Claudia am 20. Januar 2009 —

Obama startet – wieviele gehen mit?

Zwei Millionen vor dem Kapitol und Milliarden Menschen weltweit verfolgten soeben den Amtsantritt des Barack Obama – von vielen erwartet wie ein Messias, der die Welt in eine neue, bessere Zukunft führen soll.

Große Worte, Poesie und ungebrochenes Pathos muten uns seltsam an, verfehlen aber trotzdem nicht ihr Ziel. Selbst den jeweiligen TV-Kommentatoren ist ihre emotionale Beteiligung anzumerken und auch ich bin ganz gerührt! Obama zog alle Register, die sowieso schon bewegten Gemüter noch mehr anzurühren. Die Amerikaner sollten sich auf ihre Stärken besinnen und zusammen stehen, kleinliche Egoismen und veraltete Dogmen abschütteln und Amerika neu erfinden – wie es ja immer wieder geklappt habe.

Patriotismus im aufrechten Gang

Gleichzeitig stimmte er seine Landsleute auf „schwere Zeiten“ ein und sprach davon, dass alle hart arbeiten und Opfer bringen müssen – wie es auch ihre großen Vorfahren und Nationalhelden getan hätten, die er ausgiebig rühmte. Wieder einmal bewunderte ich den „Patriotismus im aufrechten Gang“, der soviel Emotionen aufzuwühlen vermag und offensichtlich wirklich HILFT, wenn es einer Bevölkerung grade nicht so gut geht: sich besinnen auf alte Tugenden, auf nicht wegzudiskutierende Errungenschaften, auf gemeinsame Werte über Trennendes hinweg – das gibt tatsächlich Kraft, nicht zu verzagen, sondern hoffnungsvoll nach vorne zu schauen.

Mir ist im Laufe dieser Fernsehübertragung klar geworden, WARUM es in den USA diesen „positiven Patriotismus“ geben kann – und nur dort. Denn selbst wenn man mal die Schande der 12 Jahre „tausendjähriges Reich“ aus unserer Geschichte wegdenkt, wäre es ja dennoch nicht möglich, in gleicher Manier Patriotismus rund ums Deutsch sein zu betreiben: NICHT in Gesellschaften mit derartigen Integrationsproblemen mit Immigranten, NICHT in einem Deutschland, in dem das „Deutsch-Sein“ sich noch immer mehr auf Blut und Boden, Sprache und Abstammung bezieht als auf eine gemeinsame Verfassungsgeschichte, einen Kampf um Menschenrechte und Demokratie, um Freiheit und das Recht, sein Glück zu suchen.

Dass die Vereinigten Staaten schon immer nichts als „Einwandererland“ und dem entsprechend eine „Multikulti-Gesellschaft“ waren, macht den Stolz, Amerikaner zu sein, erst möglich. Weil dieses große WIR eben potenziell ALLE umfasst, egal, woher sie kommen, welche Hautfarbe sie haben, welcher Religion sie angehören und welche Muttersprache sie sprechen. Dagegen klingt „wir Deutsche“ einfach immer noch verdammt ausgrenzend – ist also alles andere als „Pathos-fähig“!

Verantwortung – eine amerikanische Tugend?

Schön für die Welt, wenn ein wenig von Obamas Plänen wahr würde! Ich denke, einzig MIT dieser anrührenden Emotionalität hat er überhaupt eine Chance, denn es müssen ihm ja viele folgen (auch umdenken und zurück stecken), wenn er sich nicht gleich in ‚zig Kampfschauplätzen verschleißen soll. Gut, dass er als wichtigen Teil seiner Rede den Amerikanern eine Tugend abverlangt hat, die in den letzten Jahren wenig gepflegt wurde: VERANTWORTUNG – und nicht etwa nur für den Nächsten, den Schwächeren und Ärmeren, sondern sogar für die Welt da draußen. Für viele seiner Zuhörer sicher eine Forderung, die sie bis jetzt nicht als „kern-amerikanisch“ gekannt haben – hoffentlich klappt es, sie in den „Kanon“ aufzunehmen, bzw. wieder aufzunehmen.

Am Ende, als der frisch gebackene Präsident dann seine Ernennungsurkunde unterzeichnete, gab’s ein weiteres Aha-Erlebnis für die zuschauende Welt: Er ist nicht nur SCHWARZ, er ist auch LINKSHÄNDER!!!

