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Das Neueste steht zu oberst. Ein RELOAD bringt Dir die aktuelle Version. Außenlinks öffnen ein zweites Browserfenster - manchmal, manchmal auch nicht.
 
 

10:12:99 multiple Ichs

Seit es das Netz gibt, spricht man viel von den verschiedenen "virtuellen Existenzen", den Pseudos und Masken, dem Spiel mit dem Zweit-Ich und Dritt-Ich. Für mich ist es eine Illusion, zu glauben, man könne da ganz bewußt "spielen", immer schon sind wir "viele" und die große Anstrengung ist, eine integrierte Persönlichkeit aus alledem zu formen. Die naive Herangehensweise, alles, was gestern und vorgestern und vor einem Jahr oder Jahrzehnt erlebt, gesagt und getan wurde, als eine Geschichte des "Fortschritts" darzustellen, hab' ich schon lange aufgegeben - mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Wär' ja schön, wenn das Leben so überschaubar und vernünftig wäre!
 
Ist es aber nicht, vor allem: ICH bin es nicht. Meine Versuche, Gefühle und Stimmungen auf bestimmte Ursachen zurückzuführen, sind ja nichts weiter als Vermutungen des Verstandes - und morgen, mit ein wenig mehr Erfahrung, könnte ich schon wieder umdenken müssen! Hier in diesem Diary zeige ich eine recht klare, vernünftige, dem Auf und Ab des Lebens heiter-distanziert gegenüber stehende Claudia. Natürlich ist das nicht ALLES, nicht alle seltsamen Figuren, aus denen ich mich zusammensetze, schreiben hier mit, außer manchmal, zwischen den Zeilen.
 
Das ist mir völlig bewußt, ich will es nicht anders, denn das Schreiben IST für mich der Versuch, eben diese heiter-gelassene Distanz immer neu zu GEWINNEN. Wollte ich hier klagen und jammern, schimpfen und lästern, meine Selbstzweifel und Leiden (an mir und der Welt) ausbreiten, wär' es ein anderes Diary. Es wäre reiner AUSDRUCK, nicht der Versuch, die Eindrücke zu verwinden, die von außen und innen täglich kommen.
 
Freunde wissen all das sowieso, denn sie sind gelegentlich auch den anderen, weniger gelassenen Aspekten meiner selbst ausgesetzt. Es ist mir ein Bedürfnis, das auch mal hier zu schreiben, damit niemand denkt, so ein Webdiary sei ein Abbild des Ganzen. Nicht umsonst gehören Tagebücher - auch die Netz-Diarys - zum Reich der Literatur. Und Literatur ist der Versuch, sich von dem zu distanzieren, was der Fall ist!
 
 

08:12:99 Im grünen Bereich

Ein Freund und Kollege sagt manchmal, wenn wir einen Auftrag besprechen, es sei "alles im grünen Bereich". Also kein Stress, keine Probleme mit dem Kunden, keine schwierigen Fragen, eben alles paletti.

So geht es mir, bezogen auf das Leben insgesamt, nun schon länger: alles im grünen Bereich - und ich langweile mich zu Tode! Man merkt es daran, daß ich hier oft über das Wetter schreibe und mir nicht viel einfällt, was ich zur Welt sagen könnte. Es erscheint mir alles so ausgelutscht und abgehalftert, so allzu bekannt und immer wieder dasselbe, eine automatenhafte Welt mit automatenhaften Menschen.
 
Nicht, daß ich etwa irgendwie "geläutert" wäre oder über den Dingen stünde, keineswegs! Ich bin mir selber ungemein langweilig in den immer wiederkehrenden Impulsen und mag ihnen nicht mehr folgen. Sogar das verläßlichste Moment am Mensch-Sein, das Streben nach Anerkennung und "bemerkt-werden", ringt mir ein Gähnen ab, denn ich weiß, wie simpel das funktioniert. Man braucht ja bloss ein bißchen Leistung bringen, ein wenig Unterhaltung und Originalität bieten und schon rieselt die Anerkennung von der Decke.
 
Es ist, als hätte ich in einem Spiel alle Möglichkeiten mehrfach durchprobiert, dabei viel gelernt, sogar gelernt, zu gewinnen und - etwas schwieriger - zu verlieren. Und jetzt? Während des Spiels sieht es jeweils so aus, als wäre das Gewinnen etwas Wunderbares, als würden sich dann die Tore zu irgendwelchen Paradiesen öffnen. Ein Reiz, ein Versprechen, ein Geheimnis lockt - und deshalb strengt man sich an, ist man immer wieder bereit, die Mühsahl und die Gefahren des Spiels auf sich zu nehmen. Doch irgendwann wird das ganze Spiel transparent: tue ich dies, dann geschieht das.... da ist gar kein Geheimnis!
 
An diesem Punkt war ich schon öfter. Zum Glück hab' ich gelernt, mich deshalb nicht selbst zu zerstören, theatralisch zu werden oder die "existenziell Verzweifelte" zu geben. Das ist nämlich auch nur eine Pose, zumal eine für mich und meine Mitmenschen besonders ätzende.
 
Ich bleibe dann also "cool", lasse die Tage ins Land gehen, das Wetter ändert sich und in der Regel kommt bald irgend etwas, was wieder den Anschein (die Illusion!) eines kleinen Geheimnisses mitbringt, etwas, das es lohnend aussehen läßt, wieder etwas Energie zu investieren. Oder - und das ist die schlechtere Lösung - irgendwelche wichtigen Parameter der aktuellen Lebenssituation rutschen aus dem "grünen Bereich", werden zum Problem: schon bin ich wieder beschäftigt und strample im Laufrad, um den Status Quo wieder zu erreichen, in dem ich eben noch so unendlich gelangweilt war...
 
Ein wirklich blödes Spiel! Ist es das einzige? Spirituelle Lehren versprechen seit jeher: es gibt etwas Anderes, ein "Jenseits" des Spiels. Das Spiel heißt "die Welt" und du kannst daraus erwachen. Doch das "Erwachen", wie ich es kenne und hier beschreibe, erscheint mir als etwas Schreckliches: Wegfall aller Wünsche und Träume, Leerlaufen der Triebstruktur, Verlust der Motivationen, Unfähigkeit zu VOR-STELLUNGEN - und die stete Frage: Was nun? Was tun? Warum überhaupt etwas tun?
 
Holz hacken, Wasser holen. Mein verehrter Yoga-Lehrer gab den berühmten ZEN-Spruch zum Besten, wenn ich während der 8 Jahre bei ihm manchmal von solchen Irritationen berichtete. Und ich dachte mir verärgert: "Du hast gut reden, wir haben doch alle genug Holz und Wasser! Hätten wir keins, hätten wir genug zu tun!" Das ist die agressive Stimmung, die auftritt, wenn das Spiel allzu durchsichtig geworden ist und man ernsthaft bemerkt, daß die einfache Kick-Suche zu Ende geht.
 
Schlicht machen, was anliegt. Das ist wirklich 1000 mal besser, als sich zu besaufen oder einen Streit vom Zaun zu brechen, sogar besser, als "literarisch" zu werden. Deshalb hör' ich jetzt auch auf und werde - endlich mal!!! - die Steuer '98 machen. Da lockt zwar kein großes Geheimnis, sondern nur eine unübersichtliche Zettelwirtschaft. Doch ich wette, hinterher sieht die Welt wieder anders aus.
 
 

06:12:99 Winterstimmung

Gottesgabe baut! Seit ich hier wohne (Juli) sind die Straßen abwechselnd aufgerissen bis gar nicht mehr vorhanden. Zum Glück läßt sich das Schloß von zwei Seiten anfahren, allerdings geht der Weg dann manchmal mitten durch die Gemeindebaustelle, alles Schlammpisten, die nach dem Geländewagen verlangen... Wie bin ich froh, kein Auto-Freak zu sein, dauernd hätte ich Sorge um das gute Stück!
 
Gestern war ich den ganzen Tag offline. Kochend, lesend, mit M. plaudernd verbrachte ich den Sonntag. Dazwischen mal ein kleiner Ausflug auf einen Weihnachtsmarkt im Nachbarort Grambow (Schafe mit 4 Hörnern! Wildschwein vom Spieß, viel Kunsthandwerk, Unmengen Besucher, doch eine gute Atmosphäre). Es hat mir gefallen und ich werde Sonntags jetzt regelmäßig den Computer ignorieren. Sechs Tage 'stets am Ball' reichen völlig aus - der Sonntag ist immerhin eine der wenigen Einrichtungen, die auch heute noch von der Mehrheit der Menschen gegen die "Nützlichkeit" allen Tuns verteidigt wird. Ab heute bin ich dabei!
 
Überhaupt hab' ich Sehnsucht nach mehr "Real Life". Es ist schon heftig, daß die Dunkelheit kurz nach 16 Uhr einsetzt und das Wetter (mit Ausnahme der immer weniger werdenden Sonnentage) das "In-der-Wohnung-hocken" praktisch erzwingt. Lichtmangel macht depressiv und ein Mangel an Eindrücken von außen ist nicht so einfach durch mehr "medialen Input" zu ersetzen. Ich werde mich jetzt öfter aufraffen und selbst etwas unternehmen, in die Schweriner Altstadt fahren, auch mal wieder Berlin besuchen. Das Netz kann Menschen verbinden und Erfahrungen kommunizieren - aber nicht ersetzen!
 
