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19:08:99 Regenzeit....
 
Heute Nacht hat es geschüttet wie aus Kannen. Nie, soweit ich mich erinnere, ist in Berlin ein solcher Regen nieder gegangen, wie er hier herunterdonnert. Ja, donnert, denn es gibt einen Lichthof in der Wohnung, ein kleines Plastikdach - und wenn der Regen darauf prasselt, ist es fast wie im Zelt.

Die Wohnung, die ja sehr viel größer ist als die alte Berliner Bleibe, wirkt weitläufig und übersichtlich. Da ich früher nur ein Zimmer für mich hatte, ist das neue "Schlafzimmer" praktisch leer: ein Bett, ein Kleiderständer - Schluß. Auch die große Diele könnte eine kleine Sitzgruppe vertragen, denk ich manchmal. Aber dem Impuls, die neue Weite zu zu stellen, stehe ich skeptisch gegenüber. Man stelle sich vor, wir räumen die Wohnung hier voll und müssen dann mal wieder umziehen... ein Horrorgedanke! Außerdem ist es ein gutes Gefühl, alles zu überblicken und niemals länger suchen zu müssen. Es beruhigt. Wenn nur auf meiner Festplatte auch so eine Übersichtlichkeit herrschte!

Der Sommer ist am 15. August zu Ende gegangen - so jedenfalls fühlt es sich an. Und sofort gewinnt die "virtuelle Welt" wieder an Leuchtkraft, soziale und kulturelle Aktivitäten verstärken sich, die Kommunikationsflüsse, die in der Hitze ins Stocken geraten waren, beginnen wieder zu fließen...

Der Internet-Boom ist nun eindeutig auch in Deutschland real geworden, die E-Commerce-Kurven zeigen aufwärts und die Investoren entfalten den "Druck des Kapitals": Macht was, macht es schnell, Hauptsache Internet! Wahrscheinlich werden jetzt Unsummen "Hoffnungskapital" auch hierzulande ins schwarze Loch geworfen, in der Erwartung, es käme hinten ungeheuerlich vermehrt wieder heraus. Und langsam wird sich auch bemerkbar machen, wo dieses Kapital ABGEZOGEN wird....

Marshall McLuhan hat mich mal mit dem Satz beeindruckt, den ich nur sinngemäß wiedergeben kann:

Du kannst den Fortschritt nicht aufhalten, jedes dagegen angehen verstärkt nur die Energie. Wer aber an die Spitze der Welle geht und ein Stück darüber hinaus, kann einen SOG entfalten und so die RICHTUNG der Welle beeinflussen.

Ich wünschte, sehr viele Menschen und vor allem "neue Unternehmer" wären sich dessen bewußt.
 
 

15:08:99 Ein weites Land....
 
Das Schönste ist der Blick in die Weite. Die Felder sind teilweise schon umgegraben und eigentlich würde man ein "Mondlandschaft-Gefühl" erwarten - aber nein, es ist einfach schön, soviel Himmel und Erde! Und jede Straße ist eine Allee - draufklicken, dann kommen noch ein paar Bilder.
 
 

13:08:99 Einen dicken Fisch von der Angel lassen...
 
Fühle mich glücklich - erleichtert - kiloschwere Bedrückungen sind von mir abgefallen! Ein großer Auftrag, der sich schon einige Zeit angekündigt hatte, ist gestern gekommen und ich habe a b g e l e h n t .

Warum? Ganz konkret, in Gestalt von sechs Winword-Dateien, die ausgedruckt einen zentimeterhohen Papierstapel ergaben, lag das Projekt vor mir. Bisher war mir nur sein Finanzvolumen bekannt: 15000 Euro, eine für mich nicht gerade alltägliche Summe.

Ich blätterte durch den Stapel, betrachtete die Umengen "Content", die man mit gutem Gewissen SO NICHT ins Web setzen könnte. Malte mir die erforderliche Kommunikation mit den Beteiligten aus, die alle vom Web nicht viel wissen. Dachte an den extremen Zeitdruck, der sich aus der Terminierung bis November ergab, an die zwangsläufige Vernachlässigung anderer Aufträge.

Und natürlich würde ich zu garnichts mehr kommen, was mir selber Freude macht: Keine Netzliteratur, keine Homepages über mein neues Domizil, keine Entwicklung von Online-Kursen, kein Schreiben in Mailinglisten, kein Mitwirken in Communities - und schon gar keine Arbeit im Garten, keine Ausflüge in die Umgebung, keine Fotospaziergänge im Moor, keine Pirsch auf Pilze....

Seit der Ablehnung fühle ich mich ein paar Kilo leichter. Ohne mein Wissen hatte dieses unüberschaubare Vorhaben meinen Horizont verdunkelt. Das Wissen: Selbst wenn ich jetzt mit allem Aktuellen gut fertig werde, dann kommt doch vielleicht noch DAS hinterher..... hatte mich völlig blockiert. Jetzt bin ich wieder frei, bin unbeschreiblich froh, dem Sog des "immer mehr" ausgewichen zu sein.

Ein gutes Gefühl! Seltsamerweise genauso gut wie dasjenige, als ich das erste Mal einen solchen Auftrag BEKOMMEN und ihn als Meilenstein auf dem Weg in die Selbständigkeit gefeiert hatte. An Aufträge kommen, ist offenbar nur die halbe Miete - sie auch ablehnen können, ist ebenso unverzichtbar.
 
 

11:08:99 Gottesgabe, Tag 28, Sonnenfinsternis
 
Da wird sich also heute die Sonne verfinstern! Wie seltsam, was für eine Dimension der Rummel um das Naturereignis mittlerweile angenommen hat: Schlangen vor den Optikerläden, ausgebuchte Züge und Hotels, Rückrufaktionen wegen fehlerhafter Brillen, intensive Berichterstattung in den Medien. Warum diese allgemeine Erregung?

Ich vermute, es ist das tiefe Bedürfnis nach nicht vom Menschen steuerbaren Ereignissen und nach Einzigartigkeit - beides Dinge, die in unserer hochzivilisierten, verwalteten, digitalisierten Welt selten geworden sind, bzw. selten zu sein scheinen. Alles Bemühen geht in die Richtung, die Dinge in den Griff zu bekommen, sie berechnebar und nutzbar zu machen - doch die Erfolge machen nicht richtig glücklich.