Ich wünsche mir, dass man in ein paar Jahren sagen kann: Das hat er mit links geschafft! :-)

***
Deutscher Wortlaut der Antrittsrede

Und die White-House-Website ist schon erneuert. (via SPREEBLICK)

Update / mehr Reaktionen:
Visionär Obama; Das Ganze in LEGO; Obama setzt auf radikale Transparenz (PR-Blogger); Obama verspricht ein neues Amerika (ZEIT);

Diskussion

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23 Kommentare zu „Obama startet – wieviele gehen mit?“.

  1. Ich finde es schade und bei nähererem Hinschauen auch nicht nachvollziehbar, wieso Du das Deutsch-Sein im Kontrast zur US-Kultur so negativ darstellst. Wir haben hier eindeutig eine viel tiefere, reichere, auch viel mehr Seiten des Menschseins umfassende und im Verständnis durchdringendere Kultur (nur als kleine Beispiele: Barock, Klassik, klassische Musik, Architekten, Erfinder — nun suche mal Vergleichbares bei Hollywood und Disney).
    Gerade solche Sichtweisen wie die deinige sind aber gerade das Problem der Deutschen – eigentlich bist Du dafür sprechender Beweis. Sie machen sich selbst schlecht, können ihre Werte nicht sehen und nicht positiv und stolz zu ihnen stehen. Sie haben nicht die Stärke, auf das Gute und Wertvolle in und an sich selbst zu schauen, sondern schauen immer auf andere.
    Das hat gar nichts mit Amerika zu tun, sondern immer in erster Linie mit einem selbst.

  2. @anonymous: Sag, warum SCHEUST du dich, mit einer solchen Stellungnahme deinen Namen zu verbinden??

    Ja, die von dir genannten Kulturgüter sind rühmenswert – aber du umgehst den KERN meiner These, warum es UNS dennoch nicht gegeben ist, ungebrochen stolz zu sein: weil nämlich das deutsche „wir“ die Zugewanderten ausgrenzt. Ich denke mal an eine volle Berliner U-Bahn, in der ein wildes Sprachengewirr herrscht – wenn da einer „wir Deutsche“ sagen oder denken würde, meint das allermeist eine ganze Menge der Fahrgäste NICHT MIT (ganz unbesehen, was für einen Pass sie haben mögen).

    ANDERS in Amerika, die ALLE Zugezogene sind…

    Ich persönlich lebe gerne in diesem meinem Deutschland, schätze große Leistungen der Vergangenheit und mag sogar diverse „deutsche Tugenden“. die das Leben sehr viel leichter machen.  Große Gemütsbewegungen sind damit aber nicht verbunden, im besten Fall eine stille Zufriedenheit, meist eher ein Sehnen nach MEHR (mehr vom Guten & Förderlichen jeglicher Art…) bzw. entsprechende Kritik, dass doch vieles hier im Argen liegt.

    Und beim Pathos anderswo spüre ich eben diese Ambivalenz, die LAST, eine Deutsche zu sein… und BESCHREIBE sie.

  3. Claudia, ich glaube, daß du einen Unterschied heraus gearbeitet hast, der es Wert ist, beim Namen genannt zu werden:

    die US-Amerikaner sind immer ein Volk durch Verfahren, durch aufgeschriebene Regeln und konstituierende Anweisungen gewesen.
     
    Sie sind keine sich das ‚Wir‘ zuraunende Gemeinschaft, wo immer heilig, weil unklar bleibt, woraus sie denn nun eigentlich bestehe. Was das jeweils opportune Ausgrenzen so nett erleichtert, und was das jeweils adelnde Dazugehören so großartig erhöht!
     
    Natürlich gibt es solche Tendenzen auch unter den Leuten dort (Ku-Klux-Klan etwa, viele Sekten, die WASPS usw.), aber das wird es in jeder Gesellschaft immer geben. Der Kern aber des ‚US-Amerikanischen‘ ist das mit Absicht Aufgeschriebene, das gezielt Gewollte und Eingesetzte der Declaration, der Constitution und der Amendments.  Was eben dem Obama’schen ‚yes we can‘ unterliegt, wenn es als ‚everything is possible‘ gelesen wird.
     
    Bürger der USA ist niemand durch ein geheimnisvolles, vielfach bluttriefendes Geschehen irgendwo jenseits einfachen Verstehens, womöglich nur wenigen Eingeweihten bekannt, sondern du wirst es durch klare Regeln. Und das sind Regeln, die ein Schulkind aufschreiben und hersagen kann. Wir aber brauchen scheinbar Tausend Jahre Kultur, die eh kein Menschen komplett in sich aufsaugen kann, um Deutsche zu sein. Vielleicht, weil wir – als Deutsche – dann etwas Besseres wären, und eben das auch sein wollten? Weil Blut dicker als Tinte, Gemeinschaft wertvoler als Gesellschaft, Kultur echter als Zivilisation sind?
     