 

04:12:99 Windstärke 10 bis 12

Was ein Orkan ist, wußte ich bisher nur aus dem Fernsehen. In Berlin, mitten in den geschützen Häuserschluchten, kam allenfalls ein laues Lüftchen auf, das im heftigsten Fall die Verkleidungsplanen der Baugerüste ins Flattern brachte. Aber heute Nacht!!! Die ausgesprochen dicken Wände des Schlosses und die Isolierverglasungen der Fenster hielten den Sturm zwar draußen, nicht aber dessen TON! Ein unglaublich lautes Tosen und Brausen, als säße man vor einem riesigen Ofen und hielte das Ohr dicht an die Brennkammer. In das stetig-tiefe bedrohliche Dröhnen mischten sich Töne wie von sich überschlagenden Mega-Wellen (die windgepeitschten Bäume!) und dicht vorbeifahrenden Riesenlastwagen. (Letzteren Sound konnte ich garnicht erklären, schließlich ist hier weit und breit keine befahrene Straße!)
 
Dann auf einmal alles dunkel: Computer, Licht, Heizung aus, Strom weg! Gerade lange genug, um eine Kerze anzuzünden und ein bißchen darüber nachzusinnen, wie es wäre, wenn das so bliebe. Zwar ging das Licht gleich wieder an, doch kaum hatte Windows den absturzbedingten Plattenscan abgeschlossen und ich mich wieder meiner Arbeit zugewendet, war der Saft erneut weg.
 
Vielleicht ein Vorgeschmack auf den Millenium Bug... wer weiß es schließlich so genau? Ich werde mich vor Silvester noch mit einer Menge Kerzen und Nahrungsmittel für zwei Wochen eindecken, zur Sicherheit. Schade nur, daß die Zentralheizung total vom Strom abhängig ist! Evtl. sitzen wir dann im Kalten...
 
Silvester werde ich wahrscheinlich hier verbringen, ganz ohne besondere Feier, doch mit den Augen der Medien auf die Welt im Jahr-2000-Taumel blickend. Schon seit Jahren hab' ich keine Lust mehr auf Silvesterfeste, warum also diesmal? Man steht mitten in einer angesäuselten Menge auf einem Platz, es knallt und leuchtet und stinkt: zwar ist man so mitten im "Real Life", doch gerade deshalb bekommt man kaum etwas mit. Und es könnte ja doch interessant werden, wenn die "embedded chips" ihren Dienst einstellen. Mal sehen!
 
Seit vorgestern bin ich ein bißchen erkältet - gerade so sehr, daß diese gewisse Schlaffheit mich dazu anregt, länger als sonst nur herumzuliegen, zu lesen, zu dösen... eigentlich ganz nett, solange es nicht schlimmer wird! Große oder kleine Webwerke sind in diesem Zustand nicht zu erwarten - im Grunde ist das sowieso alles ein Glasperlenspiel, aber was soll man auf der Welt schon tun, wenn man nicht mehr daran glaubt, sie zu "retten"? :-)
 
Für die Flusser-Fans: in den Flusser-Files gibt es jetzt den Bericht von Bernd Wingert zum Flusser-Symposium in Puchheim (Achtung, sehr akademisch!).
 
 

02:12:99 Mymuseum: aus der Web-Urzeit

Beim Stöbern auf meiner Festplatte traf ich plötzlich auf eine vollständige Fassung meiner Webseiten von 1996 bis Februar 1997! Damals hatte mich jemand aufgefordert, das Ganze auf einer Kunstausstellung in Polen zu präsentieren - ich hatte nix dagegen, aber ein Problem: Sie wollten es zur Sicherheit auf dem eigenen Server, nicht online im Netz zeigen. Also hab ich alles "stand-alone-tauglich" gemacht, nach außen führende Links totgelegt, eine Erläuterung angehängt, daß es im "echten Netz" hier ab in die endlosen Weiten geht, das war's.
 
Wenn ich das jetzt so durchklicke, wird mir ganz nostalgisch zumute: Die Net-Hype-Texte! Das Urzeit-Design! Die völlige Abwesenheit alles Kommerziellen, bei gleichzeitig hohem Engagement der Leser!
 
Was damit anfangen? Löschen? Wär doch zu schade..... nein, ich stell' es ins Web! Vielleicht ist es für die alten Bekannten ein unterhaltsamer Retro-Surf und andere können sehen, wie das Web mal ausgesehen hat - damals, vor langer langer Zeit....
 
Evtl. füge ich noch auf jeder Seite eine Grafik ein, die es als Museumsseite ausweist - und natürlich muß ich auch den Erläuterungstext ändern. Euch laß ich aber jetzt schon mal gucken!
 
 

30:11:99 Was so alles herumsteht....

Der respektlose Titel kommt aus einem Unvermögen: die Welt der materiellen Gegenstände ist ein Bereich, in dem ich wenig Freude finde. Möbel, Klamotten, Autos, auch die kleinen Geschenke, die die Freundschaft erhalten sollen - ja, manches sieht schön aus, aber das ist auch schon alles, was ich sagen kann. Beim Anblick eines solchen "Dings" erfaßt mich nie die Lust, es zu besitzen, im Gegenteil. Ich sehe die Transportprobleme, stell mir vor, wie es wieder zu entsorgen wäre, schüttele den Kopf angesichts der Preise und frag' mich, warum jemand soviel Geld ausgibt, um so ein sperriges Objekt irgendwohin zu stellen.
 
Mein Lebensgefährte hat sich einen großen tibetischen Teppich gekauft: warme Farben, 2 cm dick - er gibt dem Raum eine schöne Atmosphäre und ich genieße es, dort Yoga zu üben. Aber selber einen kaufen? Ich fühle kein Verlangen.... Ein Freund und Kollege richtet gerade sein Wohnzimmer neu ein und fragt mich nach meiner Meinung über Sessel, Sofas und Tische - schlicht, edel, teuer, Bauhaus. Tja, was sagen? Ich kenne diese Möbel aus Architekturbüros, Banken und Arztpraxen, also erinnern sie mich daran. Auf einer Corbusier-Liege entspannte ich mich neulich im Wiesbadener Thermalbad. Wirklich ein tolles Teil und sehr sehr bequem! - würde es allerdings bei mir im Zimmer stehen, stände es nur im Weg: Wenn ich liegen will, liege ich am liebsten flach, eine schlichte Matratze oder ein völlig unauffälliges Bett reichen völlig aus.
 
Als Konsumentin physischer Dinge bin ich eine echte Versagerin, wären alle so, würde die Wirtschaft zusammenbrechen und die Autobahnen wären leer. Woher kommt das? Einerseits vielleicht durch eine Kindheit in beschränkten Verhältnissen: keine Spielzeugmengen, keine Mode-Klamotten, keine Gelegenheit, bei anderen Kindern mit "guck mal, was ich da HABE" zu landen. Dafür lernte ich mit 5 Jahren eigendynamisch lesen & schreiben und sobald ich in die Schule kam, konnte ich sagen: "Guck mal, was ich schon KANN!" Meine Welt war die Stadtbücherei, Woche für Woche schleppte ich Unmengen Bücher nachhause, um mich ins "Virtuelle" zu vertiefen. Das war spannender und angenehmer, als die körperlichen Kampf- und Wettspiele der Hofkinder, bei denen ich regelmäßig versagte und entsprechend verspottet wurde.
 
Aus so einer Grundkonditionierung findet man nicht einfach 'raus, vielleicht nie. Anfang der 80ger, in der Berliner Hausbesetzerbewegung, bin ich dann binnen drei Jahren 7 mal umgezogen. Das hat meiner mittlerweile angenommenen Gewohnheit, Bücher in immer größeren Regalen zu sammeln und auch sonst viel Zeug lieblos in der Wohnung zu stauen, den Rest gegeben. Auf Umzüge, für die man zehn Helfer und einen ganzen Tag braucht, hatte ich schon bald keine Lust mehr und reduzierte meine Habe auf das allernötigste. Den letzten Umzug konnte ich ganz alleine binnen 3 Stunden erledigen, ich war wirklich "flexibel" geworden....
 
Und heute? Mein Zimmer wird vom Computer-Arbeitsplatz dominiert und ist ansonsten nur spärlich eingerichtet. Ja, durch den neulich eingeführten Bürotisch zusätzlich zum Computertisch (auf dem Foto noch nicht da) ist es mir fast zu voll - doch den brauche ich, um auch mal Leute empfangen zu können, mit denen ich etwas arbeite.
 
Einen guten Rat in Sachen "Welches Möbel?" kann ich also nicht geben - immer denke ich bei mir: lieber keins! Oder vielleicht eines aus Jute oder fester Pappe, das man ganz leicht herumtragen und wieder loswerden kann....
 
 

27:11:99 Sparbuch in den Müll

Während die trüben Novembertage uns in besinnliche Stimmungen versetzen, Familien ihre Adventskränze schmücken, die Nacht immer früher beginnt und es immer ruhiger und kälter wird, geht anderwo die Post ab: die "Jahresend-Ralley" an den Börsen treibt die Adrenalinspiegel hoch. Risiko-freudige Spielernaturen haben allein in den letzten Tagen am tiefen Fall der Holzmann-Aktie ein Vermögen verdient, doch auch "ganz normale" Aktiengeschäfte bringen in den letzten Jahren locker 10 - 30% Gewinn (und mehr!) pro Jahr, sofern man auf die Richtigen gesetzt hat.
 
Schon länger beobachte ich dies alles am Rande - und frage mich immer öfter: Bin ich nicht ein bißchen blöd, wenn ich weiterhin mein Geld einfach interesselos auf einem Sparbuch ablege und mich nicht weiter kümmere? Auch das Advancebank-Girokonto mit 1,9% Zinsen ist ja vielleicht nicht das Ende der Fahnenstange..... Kurzum: Seit Manfred Krug im TV den Daumen für die T-Aktie gehoben hat, zweifle ich so vor mich hin: Soll ich...? Soll ich nicht?
 