Gestern war ich recht deprimiert. Der Arbeitsanfall hat derzeit Ausmaße angenommen, daß ich öfter mal die Lust an allem verliere. Es ist ja verrückt: Da verdiene ich Geld genug, um hier in einer wunderschönen Wohnung in ruhiger, ländlicher Umgebung zu wohnen und habe einfach keine Zeit, auch nur rauszugehen und irgend etwas damit anzufangen.

Wenn es SO aussieht, dann trete ich ganz von selbst in eine Art Streik (nie lange, aber immerhin!), arbeite erst recht nichts, hänge herum, tu was anderes, das mich ablenkt und halte mir vor Augen, daß die Welt keineswegs einfällt, wenn die Webseite X drei Tage später online geht. Es ist das Schlimmste, den STELLENWERT der eigenen Tätigkeit angesichts des Ganzen aus den Augen zu verlieren, dann geht man im Streß unter und sieht kein Land mehr.

Das Land mache mich depressiv, meint mein Lebensgefährte, die Schwere der Erde schlage auf mein Städtergemüt, das schnell wechselnde Reize für sein Wohlbefinden benötige, insbesondere für den Spaß an der Arbeit.

Und tatsächlich: als wir dann spontan nach Schwerin fuhren und ein wenig durch die Altstadt bummelten, wurde ich sehr viel fröhlicher. Deckte mich mit Lesestoff ein, wandelte durch die Kunstwelt der Schloßpark-Mall, saß auf dem Schloßplatz in einem Café, wo das ganze Ambiente mich stark an Siena erinnerte und war wieder putzmunter.

Aber dort wohnen möchte ich nicht, obwohl Schwerin eine wirklich hübsche Stadt ist. Anscheinend muß ich einmal pro Woche Stadtluft schnuppern, um psychisch-geistig nicht zu verkümmern, gut, zu wissen. Doch ist es ja gerade das Ereignis, der Kontrast, das Besondere, das Nicht-Alltägliche an einem Stadtbesuch, das die belebende Wirkung ausmacht - und das kann ich hier, 9 km vor Schwerin, 35 km vor Wismar, 43 km vor Lübeck, 100 km vor Hamburg und 200 km vor Berlin wirklich einfach haben!
 
 

10:08:99 Ist etwas - oder nicht?
 
Immer mal wieder zeigt sich mir die Welt seltsam interaktiv! Als hätten meine Themen, die doch ganz zufällig gerade so und gerade jetzt zustande kommen, etwas mit dem "da draußen" zu tun - und umgekehrt. Ich weiß, wenn man darüber zu intensiv nachdenkt, kann man im schönsten Bedeutungswahn enden: schwarze Katze von links und prompt fährt man an den nächsten Baum.... doch keine Sorge, so gefährdet bin ich nicht!

Gestern hatte ich meine Kurzgeschichte Die Ruhe von Santa Maria nach Jahren der Schubladenexistenz nun doch zum Download angeboten. Sie war aus meiner irrationalen Angst vor Hornissen entstanden. Und zum Thema "schreiben" hatte ich mich darüber verbreitet, daß ich es vorziehe, aktiv und kämpferisch den Dingen entgegenzutreten, anstatt in Angst oder Leiden zu verharren, um sie literarisch zu bewältigen.

Heute hat mich prompt das Leben bestraft. Erstmalig hat mich eine Hornisse im Zimmer besucht! (Gleich neben meinem Fester ist ein Mirabellenbaum, die Früchte sind reif und bieten ein gefundenes Fressen für alles, was da fleucht - auch für Hornissen, meine intimen Feinde.)

Das wirklich über alle anderen Töne weit hinausdröhnende tiefe, gewichtige und voluminöse Brummen erkannte ich sofort. Vom Stuhl aufspringen, in geduckter Haltung die Tür zum Flur erreichen und mich dahinter verschanzen, war Sache eines Augenblicks. Zum Glück ist es eine verglaste Tür, so konnte ich von draußen beobachten, was die Hornisse machte. Sie flog an der Decke entlang, stieß sich den Insektenschädel, fiel ein Stück herunter (huhhhh, wenn ich jetzt darunter stände...), fing sich wieder, flog wider an die Decke.... und ab und zu landete sie mit einem selbst durch die geschlossene Tür erschreckend lauten KLACK auf der Reispapierlampe in der Zimmermitte. Wo sie herumkrabbelte, sich putzte, dann wieder abhob, sich wieder den Schädel an der Decke anschlug....

Minuten vergingen. Fünf, zehn, fünfzehn - die Hornisse fand das sperrangelweit offene Fenster nicht, sie blieb zu weit darüber und suchte ihr Heil wieder und wieder an der Decke. Klack!

Meine Güte, dieser hirnlose Automat würde nie den Ausgang finden und ich würde hier im Flur alt und grau werden, mit Sicherheit aber meine Auftraggeber verlieren - so schoß es mir durch den Kopf. Und auf einmal erinnerte ich mich beschämt an die großen Sprüche im gestrigen Diary! Schlange ins Gebüsch werfen, aber klar! Aber vor einer einzelnen Hornisse in den dunklen Flur abhauen und den Arbeitsplatz kampflos räumen!

Holte mir schließlich einen Besen, in der Absicht, die Hornisse an der Decke zu zerdrücken. Der Besen war allerdings nicht lang genug: zwar erreichte er die Decke knapp, aber einen richtigen TÖTUNGSDRUCK damit auszuüben, wäre gänzlich unmöglich (das merkte ich beim Ausprobieren im Flur). Hornissen sind zäh! Bin einmal nachts - zum Glück mit Hausschuh - auf eine getreten. Sie hat es überlebt, obwohl mein Lebensgefährte tags drauf berichtete, ebenfalls auf sie getreten zu sein. (Der Mond schien auf eine bestimmte Stelle des Fußbodens, das war halt nachts der hellste Punkt...) eine "Leiche" fanden wir nicht...

Na, ich will das Thema langsam wieder verlassen! Nach etwa zwanzig Minuten setzte sie sich knapp unter der Decke aufs Fenster - hier konnte ich sie gleich im ersten Versuch nach unten wischen, wo sie durch die offen stehenden Fensterflügel endlich das Weite suchte. Oh, wie war ich erleichtert! Mehrere Versuche hätte ich wahrscheinlich nicht gewagt und statt dessen um Hilfe bitten müssen!