    Wie immer auch Herr Obama gesehen wird – daß er als Schwarzer zum Präsidenten gewählt wurde, ist ein Erfolg für alle US-Amerikaner, die ihre Verfassung ernst nehmen. Und darauf können Sie in der Tat stolz sein und es feiern, ob ihre Art zu feiern uns nun liegt oder nicht.
     

  4. @Su: schön, deine Vertiefung dieses Unterschieds – danke dafür!

    Ich könnte nicht mal sagen, dass mir die Art des Feierns nicht liegt – zumindest am TV berührt es mich ja eher positiv. Nur eine Übertragung auf hiesige Verhältnisse kann ich mir nicht vorstellen – und aus unserer Geschichte heraus ist das sogar gut so.

    Die Kommentatoren im PHÖNIX stellten auch noch die Andersartikeit von Parteien und Politikern in den USA heraus:  wer in die Politik will, geht unternehmerisch vor, sammelt Geld, macht Kampagnen und wird dann igendwo gewählt – ganz ‚was Anderes als die „Ochsentour“ durch unsere Parteien. Es gehe in Amerika immer um Personen, nicht um Programme – auch das ein Grund, der es emotionaler zugehen lässt.

  5. […] Erster Erfolg für den Messias (gegenstimme.net) Obama startet – wieviele gehen mit? (claudia-klinger.de) Obama wieder im Web 2.0 (sichelputzer.de) Die Vereidigung von Barack Obama und der vernetzte […]

  6. @anonymous „Barock, Klassik, klassische Musik, Architekten, Erfinder — nun suche mal Vergleichbares bei Hollywood und Disney“
    Das hat zwar nichts mit dem Thema zu tun, aber wenn der Kommentar von Claudia akzeptiert wird, dann will ich das so nicht stehen lassen.
    Hollywood und Disney gibt es auch in den USA, nicht nur. Außerdem haben die meisten Amerikaner die gleichen Wurzeln wie die Europäer. Mozart und Botticelli gehören zur gemeinsamen Geschichte. Genauso wie Einstein oder Wernher von Braun, die gehen oder gegangen werden, weil auf dem dürren mitteleuropäischen Boden keine Kreativität blühen kann, oder nicht großzügig mit Geld unterstützt wird. (Vgl. Startups in DE und in USA)
    Die weltbesten Sänger findest du nicht an der Frankfurter Oper, noch nicht mal in Mailand, sondern in festen Engagements an der Met in New York. Das weltberühmte Chicagoer Symphonie-Orchester ist vergleichbar mit den Londoner oder Wiener Philharmonikern, aber jede US-Großstadt hat so was. Es gibt die große Independant Film Industry, unabhängig vom Einfluss der Hollywood-Studios. Von der Ausstattung der Bibliotheken und Museen will ich gar nicht anfangen, das kann man sich in DE nicht vorstellen; muss man gesehen haben.
    Hast du davon was gesehen, anonymous, oder guckst du nur Hollywoodfilme?
    Und wenn du es historisch betrachten willst, dann sind die weißen Amerikaner die Brüder und Schwestern unserer Großeltern, die vor 50, 100 oder 200 Jahren ausgewandert sind. Alles Cousins und Cousinen!

  7. Danke Hannelore, diese Ergänzung war echt dringend nötig!  Selber bin ich gar nicht auf die Vergleichsebene eingegangen, weil ich mich nicht von meinem Kernpunkt ablenken lassen wollte – aber unwohl fühlte ich mich mit dem Tenor des Kommentars auch! Schließlich sind Amerikaner keine Aliens, sondern im Gegenteil „die, die weiter gegangen sind“ – von der gemeinsamen Europäischen Geschichte aus gesehen, die bei den Griechen beginnt. Nämlich weiter nach Westen, weiter ins Unbekannte, immer nach der letzten Grenze suchend… und nach Erschöpfung physischer Grenzen dann eben in eine neue Dimension, ins Virtuelle statt Physische expandierend.
    Ein Teil meines Herzens war immer schon amerikanisch… :-)

  8. „Ich wünsche mir, dass man in ein paar Jahren sagen kann: Das hat er mit links geschafft! :-)“

    Das wird man gewiss sagen können.
    Hat er nicht für seine Wahlkampagne schon viele Spenden über das Internet – also mit Links – eingetrieben? ;-)

    Kalauwarmer Gruß
    Ralf

  9. @Ralf: auch das ist etwas, was mich begeistert hat! Nicht nur, dass Obama übers Netz Geld sammelte, sondern vor allem, dass er solche Mengen zusammen bekam,  dass er richtig klotzen konnte . Die kleinen und größeren Beiträge unzähliger Normalbürger ließen den Wahlkampfetat der Rupublikaner – traditionell von Großsspendern und Lobbys bestritten – ARM aussehen!!