Mein Vater, der mir ein ganz spezifisch konfliktreiches Verhältnis zum Geld-Verdienen anerzogen hat, gab mir noch auf dem Sterbebett den (unverlangten) Rat: "Hör mal, WENN überhaupt, dann NUR FESTVERZINSLICHE WERTPAPIERE!" Zwar hatte er mich von Kindheit an mit seinen zynischen Sprüchen unglücklich gemacht ("Nur Geld allein zählt, bei Geld hört die Freundschaft auf, Geld regiert die Welt") und durch abschüssige Versuche, mich in Konfliktsituationen mit Hundertmarkscheinen zu bestechen, meine Verachtung auf sich gezogen. Doch im "realen Leben" zog er Sicherheit vor, blieb ein kleiner Angestellter und beschränkte sich auf Sparen und Lotto-Spielen.
 
Ich ging natürlich voll in den Widerstand: Geld ist völlig unwichtig! Geld spielt keine Rolle, nur menschliche Werte zählen. Ja, Eigentum ist Diebstahl, lernte ich 1968, als ich gerade 14 war (siehe auch: Die Geldmacke), und schaute voller Verachtung auf alle herab, denen ein normales Einkommen wichtig war. Ein abenteuerlicher "Patchwork-Lebenslauf" begann, von dem ich keine Sekunde bedauere. Ja, heute partizipiere ich davon wie niemals zuvor, denn die Art und Weise, wie ich in meiner Widerständigkeit die meiste Zeit lebte (z.B. in Ungewissheit, woher übernächsten Monat die Miete kommt), wird den "Massen" als künftiger Normalzustand angedroht. Klar, daß mich das nicht so furchtbar schreckt, wenn ich auch heute einen etwas längeren "Anlage-Horizont" pflege. Schließlich bleibt von den Webdesign-Aufträgen auch was übrig. Keine Reichtümer - aber irgendwie doch zu schade, auf einem Sparbuch zu verkümmern.... oder? Grübel....
 
Mit Aktien spekulieren? Meine Güte, das wär mir noch vor 5 Jahren als der große Sündenfall vorgekommen. Heute denke ich tatsächlich nicht mehr so sehr über das "ob" nach, sondern über das "wie". Und beginne mehr und mehr, darüber zu lesen. So hab' ich es schließlich auch gemacht, als ich anfing, mich für Computer zu interessieren: 1 Jahr eine Fachzeitschrift gelesen, erst nur 5% verstanden, am Ende dann 90% - dann fühlte ich mich fit, loszulegen.
 
Aber: WAS FÜR EIN WEITES FELD! Ich lese den Wirtschafts- und Finanzteil der FAZ, die Börse-Online, auch mal das Magazin "Finanzen"; bei AMAZON fand ich das 110-Seiten-Buch "Gewinnen mit Aktien" von Bernd Glöckner. Je mehr ich lese, desto mehr weiß ich: alles, was da gesagt und geraten wird, ist keineswegs sicher, ja, es gilt sogar oft das genaue Gegenteil. Das rührt daher, daß im Börsengeschäft alles mit allem reagiert: die Unternehmensereignisse, die Statements der Analysten, die technischen Verläufe der Aktienkurse, die politischen Bedingungen und Eingriffe, die allgemeine Wirtschaftslage (insgesamt als auch in einzelnen Branchen und Ländern), die Tricksereien der Börsianer, und vor allem: die Kommunikation über all dies, auf die unzählige Individuen im Rahmen ihrer Befindlichkeit reagieren: voller Gier, voller Angst oder ganz gelassen - und man weiß es nicht genau, wann es wie umschlägt....
 
Faszinierend! Wer da mitspielt, ist völlig auf sich gestellt - gerade wegen der vielen Einflüsse, Infos und Tips. An einem Aktienengagement zeigt sich praktisch in Mark und Euro, ob meine Einschätzung der Welt, meine Vermutung, wie "die anderen" handeln werden, richtig war. Ich muß sagen: das reizt mich! So mit 22 hab ich mal zwei Jahre fasziniert Schach gespielt - gerade dieses Spiel, weil es am allerwenigsten mit Glück zu tun hat, sondern mit erlernbarem Wissen und Psychologie. Doch als ich eines Tages mal wieder im Verein die Klötzchen übers Brett schob, relativ gelangweilt, denn es war - außerhalb der Turniere - schlechter Usus, daß immer Gleich-Gute miteinander spielten, verlor ich von einem Moment auf den nächsten jede Freude am Spiel. "Bin ich eigentlich wahnsinnig, hier blöde Holzklötzchen hin und her zu schieben?" fragte ich mich. "Was hat denn das mit dem echten Leben zu tun?"
 
SCHACH war seit diesem Moment für mich gestorben. Aber vielleicht finde ich ja speziell DIESE Spielfreude wieder - auf einem anderen Parkett, das sehr viel mehr mit der "wirklichen Welt" zu tun hat. Mal sehen.... die Jahresend-Ralley schaff ich wohl nicht mehr.
 
 

26:11:99 Schaufelmännchen

Das Rätsel hat sich gelöst! Herzlichen Dank an Ulrich und Piet, die mich auf die Spiegel-Netwelt aufmerksam machten - da wird mir, speziell für das Webdiary, ein "goldenes Schaufelmännchen" verliehen, was mich natürlich sehr freut! Auch für Maximilians Rose und einige wirklich nette Lob-Mails bedanke ich mich! Dieses Diary ist mein Lieblingsprojekt, weil ich hier am allermeisten das schreiben und zeigen kann, was halt gerade anliegt. Ohne große Überlegungen, ob es nun für eine Zielgruppe paßt oder ob es "nützlich" oder "literarisch" genug ist, um im Web zu stehen. Umso mehr motiviert es mich, wenn ich ab und an mitbekomme, daß das einigen gefällt.
 
Auch in mir lebt ja noch eine kleine - mittlerweile zum Glück stark geschrumpfte - Journalistenseele. Nichts gegen Journalisten! Nur ist das journalistische Schreiben in den letzten Jahren zu einem "Skandalisieren um jeden Preis" geworden: verkürzen, verdichten, atemloses originell-Sein - und immer muß jemand DER BÖSE sein und medial genüßlich geschlachtet werden (sofern die Anzeigenabteilung nicht abwinkt!).
 
Dadurch bekommt das Zeitungen- und Magazine-Lesen eine ganz andere Funktion: Man liest vor allem, um sich Kicks und Emotionen zu verschaffen, kaum noch, um sich zu informieren. Nichts dagegen - aber WAS FÜR EMOTIONEN sind das? Nicht gerade die freudvollen und positiven. Und FOLGEN hat die Lektüre in der Regel auch keine: man weiß, über was man heute mit Fug und Recht schimpfen kann....
 
Interessant in diesem Zusammenhang: 42% der Surfer lesen im Web niemals redaktionelle Inhalte etablierter Medien. Und das, obwohl die Aufmerksamkeitsökonomie in den Netzen sowieso dazu führt, daß "positiver" geschrieben wird (ein Surftip macht nur Sinn, wenn die Site auch empfehlenswert ist, ansonsten wird sie eben ignoriert. Wer zahlt schon gern für Schrott?). Offenbar merken auch die Millionen Newcomer über kurz oder lang, daß das Netz GANZ ANDERE Qualitäten zu bieten hat, nämlich echte Kommunikation zwischen Menschen, ehrlichen Austausch, gegenseitige Hilfe. Private Homepages vermitteln die "Lizenz zum Ansprechen", Mailinglisten bieten öffentliche Räume für Gruppen, die sich um die unterschiedlichsten Interessen zusammenfinden und gemeinsam ihre Möglichkeiten erweitern - ganz ohne Commerce-Stress und ohne den steten Zwang zur Originalität bzw. zur journalistischen oder wissenschaftlichen Schreibe.
 
Und jetzt ruft mich die Arbeit.... heute ist ein typischer grauer Novembertag, an dem das Glück besonders spürbar wird, eine angenehm warme und weitläufige Wohnung zu haben! Da braucht es garnicht "mehr"... :-)
 
 

25:11:99 Dringende Arbeiten...

"...an unserem Stromnetz erfordern das ABSCHALTEN im Ortsnetz Gottesgabe am 25.11. von 8.30 bis VORAUSSICHTLICH 11.00 Uhr!" schreibt die WEMAG AG auf einem kleinen blauen Zettel, der gestern im Briefkasten lag. Jetzt ist es zehn nach sieben, noch eineinhalb Stunden bis zum AUS. Und hier ist dann wirklich alles aus. Nicht nur Licht und Herd und Kühlschrank und PC, auch die Zentralheizung braucht ihren Strom und wird auf die Schnelle erkalten.
 
Was tun? Ich werde das stromlose Ambiente verlassen und einen Ausflug nach Schwerin machen, anstatt hier im Dunklen und Kalten zu sitzen! Gottesgabe ohne Strom ist nichts, woran ich hänge! Überhaupt: das DORF Gottesgabe hat bisher in meinen Berichten vom Leben auf dem Land mit gutem Grund keine Rolle gespielt: Alle Straßen (drei parallel laufende Dorfstraßen, ein "Dorfzentrum" mit Bushaltestelle, Briefkasten, Weiher und zwei Ausfallstraßen) sind länger schon aufgerissene Schlammpisten, Rohrverlegearbeiten bedingen Umleitungen querfeldein, man wartet, bis der Baggerführer ein Einsehen hat und ausweicht, wenn man 'rausfahren möchte, allenthalben wird mal das Wasser abgestellt - und jetzt ist der Strom dran.
  
Ein später "Aufbau Ost" hat Gottesgabe ergriffen und es geht sehr sehr gemächlich voran. Der Laden mit den Hochzeitsmoden im Schloß hat geschlossen: nicht nur wird jahreszeitlich bedingt jetzt wenig geheiratet, auch die Anfahrt ist den Kunden nicht zuzumuten. Mit einem Geländewagen würde Gottesgabe jetzt richtig Spaß machen.
 