Es kommt mir jetzt vor, als hätte dieser Besuch einzig deshalb statt gefunden, um meine gestrigen, allzu forschen Statements zu konterkarieren, mit der Realität jenseits der Zeichen zu konfrontieren. Schließlich sind hier rundherum täglich Hornissen zugange, ohne mir ins Gehege, bzw. in den Fokus der Aufmerksamkeit zu geraten.

"Unsinn", würden die meisten Menschen dazu sagen, "ist doch nur ein Zufall". Komisch eigentlich, denn mir ist ja gerade ein "Sinn" zugefallen.
 
 

08:08:99 Ernsthaft schreiben?
 
Warum denn so ein Webtagebuch? Das ist doch bloß Larifari - laß es lieber und schreib ETWAS ERNSTHAFTES!

Wenn ein Freund so etwas sagt, an dessen Wohlwollen mir gelegen ist, stürzt mich so eine Bemerkung in heftige Selbstzweifel und ich brauche ein bißchen Zeit, bevor ich die 'Lizenz zum Webdiary' wieder ungebrochen spüre.

Etwas ERNSTHAFTES - tja, warum eigentlich nicht? So ein tiefschürfendes Werk in Leinen gebunden zu den wirklich wichtigen Problemen der Welt. Oder zumindest ein brillianter Essay mit geistreichen Pointen, eine ästhetisch-literarisch bemerkenswerte kleine Geschichte, die man so schnell nicht vergißt....

Ganz abgesehen von der Frage des Könnens weiß ich recht genau, warum das Trachten nach dem großen oder kleinen Schreibwerk mich schon lange nicht mehr lockt. Schreiben außerhalb der Unterhaltungs- und Informationsindustrie ist Ausdruck unterdrückten Lebens. Was sich schreibend äußert, konnte im Reich der Handlungen nicht bewältigt, nicht seiner Energie beraubt werden. Und das Leben ist schließlich voll von nicht zu bewältigenden Dingen: Krieg, Tod, Krankheit, Haß, Gier, Ignoranz, Eifersucht, Machtstreben, Unterdrückung - es reicht für Generationen von Schriftstellern, die Themen hören niemals auf.

Auch in der Presse wirkt das publizistische Gesetz: only bad news are good news - Grund genug, warum ich keine (Print-) Artikel mehr schreiben mochte. Ohne jemanden in die Pfanne zu hauen, ist kaum ein "fetziger" Artikel hinzubekommen. Der Journalist begibt sich in die Rolle des alles besser wissenden Beobachters, urteilt von dort aus alle ab, die sich in der Sache abstrampeln, gießt noch eine gehörige Portion Hohn und Spott aus und fertig sind zwei Seiten á 3000 Zeichen, die im Leser ein GUTES GEFÜHL erzeugen, ein Schmunzeln, ein "JAAAA, GENAU SO IST ES!", das ihm immer wieder die paar Mark wert ist.

Was für den Journalisten die Schadenfreude, ist für den Literaten das Leiden. Ohne herzergreifendes Elend, garstiges Schicksal, unerklärlich Böses, ohne den Abgrund der Psyche und die daraus resultierende Verzweiflung fehlt der Stoff, aus dem die Werke kommen. Leiden ist unverzichtbares Produktionsmittel von Literatur, zumindest in Deutschland. Wer mag schon 'erbauliche' Schriften lesen? Wer steht auf Gedichte, die aus schlichter Lebensfreude entstehen? Nein, der Autor hat gefälligst in die Tiefen des Daseins hinabzusteigen, dort gehörig im Schlamm zu wühlen, auf daß alle mit hinuntergezogen werden, und dann - vielleicht - geläutert zurückzukommen, um seine neu gewonnene Distanz und heitere Gelassenheit mit dem Publikum zu teilen.

Ein ehrenwerter Job! Aber nicht der meine. Ich will nicht im Elend verharren und warten, bis es sich in schöne Formulierungen übersetzt. Mag nicht als Kaninchen vor der Schlange stehen und sie so lange anschauen, bis "ich selbst zur Schlange werde" - ich nehme lieber einen langen Stock und versuche, sie ins nächste Gebüsch zu schleudern.

Mag sein, daß ich dabei großes Pech habe und die Schlange mich trotzdem beißt. Dann such' ich einen Arzt und laß mir eine Spritze geben - wieder nichts, worüber sich ernsthaft schreiben ließe!

Ohne je selbst eine literarische Erfahrung gemacht zu haben, würde ich nicht wagen, über das "Ernsthaft schreiben" so viele Worte zu machen. Wer also mag, kann eine Geschichte lesen, die mich für sechs Wochen von allem anderen erfolgreich abgezogen hat. Es war wie ein Trip, eine psychisch-geistige Versenkung, ein Bann, der mich erst wieder los ließ, als die Story zu Ende geschrieben war.

Die Ruhe von Santa Maria ist in Italien entstanden und lebt von einer großen Angst, der Angst vor Hornissen. Seit der Kinderzeit fürchte ich brummende Insekten, schon gar, wenn sie fliegen und stechen können und nicht ganz klein sind. Im Lauf der Jahre hat sich das entspannt, Bienen und Wespen lassen mich heute kalt. Doch die Hornissen in dem alten toskanischen Bauernhaus, in dem ich phasenweise lebte, versetzten mich unabwendbar in Panik, wenn sie aus ihrem Nest im Kamin den Weg in die Wohnküche fanden und versuchten, sich an der offenen Gaslampe umzubringen.

Aus der Erfahrung dieser irrationalen Todesangst entstand die Idee zur Geschichte. Ich blieb "vor der Schlange stehen", verharrte gedankenlos bei der Angst und die Einfälle begannen zu strömen - von SELBST. Personen entwickelten sich, eine Handlung schritt voran, weitere, uralte psychische Schmerzen aus der Kinderzeit nutzten die Lücke ins Jetzt und drängten ans Licht - es war wie ein Rausch, ich wurde emfindungslos gegenüber dem Alltag und lebte die ganzen sechs Wochen in diesen psychischen Komplexen, gab ihnen Raum, kostete sie aus, faßte sie in Worte.