    So muss es sein – nun ist er finanziell gesehen dem Volk verpflichtet, nicht einzelnen stinkreichen Machtkonglomeraten.

  10. Ich finde dieses nationale Denken einfach nur peinlich und infantil. Die Kreativität die auf dem dürren europäischen Boden nicht wachsen kann aber in den USA aus allen Poren trieft.
    Klar…
    Es sind immer einzelne Menschen, die Grenzen überwinden, und die sind überall zu finden. Die sind Erdenbürger. Wer eine Identifikation mit seinem Land braucht hat noch nicht einmal begonnen erwachsen zu werden.

  11. @John – danke für die Belehrung! Vielleicht schaff ich es ja noch bis 60, erwachsen zu werden… :-)
    Bleib mal bisschen länger ganz weit weg, z.B. in Asien – dann merkst du, dass du Deutscher bist. Oder leb‘ in den USA, denn spürst du den Europäer in dir. Irgendwann wirst du auch erkennen, dass sich das je eigene Sein und Empfinden nicht immer danach richtet, was du grade als „infantil“ abtun möchtest. Und dass wir eben NICHT gleiche Erdenbürger sind, sondern jeder seine Wurzeln in einem bestimmten Kulturkreis mit eigener Geschichte am Bein hat – ob man davon begeistert oder entsetzt ist, tut nichts zur Sache.

  12. @ Claudia:
    Es kommt nicht darauf an, woher wir kommen, sondern wohin wir gehen.
    Natürlich zeigt jegliche Änderung einen Kontrast zum Zustand vor dieser Änderung auf und natürlich prägt eine Kultur auch mit, vor allem über die Erziehung. Es geht da von Dingen wie Verständnis von Pünktlichkeit angefangen bis hin zu unterschiedlichen Mathematikfähigkeiten aufgrund unterschiedlicher Sprachen.
     
    Man bekommt vieles mit, wird durch vieles geprägt. Aber „erwachsen werden“ bedeutet vor allem sich davon zu emanzipieren, von diesem Identifikationsobjekt „Kultur“, „Nation“ usw. Jetzt sind wir plötzlich wieder alle Amerikaner, wo wir gerade 8 Jahren Mainstream-Antiamerikanismus hinter uns hatten.  In Amerika sind jetzt viele wieder „stolz“. Sicher kann man sich freuen, klar, wann, wenn nicht jetzt, aber stolz? Stolz auf die Leistungen der „founding fathers“, auf das eigene Land? Was bringt das Gutes?
     
    Ich habe einmal gelesen, dass die USA das unbedingt brauchen, diesen Nationalstolz, weil sie sonst nichts haben, dass sie zusammenhält. Weil es eben der berühmte melting pot ist, weil sonst alles zerfallen würde, ohne diesen Konzentrationspunkt. Aber dieser Zusammenhalt führt auch immer zur Abgrenzung nach außen, zum Suchen von als minderwertig betrachteten Feinden. Das sind ganz banale Gruppenprozesse.
     
    Worum es mir nur ging war: Bleib bei Dir selbst, bei Dir selbst ist die Quelle der Kreativität, des Stolzes und aller anderen Dinge. „Kultur“ und „Nation“ sind nichts anderes als Grenzen im Kopf. Wirkliche Freiheit bedeutet sich auch davon frei zu machen.
     

  13. Hi John: bist du Lehrer, Politiker oder Therapeut und kannst auch in einem lockeren Kommentargespräch nicht von deiner Passion lassen?
    Wir sprechen hier ganz entspannt von dem, was ist – ohne uns ständig gegenseitig an den Kopf zu werfen, wie das „richtigere“ Leben zu leben sei und was sein sollte. Ich empfinde deine Art als übergriffig: bleib bitte selber bei dir und sprich VON DIR!
    Ich selbst bin Mensch und Weltbürgerin, Europäerin, Deutsche, ein bisschen Schwäbin, Hessin und Berlinerin – und hier bin ich Friedrichshainerin, zudem Ex-Kreuzbergerin. Es ENTFERNT vom Selbst, einen Teil dieser Wurzeln und Erfahrungshintergründe zu leugnen oder gar abschaffen zu wollen.
    Heute weiß ich, was Goethe, mit dem ich nie was am Hut hatte, meinte mit dem Spruch: Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen!