Also auf nach Schwerin! Es ist auch Zeit, daß ich wieder mal 'rauskomme und etwas anderes sehe als die beiden Supermärkte in Lützow und Wittenförden - Gottesgabe selbst hat keinen Laden, nur einen "Getränkestützpunkt", der bis 22 Uhr verkauft. Man muß nur an der Haustür klingeln... (Die 'Grundversorgung' ist eben in jedem noch so entlegenen Dorf garantiert!).
 
Gestern bin ich ein bißchen durch die Umgebung gesurft. Auf der Suche nach allem, was es da so geben mag, fand ich im Schweriner Cyberspace die bemerkenswerte Satire-Site Schwerinerfolgszeitung. Zwar optisch ein Graus, aber der Content ist stellenweise witzig und gibt einen Eindruck vom Selbstverständnis der Mecklenburger und speziell der Schweriner. Ich wußte garnicht, daß die Leute hier offenbar sowas sind wie die "Ostfriesen" im Westen. Besonders erheitert haben mich die Fragen & Antworten auf der Post-Seite! (Leser schreibt: Ihr seid die ersten wirklich niveauvoll - witzigen Ossi's, die ich kennenlernen durfte! Antwort: Wahrscheinlich auch die einzigen...)
 
Genug für jetzt! Eine letzte Frage: Weiß jemand, warum dieses Diary seit einigen Tagen mehr als doppelt soviele Besucher hat wie sonst? Werbung hab' ich nicht gemacht, liegt es also an der Jahreszeit? Oder an deprimierten Winterstimmungen? Oder wird in den Büros weniger gearbeitet und mehr gelesen?
 
 

24:11:99 Anonymität

Herzlichen Dank für die Leserbriefe von Ingo (E-Commerce: fetzig!) und Björn (innere Ruhe: philosophisch). Einen dritten Brief veröffentliche ich nicht, denn er war anonym - angesichts der vom Schreiber vertretenen Allgemeinplätze ("der Weg ist das Ziel") konnte ich keinen Grund dafür erkennen. Hier wird sowieso jeder nur mit Vornamen 'verdatet', es braucht also keine weitergehende Anonymität. Die Begründung des Schreibers: "Namen sind Schall und Rauch" akzeptiere ich NICHT.
 
Ein Name ist Aufgabe und Versprechen - der Nachname steht für das Ererbte, für das Herkommen, für Familie und Verwandtschaft, für die Gesellschaft, in die ich geboren bin - für alles, was uns bindet, beeinflußt und fremdbestimmt. Der Vorname meint die Chance, ein Individuum zu werden, sich von alledem ein Stück weit zu entfernen und darüber hinaus zu gehen - natürlich stellvertretend von den Eltern zugeteilt. Manche geben sich deshalb zusätzlich einen neuen Namen: als Künstlername oder spiritueller Name soll er das ganz Eigene symbolisieren (nicht zu verwechseln mit einem "Pseudo"!)
 
Für mich ist das Leben ein Prozeß, den eigenen Namen auszufüllen: auf meine Weise mit dem Herkommen Frieden zu schließen und darauf aufbauend etwas Neues zu machen. Eine Illusion, zu glauben, man könne sich wie ein weißes Blatt Papier ganz neu zur Welt in Bezug setzen. Selbst der heftigste Widerstand, das radikalste Nein (gerade sie!) sind Reaktionen auf das, was wir vorfinden und nicht akzeptieren wollen. Indem ich GANZ ANDERS sein will als z.B. meine Eltern, werde ich gerade so wie sie! Freiheit ist etwas anderes, als 'Nein' sagen zu müssen (Ich rede aus Erfahrung, denn ich war selbst lange so).
 
Mit dem Namen bin ich jedoch nicht vollständig bezeichnet. Etwas in jedem Menschen ist namenlos: der, der erkennt, was es bedeutet, einen Namen zu tragen, ist nicht der, der ihn trägt. Zwischenmenschliche Kontakte finden allerdings nicht auf dieser Ebene statt, sondern mittels der sozialen Person, die nicht abzulegen ist.
 
Deshalb: jemand anderem mit dem eigenen Namen gegenübertreten, auch in der E-Mail, bedeutet die Bereitschaft, Verantwortung für die eigenen Worte und Taten zu übernehmen, z.B. die Kontinuität nicht zu leugnen zwischen dem, was ich vorgestern einer Freundin sagte und dem, was ich morgen einem Chef oder Kunden sagen werde. Trotz aller Unstimmigkeiten und Widersprüchlichkeiten, die es da geben mag, ja, gerade diese Irritationen sind die Herausforderung.
 
Wir sind viele, schrieb ich mal zum Thema "Netzpersönlichkeit", und daß wir es in den Drähten leichter zeigen können. Doch Sinn hat dieses Spiel nur, wenn der rote Faden nicht verloren geht, wenn das Spannungsfeld zwischen den "Vielen" und dem Bemühen um Integrität nicht verschwindet. Wer meine Seiten durchstöbert, kann ganz unterschiedliche Dinge von "Claudia Klinger" lesen - im Lauf von Jahren verschwindet jede Chance, eine "stringente und durchgehende" Personal Identity vorzuzeigen, wenn man viel schreibt und publiziert. Dennoch wird der Leser so mehr von mir mitbekommen, als wenn ich nur in EINER bestimmten Rolle auftrete, z.B. als Webdienstleisterin. Die Beziehungen, die sich so ergeben, sind nicht so eindimensional, man wird nicht auf eine Funktion reduziert und hat mehr Chancen, als multidimensionales Wesen gesehen zu werden. Das liebe ich am Netz - und mag es nicht, wenn mir Leute anonym kommen.
 
Eigentlich wollte ich heute etwas anderes schreiben. Macht nix, es gibt noch andere Tage - vermutlich.
 

 
 

23:11:99 Innere Ruhe?

Ottmar aus Berlin kommentiert meinen lästernden Eintrag vom 20. so:

Du lebst in einer wunderschönen Umgebung, hast eine wunderschöne Schreibe, machst tolle WEB-Seiten und hast im Augenblick keinen Auftragsstreß. Warum also solche KLICK-Hektik und Aggressivität? Früher Hektik in Berlin, jetzt im Internet? Wo ist Deine innere Ruhe?

Das hat mich nachdenklich gestimmt und einige Tage hab' ich die Frage mit mir herumgetragen. Wo ist sie, die innere Ruhe?
 
Sie ist auf Dauer nicht erträglich! Seltsam, aber wahr: wer hält es schon aus, dauernd positiv, gelassen und womöglich gut gelaunt zu sein? Wunderbar, wenn dieser Zustand eintritt, aber er kann nicht bleiben, ist nicht von Dauer, wie alle Zustände, in die ich gerate.
 
Ich erinnere mich an eine Zeit Anfang der 90ger, als ich mal für ein paar Monate eine Psycho-Gruppe für Unzufriedene besuchte. Es wurden Techniken gelehrt, ein auf allen Ebenen erfolgreicheres Leben zu führen. Die Techniken waren durchaus wirksam, geradezu erstaunlich erfolgreich, doch als wir wieder mal zusammensaßen und unsere Erfolge befeierten und der Leiter seinen Standardspruch wiederholte: Jeden Tag einen Schritt in die richtige Richtung! - da kam mir auf einmal die Galle hoch und ich sagte einigermaßen agressiv: Ich will aber nicht jeden Tag einen Schritt in die richtige Richtung!
 
Mittlerweile zähle ich mich nicht mehr zu den Unzufriedenen. Lange Jahre schon fühle ich mich nicht von außen gesteuert, leide nur sehr oberflächlich (im Kopf!) am 'Zustand der Welt' und bin es gewohnt, erstmal mich selber zu betrachten, wenn mir 'was nicht paßt. Den letzten Wunsch, der über Jahre gewachsen ist und den ich deshalb für WAHR gehalten habe, war der Wunsch, die Stadt zu verlassen. Den hab' ich mir erfüllt - und jetzt?
 
Alles ist jetzt, wie es sein soll: eine schöne Umgebung, Friede mit den Mitmenschen, kein Arbeitsstress, sondern viel Zeit, eigenen Ideen zu folgen - was will der Mensch MEHR?
 
Ich weiß es nicht! Ich weiß nur, daß wir nicht geboren sind, um ausschließlich glücklich zu sein. Jeder positive Zustand schlägt - ob mit oder ohne "erklärbaren" Grund - in sein Gegenteil um. Wenn die Umstände uns mal nicht fordern, anstrengende Überlebensleistungen zu bringen, dann suchen wir "das Negative" selber auf: durch Lesen in der Tagespresse, durch Bücher und Filme, die psychische Verstrickungen vorführen, durch agressives Verhalten gegen andere oder durch dumme, selbstdestruktive Lebensweisen, die uns krank machen. Anders wäre es auch garnicht verständlich, warum Leute in armen Ländern so fröhlich wirken, wogegen die Einwohner der "entwickelten" Weltgegenden allemal sehr viel miesepetriger durch ihr vermeintliches Paradies laufen!
 
Spirituelle Lehren legen oft die Idee nahe, die Unruhe komme vom wandernden Geist: der ständige innere Dialog müsse abgestellt werden, dann käme alles in Ordnung. Ich weiß, wie wunderbar es ist, dem inneren Grübeln nicht durchgängig ausgesetzt zu sein, über Methoden zu verfügen, in eine gelassene Ruhe zu gelangen (z.B. durch Yoga). Der Punkt aber ist, daß ich es des öfteren garnicht will: Ich will mich aufregen, MÖCHTE einen Spannungszustand erleben, brauche den Widerstand, gegen den ich angehen kann. Und ich halte das nicht für einen Fehler, sondern für eine grundmenschliche Befindlichkeit, aus der wir nicht herauskommen, solange wir leben. Leben IST Spannung UND Entspannung - allerdings kann ich mehr oder weniger konstruktiv damit umgehen, das ist wahr!
 