Danach wußte ich, was "ernsthaft schreiben" ist. Und daß es alles andere ausschließt, weil es die gesamte psychische Energie für sich braucht. Ich muß mich dem Prozeß GANZ hingeben - oder garnicht.


 
 

07:08:99 Gottesgabe, Tag 24
 
Ein Fotospaziergang in der Umgebung. Immer wieder erstaunt es mich, wie beeindruckend Fotos auf dem Monitor wrken - verglichen mit der tatsächlichen realen Situation, in der man steht. Als führe der Wegfall anderer Sinne zu einer Vervielfachung der Ausstrahlung, die sich jetzt allein in der Optik sammlen muß. Ergebnis gestern ist die kleine Präsentation Das alte Heim vom Schwein. Am besten schaut man sie abends an, da strahlen die Bilder mehr...

 

05:08:99 Gottesgabe, Tag 22
 
Wenn mir die Dinge über den Kopf wachsen, ich wütend und agressiv werde, ist aufräumen immer schon das beste Gegenmittel - und hier hab' ich dazu noch das "Bäume ausreißen" entdeckt. In Kombination mit einer kalten Dusche angewendet, vertreibt das jegliche Mißstimmung!

Täglich eine halbe Stunde auf Puls 130, das mache binnen ein paar Wochen körperlich fit, hat mir ein Freund geraten, der es wissen muß. Kaum länger stehe ich das Ausholzen durch: mit einer mittleren Säge bewaffnet, trete ich gegen tote Äste am Rande des Schloß-Wäldchens an. Da gibt es wunderschöne alte Bäume, doch hat sich der Wald in den letzten Jahrzehnten eigendynamisch zur Wiese hin erweitert. Schiefe, teils abgestorbene Baumteile bilden einen Verhau, durch den kaum ein Durchkommen ist - bzw. war! Jetzt türmen sich die abgetrennten Äste auf der Wiese, sie auch noch klein zu sägen ist völlig undenkbar, schließlich hat die Menschheit die Motorsäge erfunden. Wir werden uns eine leihen müssen.

Den ganzen Tag dröhnen die Mähdrescher. Wie riesige Wesen aus einer anderen Welt fahren sie in erstaunlicher Geschwindigkeit über die Felder, gewaltige Staubfahnen hinter sich herziehend. Den Anblick "Mähdrescher vor untergehender Sonne" würde ich gerne festhalten, doch komischerweise ist mein Drang, der Welt mit einer Kamera zu begegnen, nicht besonders groß.

Noch immer kein Heimweh nach Berlin. Im Gegenteil, ich bedauere fast, dort so lange Jahre ausgehalten zu haben. Es macht mich glücklich und dankbar, drei Schritte nach draußen treten zu können und auf der Wiese zu stehen, noch ein paar Schritte weiter in den Wald zu gehen, oder 100 Meter aus dem Dorf hinaus in die "unendliche Weite" blicken zu können. Der Kontrast zur Flachheit des Monitors und zu den Gründerzeitfassaden, die ich 20 Jahre im Blick hatte, könnte kaum größer sein.

Was die Arbeit angeht, werde ich andere Seiten aufziehen müssen. Bisher hatte ich immer alles im Kopf, was getan werden mußte: kein Terminkalender, kein Arbeitsplan, was am Dringendsten war, wurde eben bearbeitet. Doch den Kopf will ich jetzt entlasten, das ständige "Du mußt aber noch...", und "vergiß nicht, zu..." geht mir auf die Nerven. Ich vermisse sowas wie ECHTE FREIZEIT, das Gefühl, ein "Tagwerk" vollbracht zu haben und danach mit allem Recht im Garten bosseln zu können!

Also bleibt nichts übrig, als mir einen Plan zu machen, einen richtigen Zeitplan über alle anstehenden Arbeiten, so daß ich weiß, wann ich an einem Tag FERTIG bin. Bisher fühle ich mich wie in einem stetig fordernden Arbeitsfluß und wenn ich etwas anderes mache, schleicht sich das schlechte Gewissen ein. In der Stadt, wo ich kaum noch Grund sah, den PC zu verlassen und fast alle Freizeit mit PC- und Online-Aktivitäten zubrachte, ist mir das nicht so aufgefallen. Ich war zufrieden mit dieser "Einheit von Leben und Arbeiten", ein hoher Wert für viele aus meiner Generation.

Jetzt zieht mich das Leben nach draußen und die alte Form muß durch eine andere ersetzt werden. Tja, ich werde noch richtig spießig, wie es aussieht. Schließlich hab' ich diejenigen immer belächelt, die um Schlag 5 die Arbeit niederlegten, um sich Hobby & Freizeit zuzuwenden! Für mich gab es sowieso nichts Angenehmeres, als meine Projekte voranzutreiben - und soweit es mal nicht angenehm war, arbeitete ich verbissen vor mich hin, als gäbe es eine Chance, MIT ALLEM FERTIG zu werden. Genau das ist aber nichts als verrückte Illusion: Als Freiberufler "fertig" zu werden, heißt, diesen "Job" schon bald an den Nagel zu hängen. Wenn der Nachschub an Aufträgen von alleine kommt, ist das gerade richtig - und es liegt an mir, die Arbeit so zu organisieren, daß es keine Last ist.

Das war nun leider wieder mal ein Tagebuch-Eintrag ganz ohne "philosophische Schleife". Muß denn sowas im Web stehen? Eigentlich nicht. Doch die ruhige Stunde Schreiben am Morgen ist eine gute Art, den Tag zu beginnen, es klärt und strukturiert das Denken, selbst wenn es nicht von Grund-stürzendem und Welt-bewegendem handelt. Und meinen Freunden erzähle ich so, wie es mir geht - individuell, jedem eine Privatmail, wär das im Moment garnicht zu leisten.
 
 

03:08:99 Gottesgabe, Tag 20
 
Eigentlich hatte ich gehofft, ich würde hier morgens ums Dorf joggen, um endlich zu einer regelmäßigen körperlichen Betätigung zu kommen - ein typischer Städter-Gedanke, der hier nur noch absurd wirkt! Statt dessen reiße ich Gras von überwucherten Beeten, ziehe verdorrte Äste aus dem Wald, hacke Erde klein und häufe eine Menge altes Holz zu einem Berg, in der Hoffnung auf herbstliches Feuer-Machen. Doch was immer ich anfange, nach einer dreiviertel Stunde bin ich völlig erschöpft!