  14. @John: Die eigenen kulturellen Wurzeln sind ein besonders schützenswertes Gut, sie machen das Leben spannend und wirken der den negativen Seiten der Globalisierung entgegen. Das muss nichts mit Stolz zu tun haben, aber mit Akzeptanz. Wenn alle Bewohner dieser Welt gleich wären, wäre die Welt um vieles ärmer. Deswegen hat die UNESCO im Jahr 2005 eine Konvention zum Schutz und zur Förderung kultureller Vielfalt beschlossen. Und im EU-Vertrag steht: „Die Bewahrung und die Förderung der kulturellen Vielfalt zählen zu den Grundwerten der Europäischen Gemeinschaft.“
    Bewahren und Fördern ist das Gegenteil von „sich davon emanzipieren“. Um das auch klar zu stellen: sich mit der eigenen Kultur zu identifizieren bedeutet beileibe nicht, andere Kulturen zu bekämpfen.

  15. @Claudia:
    Ein bisschen widersprüchlich finde ich deine Zurückweisung von Johns Beitrag schon. Wenn du nur persönliche Betroffenheit als Posting zulassen willst, warum sprichst du dann selbst über „die Deutschen“ und „die Amerikaner“? Du gibst deine Meinung über das Thema kund, und das hat John auch gemacht. Ich kenne ihn zwar nicht, höre aber eine engagierte Sorge aus seinen Worten heraus, dass nämlich die gefühlsmäßige Identifikation mit abstrakten Werten sehr oberflächlich ist und auch wieder schnell umkippen kann, und dass das mehr mit Psychologie als mit politischer Bewusstsheit zu tun hat. Und diese Betroffenheit teile ich! Mir wird es mulmig bei dieser Art von blinder Begeisterung. Von der Euphorie in die Hysterie und zurück. Mit der Lebens-Kunst, auch mal was feiern zu können, hat das nichts zu tun. Wer hat denn eigentlich vor wenigen Jahren begeistert Bush gewählt, von dem sich jetzt so erstaunlich viele distanzieren? Und wenn er den Irak-Krieg ruck-zuck gewonnen hätte und die Finanzkrise noch ein bisschen gewartet hätte? Mich macht dieser reine Erfolgs-Opportunismus betroffen, denn gemeint ist letztlich immer nur der Erfolg der Nation, nicht der Menschen. Und da machen Deutsche und Amerikaner keinen großen Unterschied: wenn der nationale Erfolg ausbleibt – und der wird nicht an humanitärem Fortschritt gemessen! – dann lässt man seinen Favoriten halt wieder fallen und bejubelt den nächsten. Hauptsache, man hat immer einen Helden und braucht sich nicht selbst zu engagieren.

  16. Hi Matthias: mich hat lediglich der persuasive und belehrende Ton am Ende gestört („Bleib bei dir selbst…“). Und nach dem er bereits im vorigen Posting alle, die sich mit ihrem Land identifizieren, als Menschen herunter machte, die noch nicht einmal angefangen hätten, erwachsen zu werden, empfinde ich meine Reaktion als ziemlich freundlich!

    Natürlich spreche ich über Deutsche und Amerikaner (und über die Ambivalenz bei für Amerikaner normalen Formulierungen wie „wir Deutsche“). Und ich bin mir sehr bewusst, dass es beim Sprechen über Nationalitäten ohne Klischees nicht geht: wir sprechen über unsere BILDER und Vorstellungen im Kopf und nicht über all die vielen konkreten Menschen, von denen immer sehr viele unter die Klischees nicht passen. Dennoch haben diese Klischees eine Wahrheit – eine Wahrheit, die man z.B. in Bezug aufs „typisch Deutsche“ erst richtig spürt, wenn man längere Zeit anderswo lebt. Und dass die allermeisten Amerikaner eine andere Haltung zum Staat, zur Arbeit („hard working“) und vielem mehr haben, ist für mich ebenfalls sonnenklar.

    Man kann sich über diese Unterschiede mit Gewinn austauschen: tut man das in gegenseitigem Respekt (=erzählend, nicht Brandreden übers richtige Leben haltend), kann man voneinander lernen und erweitert den eigenen Horizont.

    All diese Unterschiede und deren bloße Erwähnung mit dem Hinweis „wir sind alles Weltbürger“ abzutun und die eigene Kultur, das Herkommen, als unerwachsenen Kinderkram zu bezeichnen – nö, diese Art Diskussion finde ich nicht förderlich!