Die naheliegenden Lösungen, die WELT zu verbessern oder mich SELBST zu verbessern hab' ich in dieser Reihenfolge lange Zeit versucht (im Rahmen meiner Möglichkeiten). Nicht ganz erfolglos, aber es brachte mir gegenüber dem zugrunde liegenden Impuls keine Veränderung: was immer ich tue, hinterher tritt keineswegs das Paradies ein, sondern ein neuer Wunsch entsteht, ein neues Problem tritt in den Blick. Und wenn das NICHT geschieht (weil der Verstand auch mal sagt: alles im grünen Bereich!), tritt die Unzufriedenheit dennoch auf - ein stetes Auf und Ab, mit dem ich einfach leben muß. Und das Beste, was mir dazu einfällt, ist, mich einer Arbeit zuzuwenden, die mich fordert.
 
Das werde' ich jetzt tun - über andere Ideen, die mir manchmal kommen, schreib' ich dann morgen!
 

 
 

20:11:99 "Suchen Sie doch weiter!"

Wer wie ich seit 95/96 ein Netzleben führt, in den Drähten liest, schreibt und arbeitet, lernt und lehrt, sich amüsiert und unverdrossen, ohne Angst vor Viren und anderen Dämonen jedes neue, menschheitsbeglückende Angebot auszuprobieren bereit ist, gehört sicher zur "Kernzielgruppe" für den E-commerce. Zusätzlich motiviert durch die Aussicht, daß am Shopping-Wesen die Wirtschaft genesen wird (irgendwann sogar die deutsche!), surfe ich gelegentlich durch die Web-Läden - mal, weil ich wirklich etwas suche, mal, weil ich wissen möchte, was es mittlerweile alles gibt.
 
Als ich im Sommer z.B. nach Schottischen Hochlandrindern suchte, war ich erstaunt ob des großen Angebots! Zwar waren die Websites der Züchter dilettantisch gemacht, doch bekam ich immerhin Antwort und ausführliche Informationen zu Haltung und Pflege - zwar erst nach 1 - 2 Wochen, aber das sieht man Bauern ja nach, von denen niemand erwartet, daß sie regelmäßig ihre Mail abrufen.
 
Die Suche nach "Schneckenzaun" und "Gewächshaus" war schon weniger erfolgreich: offenbar glauben die einschlägigen Anbieter nicht, daß es im Netz für sie eine Nachfrage gibt. Dabei liegt der Gedanke nahe, daß gerade "ländlicher Bedarf" übers Web besser zu bedienen ist: Soll der Landbewohner etwa hunderte Kilometer herumfahren, um endlich in irgendeinem zufällig angetroffenen Gartencenter fündig zu werden?
 
Wer nun glaubt, einer weniger exotischen Nachfrage stände immerhin ein professionelles und umfangreiches Angebot gegenüber, täuscht sich gewaltig. Software, Bücher und CDs heisst es doch, seien kein Problem! Bücher - ok, dafür hat Amazon gesorgt. Aber schon mein erster Versuch, bei cybercd.de (Riesenkatalog, umfangreiche Website!) eine CD zu bestellen, ging augenscheinlich in den Orkus: bestellt am 22.10., nachgehakt am 23.10., weil keine Bestätigungsmail kam, dann am 29.10. - wie auf der Website angeboten - den BESTELLSTATUS abgefragt: keine Antwort, keine Lieferung, nichts.
 
Kein Einzelfall: Von fünf Versuchen versacken drei auf diese Weise! Muß wirklich verdammt schwer sein, so etwas Einfaches wie Angebot, Bestellung und Lieferung einer Ware übers Netz abzuwickeln!
 
Noch weit mehr Begeisterung kommt allerdings auf angesichts so mancher Reaktion, die ich bekomme, wenn ich mir die Mühe mache, mitzuteilen, was ich gesucht und nicht gefunden, oder welche Mängel am Bestellsystem ich festgestellt habe. So suchte ich gestern mal im Bereich "Feinkost": mal gucken, ob ganz berühmte Gourmet-Produkte mittlerweile übers Netz bestellbar sind, zum Beispiel Trüffeln. (Hab' ich noch nie gegessen und war inspiriert durch den Roman 'Hannibal' {...the Cannibal: Das Schweigen der Lämmer, 3.Buch}, in dem ein Serienmörder, der seine Opfer gern in Teilen verspeist, ansonsten als Kulturmensch erster Güte gezeigt wird, allen Sinnenfreuden zugetan, insbesondere gutem Essen und Trinken.)
 
Beim E-Shop mit dem vielversprechenden Namen genusstempel.de ("Unsere Philosophie lautet: Klasse statt Masse!") gab ich ins Suchfeld also "Trüffel" ein - und erhielt als Angebot ein Olivenöl und zwei Sorten Wein. Das fand ich nun etwas ärmlich und wollte das auch mitteilen. Die Anbieter wollen sicher gerne wissen, was nachgefragt wird, dachte ich mir so. Also frisch weiter zum Formular "Kontakt", wo es einladend heißt:

Sie haben hier die Möglichkeit, mit uns in Kontakt zu treten und uns Ihre Wünsche oder Anregungen zukommen zu lassen oder sich gezielt über Themen rund um den Genußtempel oder das Internet und E-Commerce zu informieren. Sie finden hier auch eine 2-seitige Unternehmensdarstellung der german networker Multimedia AG, die Sie in komprimierter Form (.exe-Datei, selbstentpackend) als Winword 6.0 - Datei herunterladen können.

Soviel will ich nun doch nicht wissen... von MIR aber wird ein ausschweifender Datenstriptease verlangt: Telefon, Postadresse (!), Fax, Position., Firma..... Im Feinkostgeschäft werde ich sowas im Allgemeinen nicht gefragt, also fülle ich nur Name und Mail korrekt aus und schreibe in die restlichen Felder

"Das_geht_Sie_nichts_an".

Im Feld "Sonstiges" teile ich mit, daß die Suchmaschine für meine Anfrage irrelevante Ergebnisse ausgespuckt hat. Nach dem Abschicken kommt ein freundliches 'Danke' vom Automat und siehe da, HEUTE SCHON eine Antwort von einem Menschen! Da schreibt mir also Christel Brueggemann:
 
Sehr geehrte Frau Klinger,
hier empfehlen wir Ihnen, einfach weiterzusuchen.

Mit freundlichen Grüßen

 
Na, wenn das kein Service ist! Schön, wenn die Mail-Regel beherzigt wird, die da lautet: Binnen 24 Stunden reagieren, oder Sie können den Kunden vergessen. Eine "Multimedia AG" weiß eben, wie es gemacht wird! Weiter so!
 
 

19:11:99 ...morgens um 7

Es ist kurz vor 7, draußen noch stockdunkel, alles wunderbar ruhig. Der Lebensrythmus verlagert sich immer mehr zum Morgen hin, was ich mir im früheren Leben als Städterin nie hätte träumen lassen. Wie viele andere meinte ich, ein "Nachtmensch" zu sein, geboren aus dem Trotz gegen jedes "früh aufstehen und zur Arbeit gehen", obwohl ich letzteres mit wenigen Ausnahmen zeitlebens vermeiden konnte. Später gehörte es dann zu meinem Selbstbild: Nachts, wenn der "Normale" schläft, werde ich erst richtig umtriebig....
 
Heute weiß ich, daß es die, den oder das "Normale" nicht gibt, allenfalls als kollektive Wunschvorstellung zur Abwehr von Ängsten und Unsicherheiten. Da es jedoch immer unmöglicher wird, "kollektive Vorstellungen" zu entwickeln, übernehmen das mehr und mehr die Überwachungskameras, die Wachdienste und Kontrollen des öffentlichen Raums. Nicht mehr der innere (Selbst-) Zwang, die eigene Psyche halbwegs normenkompatibel zu halten, ist gefragt, sondern es genügt, äußerlich nicht weiter aufzufallen. 20.000 "kontrollierte Communities" soll es in den USA bereits geben, lese ich in der ZEIT.
 
In Gottesgabe, wo jeder jeden auch unbekannterweise grüßt, ist all das weit weg. Jetzt im beginnenden Winter gehe ich kaum mehr raus und manchmal spüre ich, wie es an Eindrücken mangelt. In Berlin konnte ich eben mal fünf Minuten bis zur Markthalle gehen, wo "das Leben tobte", zu jeder Jahreszeit (Zitty beschreibt sehr atmosphärisch den typischen Hallen-Imbiß). Anders als in den neuen sterilen Shopping-Malls ist eine altberliner Markthalle ein eigenes Biotop: Händler und Angestellte, die von morgens um 6 bis abends um 7 praktisch dort "leben", Stammkundschaft aus dem Kiez, wenige Touristen und allerlei Randständige: Männer aus südlichen Ländern, die den ganzen Tag an zentralen Plätzen stehen und reden, jugendliche Schnorrer mit ihren Hunden vor den Eingängen, Säufer mit Sixpacks auf den Bänken vor der Halle - und alles friedlich, noch ganz ohne Kameras.
 
Vielleicht besuche ich Berlin bald mal für zwei Tage, das reicht dann wieder für einige Wochen Ereignislosigkeit. Denn im Grunde bin ich unglaublich statisch im realen Raum verhaftet. Dauernd herumfahren, reisen, pendeln, Freunde hier und Veranstaltungen dort besuchen - unvorstellbar! Der Eniergieaufwand und die kontinuierliche Einspannung des Bewußtseins in das jeweilige Geschehen, dieses Vergessen des Beobachters zugunsten des Machers, ohne das so eine Mobilität nicht zu leisten ist, reizt mich in keiner Weise. Da vergesse ich mich lieber beim Webdesign, das ist jederzeit unterbrechbar.
 