Ich wußte ja, daß ich nicht "fit" bin - und es freut mich, hier keine Fitness-Übungen zu machen, sondern überall Arbeit zu sehen, zu der ich richtig Lust habe. Lust, die dann zwar allzu schnell wieder vergeht, aber ich vermute, das wird täglich besser - und schließlich zwingt mich nichts und niemand. Es ist vielmehr eine Freude, zu sehen, wie der wilde Pflanzenverhau sich langsam lichtet, wie alte Steintreppchen wieder zum Vorschein kommen, die irgendein Schloß-Eigentümer mal hat anlegen lassen. Und wie die alte Parkanlage schemenhaft wieder erkennbar wird, ahnbar eher, denn da ist noch eine Menge Gestrüpp und kleine Bäume, die die ursprünglichen Strukturen verdecken, sie wuchernd überwachsen haben. Wenn in einem Garten oder Park nichts gemacht wird, ist bald wieder übrall Wald, das kann man hier gut sehen.

Zwischen der Arbeit an der Maus und der Arbeit an Hackbeil und Säge springe ich im Moment noch ganz undiszipliniert hin und her - noch gibt es keine Routine, ständig möchte ich zu viel auf einmal und dann bin ich einfach müde. Noch nicht mal der Schlafrythmus ist regelmäßig, manchmal geh ich um 9 ins Bett, doch gegen halb 11 bin ich wieder wacher und lese bis 1. Morgens wache ich mal um sechs, mal um halb neun auf - nichts ist "normal".

Daß nun niemand denkt, ich wäre zur Landarbeiterin geworden! Weit gefehlt, meine Einsätze sind sporadisch und kurz. (Die weitaus meiste Landarbeit macht Manfred). Öfters genieße ich auch einfach das Draußen-Sitzen, hab' uns dazu im Schweriner Plaza einen kleinen Tisch und vier Standard-Gartenstühle gekauft (Plastik-Guß, wie sie zu Millionen in der Welt stehen - auf denen sitzt man nämlich bequem, im Gegensatz zu vielen Stühlen mit weit besserem ästhetischem und ökologischem Ruf!). Sogar einen kleinen Grill konnte ich nicht auslassen, obwohl mein Lebensgefährte nicht gerade ein begeisterter Griller ist. Wir essen garnicht so oft Fleisch, doch ich steh' einfach auf Feuer in vielen Formen, auch beim Kochen.

Meine Auftragsarbeiten sind mir akut etwas über den Kopf gewachsen, es staut sich eine Reihe Projekte und ich frage mich, wie ich alles unter einen Hut bekomme. Auch die Papierwelt muß mal wieder berbeitet werden, die Steuererklärung '98 zum Beispiel... garnicht dran denken! Ich muß irgend etwas ändern, doch WAS weiß ich noch nicht: Neue Routinen, ein neues "Selbst-Management" - vielleicht ist es am besten, ich mache mal 'Urlaub', was meine Brotarbeit angeht, und tobe mich erstmal hier körperlich aus.

Im Grunde bin ich ja hergekommen, weil das Element ERDE in all seinen Bedeutungen in meinem Leben bis jetzt zu kurz gekommen ist. Und es ist schon eine komische Sache, wie (physisch..) leicht man mit ein paar Mausklicks Geld verdient, wogegen das Anlegen eines Gartenbeets eine Schwerstarbeit ist, die man sich aber "leisten können" muß!
 
 

02:08:99 Gottesgabe, Tag 19
 
Michaels Leserbrief, in dem er zu Recht darauf hinweist, daß es keine von der "eigentlichen" Welt verschiedene Online-Welt gibt, verdankt sich einem SPRACH-Problem, das ich bis jetzt nicht befriedigend lösen konnte. Da es öfter auftaucht, steht dieser Punkt auch im Editorial ("Real - oder wie?"), doch wenn ich über das medialisierte Dasein schreibe, tritt das Mißverständnis immer wieder auf.

Selbstverständlich sind die Online-Freunde ganz normale Menschen, das Geschehen, das sich über das Netz vermittelt, ist ohne gedankliche Verbiegung zum "Sozialen" zu rechnen. Wenn mich jemand ärgert oder erfreut, verursacht das entsprechende psychisches Reaktionen - ich bewege mich keineswegs im Glauben, mit "virtuellen Traumgestalten" umzugehen. Es war für mich auch nie reizvoll, Rollenspiele der Anonymität zu spielen, da der "Schauplatz" Netz keineswegs eine Theaterbühne ist, sondern ein Teil der "wirklichen" Welt.

Was ich meine, wenn ich sage, daß mir "die Online-Welt" phasenweise den Buckel runterrutschen kann, ist etwas anderes. Eine Sehnsucht nach dem Hier& Jetzt in seiner Gesamtheit. Statt dem wenig eingebürgerten "virtuellen Leben", dem "medialen Dasein", oder dem "Generieren von Zeichen und Bildern" fühle ich mich auch versucht, "Real Life" zu sagen - und weil DAS wieder das o.g. Mißverständnis bringt, will ich fast schon statt dessen "PHYSISCH" sagen - und sag' es dann doch nicht, weil ja jeder weiß, daß das "richtige Leben" sowohl physisch, als auch psychisch und geistig ist (ehem: Vater, Sohn, heiliger Geist, nachdem die große MUTTER abgedankt hatte).

Doch PHYSISCH als Bezeichnung für das, was der 'Online-Welt' fehlt, ist nicht ganz falsch. Zwar ist jede psychische Reaktion auch physisch und jeder Gedanke spielt sich im materiellen Gehirn ab - doch bleibe ich damit vor dem PC allein. Es ist ein himmelweiter Unterschied, ein Gespräch 'von Angesicht' zu führen, ein ganz anderes Ereignis, wenn ein Unbekannter hier den Schloß-Bereich betritt, als wenn der digitale Briefkasten täglich Nachrichten von Freunden und Fremden enthält. Eigentlich ist DAS gerade das Interessante an der medial vermittelten Kommunikation: man kann dem besser nachspüren, was fehlt, und es so besser bemerken, als eigene Qualität schätzen, unabhängig von Interessen und Symphatien.