    Was das Engagement des Einzelnen angeht, nimmt Obama seine Mitbürger jetzt offensichtlich sehr in die Pflicht. Und was Bush angeht, so ist der ursprünglich auch als „Versöhner“, als Konservativer mit Verantwortung angetreten – erst nach 9/11 hat er begonnen, die Nation extrem zu spalten und nur noch seine „Basis“ (die Stinkreichen) zu bedienen. Kein Wunder, dass sich der Wind gedreht hat!

     

  17. @Axel: danke!

  18. @ Axel:
    Wer sind die Träger der Kultur? Natürlich, es gibt viele „kulturelle“ Hervorbringungen, die schützenswert sind. Man denke an die reichhaltige japanische Kultur, indigene Völker, die Kulturen in Europa usw.
    Aber wie schützt man das? Wie hält man das lebendig? Und von wem wird es lebendig gehalten? Heute ist es doch so: Entweder ein Mensch hat eher viel Bildung (ich meine das in einem sehr umfassenden, guten Sinn) oder eher wenig. Jemand der Bildung besitzt wählt aus dieser kulturellen Vielfalt, was zu ihm passt. Er betreibt vielleicht Aikido, hört Mozart und Jazz, kleidet sich wie ein britischer Gentleman, trinkt Schokolade wie einst die Azteken, bläst zur Entspannung in ein Didgeridoo usw. In solchen Menschen lebt die Kultur weiter, dort atmet sie, und das war schon immer so. Ich will das volle Potential, ich will nicht nur Europäer/Deutscher sein, ich will mich nicht von den ganzen anderen tollen Dingen abgrenzen, weg mit diesen Barrieren!
    Soll ich mir Lederhosen und ein „Jopperl“ anziehen nur weil ich aus dem Alpenraum komme? Ist es meine Aufgabe die Bräuche der Kelten zu erhalten? Das soll ruhig ein Japaner/Australier/Südafrikaner machen, den das interessiert! Ich nehme das nicht für mich in Anspruch, es nicht meines, es gehört mir nicht. Es geht gar nicht um verschiedene Kulturen. Wo ist denn heute noch der wesentliche Unterschied zwischen einem Jugendlichen in Deutschland/Europa, den USA, Südamerika, Australien, Russland usw. in kultureller Hinsicht?
     
    @ Claudia:
    Hier gleich anschließend: Sicher, wenn ich jetzt nach Asien fahre, bin ich vor allem der „Ausländer“, das ist mein hervorstechenstes Merkmal, gerade wegen dieser Grenzen im Kopf. Früher wäre das noch viel schlimmer gewesen. Ein Preuße hätte da im Bayern nur den Bayern gesehen, von Franzosen ganz zu schweigen. Wenn man halbwegs gut Englisch kann und in die USA fährt kann man sich sicher als einer von ihnen ausgeben.
    Es ist dann eben immer ganz konkret: Sehe ich den Menschen vor mir, oder seine Nation, „Rasse“, „Kultur“?…

  19. @john: Natürlich ist es wichtig den Menschen zu sehen und mit Stolz auf die Nation habe ich auch meine Probleme. Kultur und Herkunft ist aber tiefer gehender, ein Mitteleuropäer der Didgeridoo bläst oder Aikido macht wirkt wahrscheinlich genauso authentisch wie ein bosnischer oder italienischer Spieler des FC Bayern in Lederhosen. Natürlich spreche ich in Nordamerika oder England Englisch, in Frankreich Französisch, in Spanien versuche ich mich an Spanisch, in Italien an Italienisch oder in der Türkei an Türkisch. Aber nicht, weil ich mich als Weltbürger zeigen oder meine deutsche Herkunft verstecken will, sondern aus Höflichkeit gegenüber den Einheimischen.
    Ich finde es immer sehr spanned, wenn ich in Kanada bin und die Leute nach ihrer Herkunft frage. Da gibt es Iren, Deutsche, Ukrainer, Chinesen oder Tschechen. Kanadier trifft man eher selten. Und doch eint sie der kanadische Pass und letztlich fühlen sie sich als Kanadier. Aber da ist noch ein Rest Herkunft und Kultur, der ein integraler Bestandteil der Person ist. das kann sich in Charaktereigenschaften ausdrücken, an Weihnachts- oder Osterbräuchen oder an dem, was die Leute essen oder trinken. Und sie versuchen es zu pflegen. Warum auch nicht?