Wenn ich heutige Kinder sehe, die von ihren Eltern bereitwillig von hier nach da kutschiert werden, dort zum Förderunterricht, hier zum Kindergeburtstag, da in die Sportstunde - Kinder, die schon von Anfang an lernen, in vielen Räumen an wechselnden Orten zu leben, oft auch in verschiedenen Elternhaushalten abwechselnd, sehe ich keine Probleme mit der "Flexibilität und Dynamik" dieser neuen Generation. Sie werden keine Bindungen mehr an einen RAUM entwickeln und sie lernen, daß alles veranstaltet und gemacht werden muß. Sie werden die Welt, die wir ihnen hinterlassen, problemlos managen.
 
 

18:11:99 Plastisches Bewußtsein

Es schneit! Zwar bleibt der Schnee gerade erst auf den Autos liegen, doch vielleicht wird schon bald die Schloßwiese, das Wäldchen, der Garten und alles rundherum weiss sein. Und ich mitten drin, im ersten Winter auf dem Land! Nicht Matsch, Salz, Sand, nicht die mißmutig in zugigen U-Bahnen an die Wand oder in allzu breite Zeitungen starrenden Städter werden um mich sein - sondern Weisse, Weite, sehr frühe Dunkelheit und Stille. Bei allem Komfort, versteht sich, welch ein Glück!
 
Oft denke ich nämlich an unsere Vorfahren, die bei jeder Witterung in schlechten Hütten an rauchigen Feuern froren - was sie wohl die ganze Zeit gemacht haben? Vor allem im Winter, wo es draussen nicht viel zu tun gab??? Ganz ohne Bücher, TV, Telefon, gar Internet? Und ohne die Gewohnheit und Möglichkeit, sich zu waschen? Mich schaudert.
 
Es ist doch ein unglaubliches Wunder, daß aus solchen Lebensumständen das HEUTE herauswuchs, mit seinen so ganz anders gearteten Problemen! Liest man einen Text wie Überleben im Netz und anderswo von Goedart Palm, der von der Überforderung des Individuums angesichts allzuvieler Möglichkeiten handelt, gewinnt man den Eindruck (wie praktisch bei jedem guten Text zur Diagnose des Daseins): Nie war so viel Katastrophe wie jetzt!
 
Mitten in der Klimakatastrophe, mitten im ökologischen Desaster einer ungebrochen dem WACHSTUM hinterherhechelnden Wirtschaft, mitten in der "Globalisierung", die selbst die Beamtenschaft entwickelter Länder aus alter Gemütlichkeit aufstört, mitten in einer Welt, deren Bevölkerung nach wie vor "explodiert", wo Wasser und Erde und Chancen der Teilhabe immer geringer, Kriege und Krankheiten dafür mehr werden Du gähnst? Ich auch - ist das nicht furchtbar? - mitten in einer Medienlandschaft, die uns all das in jedem Augenblick wissen läßt, müssen wir nun auch noch feststellen, daß unser Bewußtsein für die Welt, die wir geschaffen haben, nicht PLASTISCH genug ist.
 
Nachdem sich philosophische Denker lange schon von der Vorstellung, Welt sei zu steuern und zu regeln, verabschiedet haben, geht es jetzt ans Eingemachte: auch das Individuum packt es nicht mehr, ist hoffnungslos antiquiert angesichts der Geräte und Potentiale seiner Umgebung, verliert sich in zum Scheitern verurteilten Versuchen, den Forderungen und Versprechen der VIRTUALISIERUNG nachzukommen.
 
Ach je! Arme Welt - aber warum fühle ich nichts, wenn ich all das so hinschreibe? Allenfalls fühle ich etwas, wenn der Satzbau nicht stimmt und die Sprache holpert. Das ist fast wie ein Schmerz und ich muß dann solange herumändern, bis es "klingt". Bin ich auch schon eine Art Monster? Wahrscheinlich - und noch immer fühle ich nichts.
 
Auf Goedart Palms lesenswerter Textbaustelle findet sich im Intro der Satz:

"Interessenten mögen mich kontaktieren, da die vorliegenden Texte gegen Entgelt zur Verfügung gestellt werden. Darüber hinaus biete ich an, Texte für diverse Webinitiativen neu zu verfassen, da nicht zuletzt die Armseligkeit vieler Textlandschaften, die Dürftigkeit des "content" eine Ursache für die Flüchtigkeit des user-Interesses ist."

Das ist der Punkt: Das User-Interesse und das Schreiber-Interesse richtet sich allenfalls auf TEXTE, kaum je auf das, was sie beschreiben und besprechen. Wer kennt das nicht: selbst der Entschluß, einen Aspekt des eigenen Lebens nun ernsthaft zu ändern, führt zunächst dazu, erstmal einige "Bücher zum Thema" anzuschaffen, dann überlegt man, Schon dreimal Jogging-Schuhe gekauft! welche Ausrüstungen und Hilfsmittel vielleicht dazu gebraucht, also gekauft werden müssen - und bei alledem tauchen soviele neue Aspekte und Wünschbarkeiten auf, daß das ursprüngliche Vorhaben als eine von 1000 Möglichkeiten ad Acta gelegt wird.
 
Ist das nun katastrophal - oder gerade gut? Auch das ist nur eine Frage des Blickwinkels, von dem aus man den aktuellen Text schreibt. Es kann Zeichen der Antiquiertheit und Ohnmacht sein, aber auch Ausdruck der Widerständigkeit und Beharrlichkeit gegenüber jeglichem Veränderungsstreß und seinen Zumutungen.
 
Und da ich das Schreiben damit jeglichen Sinnes über das Unterhalten hinaus entkleidet habe, höre ich für heute auf und bastle weiter an meinen "nützlichen" Webseiten.
 
 

16:11:99 Sterben & Gesellschaft

Ob ich ein Forum ans Diary linken soll? Ich mag es, wenn Leserbriefe kommen, stelle sie gern auf die Briefe-Seite und kommentiere sie - vielleicht aber verhindere ich so ausführlichere Gespräche zwischen Lesern? Und nicht immer kann ich ja selbst auf alles eingehen... Wer dafür oder dagegen ist, möge doch mal schreiben!
 
Juh, vielen durch sein tägliches Sudelbuch bekannt, schreibt heute, die Verbannung des Sterbens hinter verschlossene Krankenhaustüren sei für die Gesellschaft eine Verarmung, der Entzug einer gemeinschaftsstiftenden Erfahrung. Ja, warum sollen wir noch zusammenkommen, wenn nicht, um dem Tod etwas entgegenzusetzen? Wenn wir den Tod nicht für wahr-nehmen, solange es eben geht, verliert auch DER ANDERE seine Faszination, den Aspekt, über mich und mein blosses Dasein und Sosein hinauszuweisen.
 
Ach je, jetzt werd' ich allzu philosophisch-abstrakt! Dabei ist mir das Thema ganz egoistisch-konkret eingefallen: ich will nicht, daß mit mir beliebig verfahren wird, wenn ich mal nicht mehr selber kräftig genug bin, ein Ende zu setzen. Ja, mehr noch: ich möchte sogar kreative Dienstleistungen des medizinisch-industriellen Komplexes für mich in Anspruch nehmen können! Schließlich ist nicht einfach nur "der Abgang" denkbar, sondern sogar eine Kultur des Sterbens, die eine geeignete Umgebung und ein Zelebrieren der unterschiedlichsten Sinneseindrücke (Musik, Bilder, Düfte....) umfaßt - wie auch den Einsatz geeigneter Drogen. Und auch diese nicht nur, um Schmerzen zu stillen, sondern um - sofern man das schätzt - dem eigenen Bewußtsein auf die Sprünge zu helfen. Was sollen noch Verbote in den letzten Tagen? Vor WAS soll jemand noch geschützt werden, wenn der Tod ansteht?
 
Ich weiß, daß ich damit in eine Richtung denke, die sich diametral von Michaels Bedenken loslöst, der nicht zulassen will, daß der Staat durch entsprechende Gesetze EXPLIZIT den Freiraum des Individuums, Art und Zeitpunkt seines Sterbens zu wählen, eröffnet. Michael sagt zwar: "Ich möchte natürlich dem Einzelnen alle Freiheit lassen, die er ohnehin faktisch hat...", sieht damit aber darüber hinweg, daß dieser Freiraum nicht mehr existiert, sobald jemand im Krankenhaus ans Bett und/oder an Apparate gefesselt ist. Wer dann keine Freunde oder Ärzte hat, die bereit sind, sich illegal zu verhalten (und WER hat die schon!), ist aufgeschmissen und voll dem Umtrieb ausgeliefert.
 
Die Ökonomie des immer unbezahlbarer werdenden Gesundheitssystems drängt tatsächlich in diesselbe Richtung: je früher einer stirbt, desto billiger! Ich bin dafür, hier mit Gesetzen Auswüchse zu verhindern: der Einzelne soll SELBST entscheiden und nicht seine Verwandten oder die Ärzte. Daß diese individuelle Entscheidung aber von der Umwelt beeinflußt ist: ist denn das nicht immer so? Warum das zum Ende hin weghalten wollen?
 
Letztlich muß ich ja keinen Staat machen und glaube einfach, daß es so kommt. Ich bin bereit, Wetten darauf abzuschließen: Im Jahr 2020, wenn ich über 65 bin, werden in meinem Briefkasten bzw. meiner Mailbox sich nicht nur die Urlaubsreise-Angebote stapeln, sondern immer öfter werden auch "finale Pauschaltrips" angeboten werden, vielleicht als Werbe-Beilage zur Arztrechnung oder als Infoschreiben der Krankenkasse.