In Berlin hatte ich praktisch nur die Wahl zwischen verschiedenen Medien. Wenn ich vom PC genug hatte, las ich ein Buch, schaute in eine Zeitung oder schaltete den Fernseher an. Selbst der Spaziergang im Park oder der Stadtbummel konfrontiert laufend mit "Bedeutung", mit den Zeichenwelten der Plakate, der Klamotten und Marken. Die Elemente, Tiere und Pflanzen kommen praktisch nicht vor - alles was ist, ist so, weil es Menschen so gemacht und damit etwas gemeint und gewollt haben. Unter Menschen ist das Mediale und Virtuelle immer schon da - und doch ist es noch ein Unterschied, jemanden physisch zu erblicken, als nur von ihm zu lesen. Es vermittelt sich wesentlich mehr, als das bewußt Gemeinte - ob man es nun bemerkt oder nicht.

John P. Barlow, der Visionär des Cyberspace, ist vom Rinderzüchter zum Netizen geworden. Derzeit scheint es mir möglich, den Weg auch umgekehrt zu gehen: hinter dem Schloß-Wäldchen liegt eine riesige, etwas feuchte Wiese, die offenbar niemandem nützt, nur der Vorschrift halber wird sie einmal im Jahr gemäht. Die alten und neuen Heuballen liegen herum und faulen vor sich hin. Sicher wäre die Wiese unproblematisch zu pachten - wär' es nicht toll, darauf einige schottische Hochlandrinder anzusiedeln?

Gestern kam uns die Idee und meine Recherchen im Netz ergaben, daß es sich hier um die unkompliziertesten Rinder aller Zeiten handelt. Sie können ganzjährig draußen bleiben, weiden die Wiese ab, bekommen ihre Kälber ohne Hilfe und halten Temperaturen bis -20° locker aus. Und sehen sie nicht erstaunlich aus? Richtige Urviecher - so ungefähr das krasseste Gegenteil einer virtuellen Märchengestalt!

Mal sehen, ob sich diese Idee verdichtet. Ich hab' schon mal an zwei Highlander-Züchter gemailt ....


 
 

01:08:99 Gottesgabe, Tag 18
 
Unter Briefe steht ein neuer Leserbrief von Michael Charlier. Etwas später schreib ich dazu....
 
 

31:07:99 Gottesgabe, Tag 17
 
Die Tage sind hier ausgesprochen lang. Nicht nur die sommerliche Helligkeit bis 22 Uhr macht diesen Eindruck, sondern auch, daß ich seit dem Umzug abends nicht mehr am PC arbeite. Zuerst war es die reine Erschöpfung, die Luftveränderung: soviel Sauerstoff ist der Stadtmensch nicht gewohnt!

Mittlerweile ist es mehr als das: eine Lustlosigkeit, mich auch noch abends der Online-Welt zuzuwenden, Zeichen und Bilder zu generieren, anstatt physisch und psychisch etwas "Richtiges" zu erleben. Es scheint, als erzeuge die Abwesenheit der städtischen Menschenmassen eine Sehnsucht nach Sozialem, wogegen der tägliche Anblick 1000er Unbekannter das Gefühl hinterläßt: Wie schön, daß ich wenigstens in meinen vier Wänden allein und ungestört bin! Ich bin gespannt, ob in der dunklen Jahreszeit die Lust auf "Medien" wiederkommt. Und heut' abend gucken wir mal, ob es in Schwerin ein "Nachtleben" gibt...:-)

Gleich fahr' ich zu PLAZA, Gartenstühle kaufen. Konsumtempel auf der grünen Wiese sind ja hier die einzigen 'kulturellen Veranstaltungen', die jederzeit zur Verfügung stehen. Mal sehen, ob es dort mehr Salatsorten gibt als "Grüner" und "Eisberg" - die Läden im Nachbardorf sind salatmäßig deutlich auf dem Stand der späten 60er.

Das Unbewußte ist ein träges Wesen. Es registriert Veränderungen zunächst ausschließlich im Sinne alter Gewohnheiten. Ein radikaler Wechsel, wie der von der Metropole aufs Land löst erstmal garnichts aus, wird wahrscheinlich schlicht als "Urlaub", "Ausflug", "Besuch" oder ähnliches wahrgenommen. Erst mit der Dauer des Hierseins kommen die Wirkungen in der Tiefe an: Ich rechne nicht nur mit angenehmen und bestätigenden Reaktionen, immerhin hab' ich eine solche Umstellung seit Jahrzehnten nicht erlebt. Es wäre schön, jetzt ein paar Tage "frei" zu machen, kein Buch, keine Zeitung, kein PC - um die Dinge auf die Spitze zu treiben, bzw. die untergründigen Wirkungen des Wechsels bewußt kommen zu lassen.

Das Webdiary ist ein kleiner Ersatz dafür. Eine ruhige Stunde am Tag, in der ich über die Dinge, wie sie sind, nachSINNE.
 
 

30:07:99 Gottesgabe, Tag 16
 
Ich muß mir darüber klar werden, wie und wohin es beruflich weitergeht. Auf den ersten Blick bin ich erfolgreich - Webdesign- und Konzeptioning-Aufträge kommen "von selbst", und zwar mehr, als ich leisten kann. Fast blicke ich mit Sehnsucht zurück in die Zeit, als dies nur eine Möglichkeit unter mehreren war und ich in meinen privaten Seiten völlig aufging. Das Cyberzine Missing Link, die Experimente mit Glück, dazwischen mal eine Art CD-Rom-Kunst wie Orkus oder Seiten zum Thema Mensch&Technik wie IMD-RE und [Internet][Computer][Man], die Versuche, das Zusammenwirken mehrerer in Webgesprächen interessant zu moderieren - ach, was waren das unbeschwerte Zeiten!