  20. @ Axel:
    Ich möchte bei dem was Du schreibst auf einen Punkt eingehen, weil ich den sehr interessant finde. Du schreibst, dass ein Mitteleuropäer der z.B. Aikido macht, nicht sonderlich authentisch wirkt.
    Und ich weiß genau was Du meinst! Wenn man sich einen Indianer in Lederhosen vorstellt, scheint das lächerlich zu sein, es passt nicht, aber warum passt es nicht? Weil wir es nicht gewöhnt sind, weil wir ein fixes Bild davon in unserem Kopf haben.
    Genau das sind ja Vor-Urteile, genau das ist ein noch harmloser Ursprung einer schädlichen Identifikation. Denn worauf kommt es an, z.B. bei japanischen Kampfkünsten? Was ist der Kern? Oder was ist der Kern beim Didgeridoospielen? Bedeutet Authentizität hier, dass jemand einer bestimmten Rasse angehört oder dass er den Budo-Regeln folgt und wirklich versucht seinen Charakter zu vervollkommnen, wie es z.B. im Karate heißt?
    Genau das meine ich auch mit „infantil“, sich an so etwas aufzuhängen, nicht das Wesentliche zu sehen. Einen Mitteleuropäer, der sich bewusst für so etwas entscheidet und sein Herzblut da reinsteckt halte ich für authentischer wie z.B. ein japanisches Kind, das nur deswegen Karate macht, weil es seine Eltern wollen (gilt natürlich auch umgekehrt z.B. für die Kinder in Europa, die zum Flötenspielen „gezwungen“ werden).
     
    Ich finde es eben schade, dass wir in einer Welt leben, in der es lächerlich und unangebracht wirkt, wenn z.B. ein Mitteleuropäer traditionelle chinesische Kleidung tragen würde, weil er sie für schön und angenehm hält – so etwas „darf“ man nur auf einem Kostümfest.
    Der „Gefahr“ einer völligen Homogenisierung jeglicher Kultur, (also quasi McDonalds, Starbucks, Hollywood und Pop überall) kann meiner Meinung nach nicht durch eine irgendwie geartete „Rückbesinnung“ auf hiesige Werte und Traditionen ausgewichen werden, sondern nur dadurch, indem jeder Mensch seiner eigenen Einzigartigkeit vollen Ausdruck verleiht. Vielleicht muss man dafür Ostern, Weihnachten und die Lederhose opfern, aber es ist meiner Meinung nach der einzig gangbare Weg, weil er als einziger lebendig ist.
    Denn es geht ja auch darum: Wie entsteht neue Kultur, und zwar eine, die es auch wert ist, so genannt zu werden? Sie entsteht nicht durch die Millionen, die Jahr für Jahr gelangweilt Ostereier suchen sondern durch jene, die ihre ganze menschliche Kraft einsetzen und auch alles was sie zur Verfügung haben um damit weiter zu gehen, die Synthesen schaffen und aus dem gemeinsamen Erbe der Menschheit an jener Stelle graben und dort ihre Samen legen, wo ihre ganz persönliche Frucht am besten erblühen kann.

  21. @John: WEIHNACHTEN muss man nicht „opfern“, im Gegenteil: es ist DAS WELTFEST geworden und wird in vielen Ländern und Weltgegenden gefeiert, die mit Christentum und der ursprünglichen Bedeutung nichts am Hut haben.

    „Rückbesinnung“ ist definitiv nicht das, was ich in meinen Beiträgen hier meine. Wenn man sich erst „rückbesinnen“ muss, dann ist das, worauf man sich besinnt, ja schon verschwunden. Derlei Bemühen aus dem Kopf ist reines Rückzugsgefecht, für das ich keine Gründe sehe.

    Du scheinst der Meinung zu sein, es gäbe eine Individualität, die frei ist von erlebter Tradition, Kultur, Herkommen – das sehe ich nicht so. Zwar kann man sich (was ja insbesondere junge Menschen gerne und immer wieder tun) GEGEN das „Herkömmliche“ stellen, ist damit aber lange noch nicht frei davon. Wäre man das, wär es nämlich nicht mal der Rede wert.

    YOGA ist übrigens genau wie Weihnachten, mittlerweile Weltkultur. Es ist indischen Ursprungs und hat  viele Ausprägungen, die anderswo entstanden sind. Unauthentisch wirkt für mich nur jemand, der spezifisch indisch-hinduistischen Yoga macht, ohne Hindu zu sein. Und seltsam auch ein Stadtmensch, der im Schamanen-Workshop Naturgeister anruft, mit denen er in seinem realen Leben definitiv gar nichts zu tun hat.