Ich vermute, meiner Generation und den Jüngeren wird dies in den kommenden Jahrzehnten weniger Probleme bereiten, als den Älteren. Schließlich haben wir (post '68) fast von Kindesbeinen an gelernt, uns zur Not gegen ein Umfeld zu wehren - eine Gesellschaft, die vom mündigen Bürger ausgeht und ihm auch die letzte Freiheit läßt, können wir durchaus verkraften.
 
Zu guter Letzt: Ich fordere diese Freiheit, diese Rechte, um sie solange es irgend geht, persönlich NICHT zu nutzen. Denn mich interessiert, wie das Sterben "von selber" geht...., das kann ich aber nur in Ruhe beobachten, wenn ich nicht kämpfen muss, wenn ich auf Wunsch alles haben kann, was ich aktuell zu brauchen meine.
 
 

15:11:99 Death on Demand?

Die journalistisch-fetzige Umbenennung des Themas stammt von Michael, der einen nachdenklichen Beitrag zu dieser schwierigen Frage geschickt hat. Auch Ingo Mack ist - auf Björns Ausweitung der Frage hin - noch einmal tief ins Thema eingestiegen. Ich lasse heute beide Zusendungen erstmal für sich stehen, bevor ich darauf eingehe. Nicht jeden Tag bin ich in der Lage, großen Fragen nachzuspüren.
 
Es ist kalt, der Reif blieb den ganzen Tag auf der Wiese liegen, doch strahlender Sonnenschein konterkarierte den November und ging am Abend in einen spektakulären Sonnenuntergang über. Wunderschön. Zu schön für ein Foto, das würde nur kitschig wirken.
 
 

14:11:99 Ego und Gesellschaft

Björn hat einen Leserbrief zu Ingo Macks Beitrag über den "finalen Mausklick" (Recht auf Selbstmord und Sterbehilfe) geschrieben. Darin wendet er sich GEGEN die schrankenlose "Freigabe aller persönlichen Rechte", denn so sei keine Gesellschaft überlebensfähig. Wo bleiben die Rechte des Anderen? Wer soll entscheiden, wie weit die Rechte des Einzelnen gehen?
 
Mit diesen Überlegungen gerät Björn mitten in ethische Fragen, die seit 1000en Jahren die Menschen umtreiben und die doch niemals eine "befriedigende" Lösung finden. Die Götter, die früher mit Hilfe einer Priesterschaft die Menschen disziplinierten, sind verschwunden. Der EINE GOTT, der alles sieht, selbst wenn dich niemand sieht, ist tot. Die LOGIK von Kant, der versuchte, eine Ethik ohne Gott zu begründen, hindert die Einzelnen nicht, schrecklich unlogische Dinge zu tun. Alles, was wir heute haben, ist ein demokratischer Rechtsstaat, eine im besten Fall dynamisch fortschreitende Kompromißmaschine, die immer das Gesetz werden läßt, was die "Mehrheit aller billig und gerecht Denkenden" für richtig hält.
 
Demokratie hat keine Wahrheit und genau das macht sie zur erträglichsten Regierungsform. Doch die Frage des Einzelnen, der ja in diesem Rahmen selbst darauf kommen muß, WAS er für "billig und gerecht" hält, ist damit nicht beantwortet. Viele verbringen Jahre des Lesens und Nachdenkens mit der Suche nach der absoluten Wahrheit und der daraus abzuleitenden Gerechtigkeit: ohne Erfolg - sieht man mal davon ab, daß es natürlich eine schöne und bildende Beschäftigung ist. Doch jedes Gedankengebäude, das jemand mühevoll errichtet, stürzt wie ein Kartenhaus zusammen angesichts eines Einzelfalls - und IMMER gibt es Einzelfällle, die einfach nicht passen....
 
Für mich ist mittlerweile klar: Die Frage nach der Allgemeinheit, nach der Gesellschaft, ist erstmal eine Sackgasse. Man kann konkretes Fühlen und Handeln nicht "von daher" bewerten, ja, allermeist ist diese Überlegung ein Ausweichen vor der Forderung des augenblicklichen Lebens. Anstatt beim Einzelfall zu bleiben - zum Beispiel meinen konkreten Novembergedanken: Wie werde ich sterben? - wird in staatstragende Überlegungen ausgewichen und dabei kräftig abstrahiert. Aus meinem Wunsch, in jeder Lage selbst über mein Leben bzw. Ableben zu bestimmen, wird so die Frage, wie die Rechte des Einzelnen ganz allgemein abzugrenzen seien. Damit ist, für den Augenblick, der Tod scheinbar wegabstrahiert, eine Lüge, wie sie vom immer 'hilfreichen' Verstand jederzeit zu haben ist.
 
Der "Gesellschaft" ist damit nicht etwa geholfen. In Theorie und Praxis brauchen moderne Demokratien den "mündigen Bürger", nicht unbedingt den kundigen Denker (ok, ein paar, aber nicht 80 Millionen...). Ein mündiger Bürger ist einer, der sich selbst kennt, der seine Handlungen nicht als reines "Mitschwimmen" im Mainstream vollzieht, aber auch nicht als "automatische Widerstandshandlung", wie es für junge Menschen naheliegt, die sich erstmal gegen alles Vorgefundene wenden.
 
Sich selbst kennenlernen ist unmöglich, wenn bei jedem "Problem" ins Denken ausgewichen wird. Es kommt dabei keine neue Erkenntnis heraus, denn man schaut ja gar nicht mehr hin: Wer stirbt? Vor WAS habe ich Angst? Was ist das für eine Angst? Ist sie immer da oder nur, wenn ich eine Krankheit spüre? Was IST jener Teil in mir, der einfach nicht verkraften mag, daß es mal ein Ende hat? Was ist ES? Was hat das für Auswirkungen in meinem alltäglichen Leben, wenn ich garnicht an Tod & Sterben denke?
 
Viele hochspannende Fragen schließen sich hier an, alles Fragen, die ich nicht aus Büchern beantworten kann, ja, die praktisch überhaupt nicht durch irgend ein aktives Tun oder Denken zu lösen sind. Allein das beobachtende Dabeibleiben bei den Fragen, wie sie im Alltag immer wieder aufblitzen, wenn man sie läßt, schafft die Möglichkeit, daß Antworten geschehen können (nicht: müssen).
 
Über solche Antworten besteht dann kein Bedarf, zu streiten. Sie SIND, und sie bilden den Bestand, von dem aus ich die Entscheidung treffe, ob und wann der "finale Mausklick" ein Weg ist, ganz egal, was die Gesellschaft dazu meint. Sie bilden aber auch die QUALITATIVE Grundlage für das, was ich als "billig und gerecht Denkende" als Forderung an die Gesellschaft herantrage - in der Hoffnung, damit schon bald eine Mehrheit zu bilden. Im besten Fall eine Mehrheit mündiger Bürger.
 
 

12:11:99 Wilde Blumen

Heute morgen liegt Reif über der Landschaft und alles ist winterlich weiß, auch die Wiese hinter dem Schloß. Bald wird das letzte Laub verschwunden sein und ich werde durch das Wäldchen hindurch sehen können. Wie schnell das alles geht! Um halb sechs abends ist es bereits stockdunkel und ich erinnere mich, daß ich in Berliner Zeiten immer fragte: was treibt das Landvolk wohl an diesen langen Abenden? Nichts, weiß ich jetzt. Ich gehe immer früher schlafen und wundere mich, daß es in der Stadt selbstverständlich war, auch winters die Nacht zum Tage zu machen, zumindest bis Mitternacht zu lesen, fernzusehen, zu arbeiten, oder auszugehen. Es ist, als hätte die allgemeine Wachheit einer großen Zahl Menschen zur Folge, daß man ebenfalls wach bleibt. Und hier ist die "Menschendichte" sehr gering und also fällt man in den Schlaf, sobald es lange genug dunkel ist.
 
Bis zum Jahresende hab' ich mir 'frei' genommen: Aufträge und kommerzielle Arbeiten auf ein Minimum heruntergefahren. Jetzt ist also Platz für eigene Aktivitäten: Die Schloß-Gottesgabe-Site macht mir große Freude, ich bin geradezu in einen Design-Rausch verfallen und lerne auch mal wieder etwas Neues. Dann (es kann sich nur noch um Tage handeln) kommt endlich mein Lehr-Projekt, das ich schon lange plane und zu dem es mich immer stärker hinzieht: Ich werde - zusammen mit einem Kollegen, der vom Journalismus kommt - das Thema "Schreiben für das Internet" didaktisch aufbereiten. SCHREIBEN ist der Ausgangspunkt und NICHT Design, Grafik, HTML, Netztechnik - obwohl all das natürlich eine Rolle spielen wird, ausnahmsweise aber mal eine DIENENDE!
 
Durch die Professionalisierung des Webdesigns entsteht mehr und mehr der Eindruck, mensch könne nicht selber dem Medium entsprechend die eigenen Inhalte veröffentlichen, ohne riesigen Aufwand an Zeit und Geld. Die Rede vom "Webseiten programmieren" hat sich etabliert und damit auch der Abschreckungsfaktor, der dem Wort PROGRAMMIEREN schon immer anhing, gerade für Leute, die eher mit Texten als mit Technik umgehen. Doch genau wie dereinst lesen & schreiben gehört heute "Medienkompetenz" zu den Schlüsselfähigkeiten, ohne die bald niemand mehr ein Bein auf den Boden der (nicht nur Erwerbs-) Gesellschaft bekommen wird. Millionen neue "User" kommen ins Netz, doch wird es ihnen alles andere als leicht gemacht, die Chancen und Gefahren richtig einzuschätzen und vor allem, es FÜR SICH zu nutzen, jenseits der platten Möglichkeiten des E-Commerce.
 