Heute treibt mich das Problem vieler Freiberufler um: Zu wenig Zeit! Nicht nur zu wenig Zeit, um wie früher viele eigene Projekte zu entwickeln, sondern auch zu wenig Zeit, um die Aufträge locker und stressfrei abzuarbeiten. Dafür kann ich jetzt immerhin in einem Schloß leben, mitten auf dem Land und in einer Lebensqualität, wie sie über Einfamilienhäuser weit hinaus geht (wo gibt es schon eine soooo große Wiese, einen Wald mit alten Bäumen und Gestaltungsspielraum noch und noch?).

Doch momentan komm ich kaum raus. Die Endphase einer Buchpräsentation gestaltet sich hektisch und unvorhergesehen aufwendig. Und zugunsten dieser relativ kleinen Sache schiebe ich ein Auftragsvolumen vor mir her, das mir das nächste halbe Jahr finanziert. Kaum ist einen Moment Ruhe, trifft die Anfrage eines alten Auftraggebers aus der Umweltszene ein: "Wann kannst du das Energie-Projekt zeitlich eintakten?"

Tja, das zeitliche Eintakten ist momentan echt aus dem Lot! Lange war es so, daß ich zu jeder Anfrage "Ja" sagen konnte, ohne Gefahr zu laufen, mich zu übernehmen. Denn meist stellte sich heraus, daß sich aus drei Anfragen und Vorgesprächen maximal ein Auftrag konkretisierte - jetzt ist das anders. Wer sich bei mir meldet, will wirklich was von mir - und die "alten" Auftraggeber bleiben am Ball und generieren ein Projekt nach dem anderen.

Bezüglich der Web-Arbeit treibt mich auch schon länger der Gedanke um, dabei nicht stehen zu bleiben. Vielleicht macht es mir ja irgendwann keinen Spaß mehr, immer wieder neue Webprojekte für andere zu gestalten. Genauso, wie man nicht endlos Lust hat, neue Gärten anzulegen - man will auch mal einen wachsen sehen und Früchte ernten.

Das ist die Frage nach dem eigenen kommerziellen Projekt. Seit einigen Monaten entwickle ich - zu sporadisch, immer, wenn Zeit bleibt - einen Schulungsbereich. NetKnowHow wird gebraucht, das erlebe ich täglich dringlicher. Und Anfänger sind heute meist damit überfordert, sich die Infos aus dem Netz selbst zusammen zu suchen und eigenständig zu lernen. Es gibt sie zwar noch, die engagierten Autodidakten - aber die Masse der ins Netz strömenden Neulinge hat weder Zeit noch Lust, so tief einzusteigen.

So sitze ich also vor einem Berg Arbeit und manchmal ist mir alles zu viel. Dann geh' ich raus, leg mich auf die Wiese und schaue in den Himmel. Oder laufe ein Stück eine der drei Alleen entlang, die aus dem Dorf hinaus führen, schaue in den unverstellten Horizont, wo vereinzelte Megamaschinen brummend die Ernte einsammeln. Und binnen Minuten stellt sich die innere Distanz wieder her, aus der herauszufallen zum Schlimmsten gehört, was ich im Leben kenne.
 
 

28:07:99 Gottesgabe, Tag 14
 
So ist das Leben: Gestern noch hatte ich in dieses Diary den Satz geschrieben: "Nie würde ich einen Rasen anlegen und pflegen.." und kaum zwei Stunden später hat mich mein Lebensgefährte überzeugt, daß der meterbreite Beetstreifen direkt ums Haus am besten mit Rasen zu bepflanzen sei, aufgelockert durch einige wenige markante Pflanzen, die so viel besser in ihrer Gestalt zur Geltung kämen, als inmitten eines wildes Gestrüpps aus Ackerschachtelhalmen und anderem Spontangrün.

Und wo er recht hat, hat er recht: schon jetzt sehen die großen Farne inmitten der umgegrabenen und begradigten Erde sehr viel besser aus. So ein bißchen ZEN-mäßig (...bis die Hunde drübertoben - der Rasen ist also unverzichtbar! :-)

Wenn ich so durchs Dorf wandere, bietet sich das in Deutschland West wie Ost bekannte Bild: wunderschön gepflegte Häuser, blühende Gärten, Springbrunnen, Gartenskulpturen (praktisch KEINE Gartenzwerge!) und hie und da Gemüse- und Salatanpflanzungen. Gegeneinander sind die jeweiligen Areale durch Hecken und Zäune abgegrenzt, oft wacht ein Hund über das Anwesen (darüber kann ich nicht mehr spotten, seit unser Auto fast geklaut worden wäre, weil es am Ortsrand stand, völlig außerhalb sozialer Kontrolle).

Das Schloß fällt heraus aus dieser ganzen Anlage. Es bildet den Abschluß des Dorfes nach Norden hin, weder links noch rechts noch dahinter gibt es Anlieger, die direkten Einblick in den Schloßbereich hätten. Wir wohnen sozusagen "außerhalb", wenn auch der Platz vor dem Schloß früher funktional ein zentraler Dorfplatz war.

Nachbarschaftliche Konflikte könnten also - schon räumlich bedingt- nur zwischen den Mietern im Schloß auftreten, die allesamt "Zugezogene" sind und insofern im selben Boot sitzen. Die Wohnsituation ist ja recht ungewöhnlich: ein riesiges Arreal aus Wald, Wiese, potentiellen Gärten, alles ohne Abgrenzung von "Mein" und "Dein", und nur wenige Mietparteien, die - anders als in der Großstadt - nicht automatisch in der Anonymität der grossen Masse versinken. Doch bin ich optimistisch: mein Focus ist die Arbeit übers Netz, nicht irgendeine konkrete Gestaltung im Schloßbereich. Soll doch jeder machen, was er/sie mag - auf meiner Website bin ich schließlich Königin, das reicht mir völlig aus! :-)

Werten & Vergleichen?

Wenn ich in diesen ersten Wochen auf dem Land die Schönheiten preise, die Luft lobe, die Natur begeistert schildere, so will ich damit nicht die Vorteile und Wunderwerke der Stadt heruntermachen. Lange 45 Jahre lang waren Städte für mich der einzig mögliche Aufenthaltsort, an dem man leben kann. Der Lärm, die dicke Luft, die oft mißlaunig oder agressiv wirkenden Menschenmassen, nicht einmal die deutschlandweit bekannte Miesepetrigkeit der Berliner konnte daran etwas ändern.