    Negiert man die intuitiven Voraussetzungen solcher Urteile, die du als bloße „Vor-Urteile“ bezeichnest, was bleibt denn bitte dann? Absolute postmoderne Beliebigkeit und der Verlust jeglicher Interpretationsmöglichkeiten in Bezug auf andere Menschen. Das aber wird nicht eintreten, davon bin ich überzeugt. Zu groß ist das menschliche Bedürfnis, durch den eigenen Stil Zugehörigkeiten zu signalisieren – es zieht sich durch die Jahrhunderte und findet immer neue Ausprägungen. 
     
    (Ach ja: der Gegensatz Bayern/Preußen ist nicht etwa aus der Welt, sondern lebt weiter in den Antipoden München/Berlin – nicht mehr feindselig, sondern allermeist humorig ausgetragen)

  22. <p>Danke für diesen Beitrag. Und ebenso für die vielen interessanten Kommentare. An all den persönlichen Wahrheiten ist was dran und die Summe macht uns aus, die Vielfalt. Soweit so gut, da hätte ich jetzt aber nicht extra was kommentieren brauchen?
    Ich hätte da aber was, als Beobachterin von außen. (Bin Östereicherin.)
    Hm, wie soll ich das ausdrücken, ohne es überzubewerten? (Dazu weiter unten)
    Viele Deutsche sind in etwas drin und merken es nicht, so etwa, wie man sich seinem Idiom nicht wirklich bewusst ist. Das ist die Gründlichkeit in allem und jedem. Sie benötigt und bewirkt eine gewisse Härte. Die höre ich in allen deutschen Diskussionen heraus. Aber nur ein bisschen, bitte regt euch jetzt nicht etwa gründlich über meine Worte auf. :o)
    Wir Österreicher haben uns nie wegen unserer Geschichte selbst zerfleischt. Wir haben schon aufgearbeitet, aber mit viel weniger Gewissensbissen. Ob das gut oder schlecht ist, sei dahingestellt, für die Gesellschaft war das aber fruchtbringender. Denn wir gingen alles entspannter an. Und wir gingen es nicht weniger an, als ihr. „Wir“ lassen dementsprechend unseren Dämon manchmal auch unzensierter heraus. Und da ist er dann, andere schreien auf, es wird palavert und gut ist´s.
    Österreich ist wurschtiger und schafft trotzdem gleich viel. Vielleicht weil diese gewisse Gemütlichkeit weniger inneren Stress verursacht.
    Nun habe ich Sorge, dass ihr meinen Beitrag deutschgründlich überbewertet. Dies was ich schrieb ist alles nur „ein bissl“ Mehr nicht.
    „Ein bissl“ ändert es aber auch.  Ob jetzt jemand authentisch wirkt oder nicht, ach Gottchen. Ist doch wurscht.
    ABER! Jeder Stil hat sein Gutes! Eurer hat unserem gegenüber viele gründliche ;-) Vorteile…. falls man selbstbewusst ist. Dann kann mas anpacken. Ich denke, nur dann. Wenn jetzt nun in Deutschland das kollektive Selbstbewusstsein etwas angeknackst ist, dann leider auch wieder gründlich. Ah jo, des schoff ma schon. (Obama auf österreichisch.)
    Ich denke, statt Hunderprozentigkeit in den Diskussionsmeinungen ausdrücken zu wollen, täten auch mal achzig Prozent Bestimmtheit ganz gut. Denn wie gesagt, es gibt viele Wahrheiten, es kommt nur auf den Blickwinkel an.
    Wobei ich mir all der Dinge die ich grad geschrieben habe nur zu achzig Prozent sicher bin. ;-)
    Liebe Grüße!
    Tirilli</p>

  23. Es ist vielleicht ein Unterschied, wie Deutsche geseh`n werden und wie sie wirklich sind oder sein können. Die Menschen hier leben einem langen gewachsenen Gefüge,  wozu auch Beamten- und Hierachiestrukturen gehören. Auch Kriege, an denen das ganze Volk beteiltigt wird, im Gegensatz zur USA, zwingen den Gehorsam ab und das Bürgertum hat sein Erbe hinterlassen.
    Doch habe ich auch selbst erlebt, als ich zur Goldgräberzeit, also nicht die in den USA sondern die der deutschen Einheit, es für viele ein unvergeßliches Lebenszeitraum war, alles machbar erschien. Da wurde gearbeitet und gefeiert, es waren ja blühende Landschaften vorausgesagt worden. Das Leben hat hier in Leipzig bis zum Anschlag pulsiert.
    Als dann langsam vorgegebene Westordnung durch das Entsendegesetz eintratt, und liebenswürdige Hilfe den Wind aus den Segeln nahm, da wurde es wieder Deutsch.
    Ich denke, dass es grundsätzlich auch auf dem alten europäischen Kontinent möglich wäre, Menschen für Neues zu begeistern.