1996, als ich meine ersten Seiten baute, ging das noch leicht, die Webgemeinde war klein, der kommerzielle Bereich dominierte noch nicht und die Idee "selber machen" lag nahe. Doch wer heute ins Netz kommt und - natürlich! - erstmal die in der Printpresse besprochenen Webseiten absurft, kommt nie auf die Idee, sowas läge im Bereich eigener Möglichkeiten - etwa so wenig, wie die Möglichkeit, ein eigenes Fernsehprogramm zu starten. Doch, entgegen dem ersten Anschein, ist genau diese Möglichkeit die zentrale Neuerung des Netzes, und nach wie vor ist das machbar, ja sogar immer besser machbar, denn es gibt unzählige Hilfen, Programme und Mailinglisten, die das 'webben' erleichtern. Und wo heute nur Text und Bild und ein paar Animationen die Mittel des Ausdrucks sind, werden es morgen auch bewegte Bilder sein - ich bin mir sicher, daß in einigen Jahren auch das "eigene Fernsehprogramm" aus vielen Homepages herauswachsen wird, schließlich gibt es eine riesige Szene engagierter Hobbyfilmer.
 
Jede Minute, die DU hier in diesem Diary liest, geht einem Printmedium oder einem Fernsehsender (oder einer E-Commerce-Site) verloren - klar, daß der kommerzielle Sektor darüber "not amused" ist und über den "vielen Schrott" im Netz lästert. Sollen sie lästern, der Leser liest doch, was er lesenswert findet! Ich möchte, daß VIELE Schreiber zu Webgestaltern werden, daß Millionen wilde Blumen neben den aufwendigen Züchtungen stehen - genau wie in der 'realen' Pflanzenwelt!
 
 

08:11:99 Novembergedanken und Briefe

"Wie leicht ist es tatsächlich, den ganzen erworbenen/ anerzogenen Ballast von materiellen Dingen zu hinterfragen, angesichts des aufziehenden Nebels! Wir sehen nicht klar, die Geräusche, der übliche Lärm unserer Umwelt wirkt gedämpft und lässt uns ein wenig Zeit, unwichtige Dinge in ordentliche Schubladen zu späterer Verwendung zu packen. Durch die Unschärfe in der Tiefe gewinnen plötzlich so alltägliche Dinge, wie zum Beispiel die blaugestrichene Holzbank mit den "schwebenden" Wäscheklammern und dem kleinen Laubhaufen rechts im Bild eine eindringliche Bedeutung. Wenn man sich Zeit lässt. Unsere Lebenszeit ist womöglich das einzige, uns wirklich dienliche Kapital."
 
Der Leserbrief von Ingo Mack ist so schön, daß er keine weiteren "Worte zum Tage" von mir braucht! Er hat mich auch auf die Idee gebracht, endlich das Diary-Bild auszutauschen!
 

 

05:11:99 Vom selbstbestimmten Ableben

Mein gestriges Gedankenspiel über das Sterben und den finalen Mausklick, der eigentlich immer möglich sein müßte, hat Ulrike zu einem engagierten Leserbrief angeregt. In der immer mal wieder aufkommenden Diskussion um die Sterbehilfe sagt übrigens selten jemand, daß wir Menschen uns u.a. gerade dadurch als solche definieren, daß wir vom eigenen Ende wissen und jeder Zeit in der Lage sind, dieses Leben aus eigenem Wunsch zu beenden. Doch ausgerechnet dann, wenn wir dieses wichtige "Feature" unseres Daseins am dringendsten bräuchten, geraten wir in die fürsorglichen Hände unseres medizinisch-technischen Komplexes, der uns die wichtigste Freiheit nimmt, nämlich Schluß zu machen, wenn's genug ist.
 
Zufällig - na, es ist halt November! - begegnete mir gerade ein Artikel mit dem Titel Zu früh? Zu spät?, der vom "richtigen Zeitpunkt zum Sterben" handelt. Darin beeindruckte mich die Passage:

Helmut hinterliess ein Haus, das vom Keller bis unters Dach vollgestopft war mit Möbeln, alten Akten und Gegenständen, die man später vielleicht einmal hätte brauchen können. Die Finanzen waren nicht geregelt, es gab kein Testament, und niemand wusste darüber Bescheid, wie der Verstorbene sein Begräbnis wünschte. Tod und Sterben waren bei ihm nie ein Thema gewesen.

Wenn ich mir überlege, was wohl geschieht, wenn mich zum Beispiel ein Unfall plötzlich dahinrafft - also, es wäre nicht ganz unproblematisch für meinen Lebensgefährten, meine Existenz "abzuwickeln". Auf welchen Banken ist mein Geld? Gibt es ein Testament? Wo sind die Telefonnummern derjenigen, die man benachrichtigen muß? Was wird mit meiner "virtuellen" Seite? Welche Behörden und Geschäftspartner sind zu kontakten? Das ist alles völlig ungeregelt, und ich denke, ich werde das in diesem November ändern. Es reicht nicht, die materiellen Gegenstände zu verringern, das "Horten" für später zu verlernen - ich möchte auch auf meiner Festplatte, meinen Servern und in der Welt der Papiere und Akten Ordnung sehen: Klarheit, Einfachheit, Transparenz.

Naja, vielleicht hab' ich ja noch ein bißchen Zeit, um das zu üben!
Wer noch Lust hat, kann ein paar neue Bilder vom Schloß im nebligen Novembermorgen ansehen.
 
 

04:11:99 Zahn um Zahn

Wir sterben nicht von jetzt auf gleich, sondern Stück für Stück. Wenn es "nur" ein Zahn ist, der vorzeitig verlustig geht, denkt normalerweise niemand ans Sterben, höchstens ans Ersatzteil und seine Kosten. Vielleicht ist es der November, der mich so denken läßt, draußen hängt dicker Morgennebel und macht die Welt fast unsichtbar - irgendwann wird sie ganz verschwinden, genau wie der Zahn!
 
Die immense GEWALT, die mein Zahnarzt aufwenden mußte, um das seiner Ansicht nach überflüssige, ja schädliche Kauwerkzeug zu entfernen, hat mir die Materialität, das Beharren, die mechanisch-biologische Kraft gezeigt, mit der "der Körper" in der Welt steht. Das ist leicht zu vergessen in einem sitzenden Leben vor dem Monitor, im Umgang mit Software, wo alles mit einem Mausklick getan ist.
 
Ich würde mich weniger vor dem Prozeß des Sterbens fürchten, gäbe es die Möglichkeit, zu jedem Zeitpunkt in diesem sicher gewaltätigen und schmerzhaften Prozeß den finalen Mausklick zur Verfügung zu haben. Vielleicht gelingt es meiner Generation noch, bevor es ernst wird, dieses Menschenrecht auf ein selbstbestimmtes Ableben durchzusetzen!
 
Das Philosophieren mit den Zähnen hat noch andere Aspekte: Zähne sind nicht nur zum Kauen da, sondern sie sind WAFFEN. Wer schon einmal den berühmten Traum hatte, in dem die Zähne samt und sonders ausfallen, im Mund zerbröckeln, der weiß, daß sie physische Entsprechungen der Kraft sind. Ich hatte diesen Traum einige Male, so bis Mitte dreissig, und es war ein furchtbarer Schrecken: ein Gefühl des Verlustes sämtlicher Fähigkeiten sich zu behaupten, absolute Wehrlosigkeit, Angst.
 
Typischerweise traten diese Träume zu einer Zeit auf, in der ich nach außen einen recht kämpferischen Lebensstil pflegte, allerlei Machtpositionen besetzt hatte und sie zu verteidigen wußte. Ich war "effektiv" für die jeweilige Sache, aber innerlich litt ich in jeder Auseinandersetzung wie ein Schwein. Es durfte ja in meinem Weltbild keine "Feinde" geben, ich war auf KONSENS gepolt, sehnte mich nach Harmonie und Einträchtigkeit. Wo das nicht zu finden war, lernte ich, mich durchzusetzen - allerdings mit Bauchschmerzen und fürchterlichen Träumen vom Zahn-GAU.
 
Gegen Ende dieser Lebensphase fiel mir auf, daß ich auf einmal die Zeit nicht mehr "seit damals" rechnete, sondern "bis dahin". Nicht mehr die Jahre seit dem Studium, seit dem Umzug nach Berlin, seit den Kindertagen stand mir im Bewußtsein, sondern die Zeit, die mir voraussichtlich noch blieb. Dieses etwas unheimliche Umdenken leitete eine Krise ein, die ein paar Jahre dauerte und mir zeigte, wie machtlos ich bin. Daß die Welt sich nicht darum schert, was ich über sie DENKE, und mehr noch: daß das GUT SO ist.
 
Als ich aus dem Tunnel dieser Krise am anderen Ende wieder auftauchte, war nichts mehr, wie es vorher war. Plötzlich wußte ich, was Freiheit ist: nicht immer gewinnen müssen, sondern auch verlieren können. Nicht stets besser sein wollen, recht haben um jeden Preis, schneller, höher weiter, VORWÄRTS kommen müssen, sondern endlich mal die Augen aufmachen und die Schönheit der Welt sehen. Eine Schönheit, die geworden ist und weiter besteht, ohne daß ich meinen Senf dazu geben müßte!
 
Seither kann ich wählen, ob ich in irgend einer Sache kämpfen will oder nicht. Zeigt sich jemand als Feind, muß ich nicht automatisch zurückschlagen - hab' aber auch keine "mentalen Probleme", das zu tun, wenn ich mich dazu entscheide.
Es wundert nicht, daß ich heute vergleichsweise sehr sehr friedlich lebe. Und die Zähne fallen nicht mehr in Träumen aus, sondern mein Zahnarzt tut seinen Job.
 

 
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© 1996-2000 Claudia Klinger
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