mit Genuß und einem Gefühl wie mit 14, wenn ich ohne Wissen meiner Eltern meinen Freund traf, anstatt in die Schule zu gehen.

Heute stand ich also wieder davor, durchaus hungrig – und hatte keine Lust mehr! Die ganze Wer-ist-schon-Siebeck-Palette hatte ihren Reiz verloren. Und nicht etwa, weil sie ökologisch unkorrekt, spirituell belastend, verbraucherpolitisch kontraproduktiv und ernährunsmäßig das Letzte ist, sondern EINFACH SO. Schwer begeistert ging ich zum Griechen und nahm einen kleinen (!) Döner-Teller mit Salat. Wow!

Ich denke daran, öfter mal einfach das zu vertiefen und auf die Spitze zu treiben, was von selber kommt, anstatt mich ständig in einer Spaltung zwischen Sein und Sollen aufzuhalten. Es ist MEIN Leben und im Grunde kräht doch kein Hahn danach, ob und wenn ja welchen Ansprüchen und Vorstellungen ich gerecht werde oder eben nicht. Würde sich durch „Wohlverhalten“ etwas ändern, stände es ja dafür, doch oft und oft ändert sich gar nichts, ich stecke einfach fest in diesem Zwiespalt: mal klappt das „richtige Leben“ und ich klopf mir auf die Schulter, beim nächsten Mal werde ich wieder schwach. Wie langweilig.

Hier auf dem Land hab‘ ich zum Beispiel festgestellt, daß meine Lust, einen Garten umzugraben, etwas zu pflanzen und ständig gegen die Schnecken zu kämpfen, schnell an Grenzen kommt. Es war eine VORSTELLUNG, Teil meines Traums vom Landleben. Fakt ist, daß mich das Umgraben zu sehr anstrengt, daß mir die Schnecken eigentlich schnuppe sind, und mehr als ein paar Salate wollte ich sowieso nie. Zusehen würde ich dagegen gern! Gelegentlich mal gucken, wie jemand mit seinem grünen Daumen einen bunten Garten zum Blühen und Fruchten bringt – na, und so sind die anderen Mieter hier auch drauf, also ist nicht viel mit Garten!

Und noch ein Beispiel: Um mal „unter Leute zu kommen“ besuchte ich neulich eine Polnisch-Probestunde in der Volkshochschule Schwerin – warum nicht die Sprache des Nachbarlandes lernen, dachte ich mir so. Die Lehrerin war wirklich gut, allerdings merkte ich, dass ich für diese Art Unterricht nicht bereit bin, nicht öfter als einmal. Denn, anders als man normalerweise Schule oder Fortbildung kennt, wo immer der dran kommt, der sich freiwillig meldet, wurden wir durch die Bank abgefragt, mußten laufend Sätze wiederholen, Redewendungen bilden, kurzum: ständig aufmerksam und aktiv sein, fast zwei Stunden lang. Klar, so lernt man am besten, aber ich hatte ja eigentlich keinen zwingenden Grund, mir das zuzumuten. Und wieder eine Selbsterkenntnis: Ich mag nicht augenblicklich ins Leben einsteigen, ich will es „on demand“, eine Zeit lang zugucken und mitmachen, wenn mir danach ist, und zwar genau solange, wie ich mag.

Jetzt werde ich einfach mal mein real-existierendes So-Sein nutzen und genießen, anstatt es ständig zu verurteilen und ändern zu wollen. Wenn ich verdammt nochmal gerne beobachte, unbeteiligt herumlaufe und die Welt eher als Bilderserie sehe, anstatt mich spirituell korrekt „im Augenblick zu verlieren“, dann ist das eben so. Ich nehm‘ einfach die Kamera mit und mach was draus!

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