Es ist nicht besser auf dem Land, es ist anders. Jedem Vorteil, der gegenüber der Stadt herausragt, steht auch ein Nachteil zur Seite. Zum Beispiel die "gute Luft": Gestern fuhr ich zum Einkaufen ins Nachbardorf und auf zwei Kilometern stank es ganz erbärmlich nach Schweinescheiße! (Offenbar ist jetzt die Zeit, wo sich die Bauern nach dem Abernten der Felder der Gülle entledigen). Wo in der Stadt das Elend in vielen Gesichtern, die Ignoranz, die Einsamkeit, das Konkurrieren um jeden Preis unübersehbar ist, tritt auf dem Land dasselbe in Erscheinung, jedoch zuvorderst im Reich der "Natur", der Pflanzen und Tiere, die vom Städter gern romantisiert werden. Da herrscht der Kampf aller gegen alle, ganz unverstellt, und man macht sich zwangsläufig Gedanken, inwieweit sich Menschen eigentlich davon unterscheiden.

Ich bin nicht hierher gezogen, um ein Paradies zu finden, erwarte nichts dergleichen. Es war nicht einmal ein Entschluß im üblichen Sinn, es hat sich locker ergeben. (Ohne die Einladung unserer Freunde, denen das Schloß gehört, wären wir nicht gegangen). Doch seit Jahren fühle ich ein immer stärkeres Bedürfnis, den Elementen näher zu sein, nicht nur "zu Besuch", als sporadischer Tourist. Und je weniger ich von anderen, den Mitmenschen, der Gesellschaft, vom Sozialen allgemein erwartete, desto spürbarer ist dieses Bedürfnis. Auf die Frage: "Was würdest du bedauern, wenn du jetzt stirbst?" kam die Antwort täglich klarer: Daß ich nicht inmitten von Wiesen und Wäldern, unter Sonne, Regen und Wind gelebt, sondern meine Tage fast ausschließlich in Häuserschluchten verbracht habe!

Der jährliche Exodus von Millionen an irgendwelche Strände dieser Welt kommt aus dem gleichen Bedürfnis. Wenn ich im Wald stehe und einen alten Baum ansehe, die Rinde anfasse, dann ist in mir eine Resonanz, die ich kaum in Worte fassen kann. Etwas in mir IST dieser Baum, etwas in mir IST die Wespe, die herumfliegt.

Ich erkläre es mir als Erbe der Urzeit, als Gedächtnis der Zellen, als Erinnerung an alle Entwicklungsstadien, die wir seit der Amöbe, ja seit dem Sternenstaub des Urknalls durchgemacht haben, bevor wir erreichten, was wir heute sind: PC-User, die sich wesentlich über Zeichen und Bilder mit der Welt in Beziehung setzen.
 
 

27:07:99 Gottesgabe, Tag 13: Stadt, Land, Toleranz?
 
"Du verwirrst mich", schreibt Jan aus Essen, und weiter:

Wie, so frage ich mich, kann es Sinn machen, sich aus der Privatsphäre einer großen Menge in eine kleine zu begeben, in der jeder jedem über den Gartenzaun schaut? Hast du Erfahrungen mit der Toleranz auf dem Land gemacht? Alles, was ich bisher vom Land mitbekam, ging gegen mein ungewöhnliches Erscheinungsbild, gegen mein Verhalten (soweit es nicht in Erwartungen passte) und gegen mein Wesen.

Vor 20 Jahren hätte ich genauso geschrieben und meine wenigen damaligen Erfahrungen waren dem entsprechend: intolerante Dörfler, die den Zugezogenen über den Gartenzaun in die Suppe spucken! Auch Erfahrungen vor ein paar Jahren, mit ausgewanderten Deutschen in der Toskana waren eher noch schlimmer, da ging es mit ganz anderen Kalibern zur Sache, mancher mußte gar um Leib und Leben fürchten, von Idylle keine Spur!

Daß ich heute in ein 150-Seelen-Dorf ziehe, ohne solche Einflüsse wirklich zu fürchten, hat innere und äußere Gründe.

Einmal ist das Ding mit dem "Erscheinungsbild" heute ein anderes. Ich erinnere mich gut daran, daß ich meine Optik früher als bewußtes Absetzen gegenüber dem Mainstream verstand, Klamotten und Outfit als Botschaft: "Auf Euch hab ich keine Lust. Ich bin ANDERS!" Mit dem WESEN hat das wenig zu tun, im Gegenteil, es ist allermeist Ausdruck des traditionellen Generationenkonflikts, in dem den Alten und Etablierten gezeigt werden muß, was Sache ist!

Mit den Jahren schleift sich dieser Impuls ab. Je mehr mensch dazu kommt, wirklich ein eigenes Leben zu leben, durch Versuch & Irrtum immer neu herauszufinden, was das "eigene" denn sein mag (und dabei festzustellen, daß es verdammt wenig wirklich "eigenes" gibt - wie auch?) - umso unwichtiger wird das bewußt generierte Unterscheiden von anderen. Was wirklich ANDERS ist, braucht keine äußere Stütze, und was NICHT anders ist, erst recht nicht, oder?
(Tatsächlich lebe ich klamottenmäßig schon immer, von 1970 bis heute, im Mainstream meiner Generation: Varianten von Jeans und T-Shirt. Und damit fällt man heute nirgendwo auf, nicht in der Stadt und nicht im hinterletzten Dorf).

Die Kleider sind nur Beispiel für vieles, was äußere Unterschiede angeht: Was hängt schon daran, daß ich ein altes Auto fahre, daß ich noch immer keine Schränke mag (jetzt, wo richtig Platz ist, kauf ich mir einen..), daß ich keinen RASEN anlegen und pflegen würde oder daß ich heute lieber früh morgens als nachts arbeite? Das ist alles völlig unbedeutend für andere und für mich ist es nur Ausdruck aktueller Befindlichkeit, jederzeit änderbar, wenn sich die Bedingungen ändern, nichts von "Wesen".

Und wo nichts ist, kann auch ein Dörfler mit "Erwartungen" nichts in Schwierigkeiten bringen. "Sie machen das anders? Interessant! Vielleicht probier' ich es bei Gelegenheit einmal aus....".

(Zu den äußeren Umständen vielleicht morgen....)
 

 
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© 1996-2000 Claudia Klinger
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