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Beim Bäcker - Kommt denn keiner mehr vorbei?
von
Hans-Peter Müller Was war denn da passiert?
Er war fast ein Jahr unterwegs gewesen, hatte die Gegend lange nicht mehr aufgesucht, in der er so manches Mal an dem kleinen Bäckerladen vorbeiflaniert war; er sah nachdenklich, daß kein Leben mehr in diesem Laden herrschte. An dem Zettelkasten mit den wunderschönen, witzigen, romantischen oder frech-forschen Geschichten hingen die gleichen, die er noch von damals kannte; keine einzige neue Story…

Welch ein Unterschied zu damals: in nahezu wöchentlichen Abständen hatte irgend jemand einen neuen Farbtupfer hinzugefügt; er dachte mit versonnenem Lächeln daran zurück, daß ihm diese Geschichten Mut gemacht hatten: nämlich (zum ersten Mal) sich zu „veröffentlichen"; und eigene Beiträge beizusteuern, im wahrsten Sinne des Wortes aus sich heraus zu gehen; also jene Energie fließen zu lassen, die Kreativität wie Erotik vielleicht am meisten ausmacht…

Welch ein Unterschied zu damals: immer wieder waren neue, interessante Menschen aufgetaucht, die eine oder andere Geschichte hatte ihn sogar auf den Autor bzw. die Autorin neugierig gemacht; er hatte versucht, sich vorzustellen, wie er oder sie wohl aussehen würde, welches Leben sie führten, welche Träume sie wohl hatten; war bisweilen sogar versucht gewesen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen; also jene Energie fließen zu lassen, mit der man sich näher kommt…

Er setzte sich auf jene Parkbank gegenüber, in der ihm sein Wachtraum begegnet war… und ertappte sich recht bald dabei, daß er unbewußt auf die Zauberfee wartete, die ihm ein schönes Erlebnis schenken möge… Es tat sich nichts.

Er stand auf und schlenderte die kleine Straße entlang, pfiff sich ein Liedchen, das ihm gerade eben in den Sinn gekommen war… „You can't always get what you want..." von den Stones. Wie er gerade auf diesen Song gekommen war?

„Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!", schoß ihm durch den Kopf. „Was soll es, wenn Du Dich wunderst, warum die anderen nichts mehr schreiben, warum keiner mehr hingeht in diesen witzigen Treffpunkt: davon passiert auch nichts. Hänge nicht herum - sondern wieder eine Geschichte ans Pinnbrett; oder mach' Bekannte aufmerksam, die diesen Bäckerladen noch nicht kennen… man müßte glatt ein wenig Werbung machen… - aber wie?"

Hinter seinem Rücken perlte ein amüsiertes Kichern; erst da wurde er gewahr, daß er die letzten Sätze halblaut vor sich hingesprochen hatte. Er fuhr, halb erschrocken, halb neugierig herum - und sah ins Leere! Abermals dieses leise Girren. Aus einer undefinierbaren Richtung. „Gib's auf!" „Wer bist Du?"
„Die, die Du suchst!"
„Zauberfee?" stotterte er ungläubig.
„Nein. Ich bin das, was ihr Erotik nennt!"
„Habe ich Dich gesucht?"
„Sonst wärest Du wohl kaum zum Bäckerladen zurückgekehrt."
Wenn sie recht hat, hat sie recht.

„Kann ich Dich etwas fragen?", spann er nach einer längeren Pause den Gesprächsfaden weiter.   „Immer. Aber ich gebe nicht immer eine Antwort."
„Warum warst Du nicht mehr hier? - Man spürt es: Bäckerladen und Pinnbrett sind schöner, liebevoller denn je gestaltet, eine einzige Einladung; und dennoch nichts Neues."
„Ich bin nie da, wo Ihr mich haben wollt; oder wenigstens nicht immer. Ich komme und gehe, wann und wohin es mir paßt. Das ist zumindest der eine Grund."

„Und der andere?"
Schweigen.
Er ließ nicht locker: „Und der andere?"
„Schau Dich an..."

Betroffen ging er in sich. Und realisierte in diesem Augenblick mit besonderer Schärfe, was er im vergangenen Halbjahr des öfteren (erfolgreich) verdrängt hatte: er hatte sich ein wenig hängen lassen; seinen Bauch „zierte" ein leicht schwammiger Ansatz (den er halb scherzhaft „Sitzring" getauft hatte: er hatte sich sowohl bei der Arbeit als auch in der Freizeit kaum noch bewegt; und das nicht nur körperlich...); seine Kleidung ließ den letzten Pfiff vermissen; hätte er einen Spiegel zur Hand gehabt, so wäre ihm auch aufgefallen, daß seine Augen nicht mehr viel Glanz ausstrahlten.
Mehr noch: er hatte, voll und ganz in seiner (sicherlich interessanten!) Arbeit aufgehend, alles andere aufgeschoben - und aufgehoben (und bemerkte nun, daß er gar nicht mehr wußte, wohin er es verlegt hatte...).

In einer raschen Bilderfolge entdeckte er, daß er seine Sinnlichkeit hatte abstumpfen lassen; er mußte schon lange suchen, bis er ein paar kümmerliche Ereignisse aus seiner Erinnerung hervorkramen konnte, in denen er sich hatte verzaubern lassen; oder sich Mühe gegeben hatte, jemand anderen (oder eine Tätigkeit) zu verzaubern.
Und ganz konkret: wann hatte er eigentlich zum letzten Mal Hand an sich gelegt - und das auch noch liebevoll? Wann hatte er eigentlich zum letzten Mal sich bemüht, wirklich geöffnet zu sein für jemand anderen - ob von Seele zu Seele, oder von Haut zu Haut?

„Siehst Du," hauchte sie leise, mit einem selbstzufriedenen Unterton. Ihre Stimme hatte einen Klang, der ihm einen herrlichen Schauer über den Rücken jagte: wie die leise Berührung einer Frau, der Du beim Tanzen ein wenig näher kommst. „So kommen wir uns schon ein wenig näher..." Er kam sich vor wie ein Pennäler, der auf sein erstes Rendezvous wartet: schweißige Hände, pochendes Herzklopfen…
„Gefalle ich Dir denn nicht mehr?", fragte sie kokett (ihrer Wirkung sehr wohl bewußt).
„Oh, doch, doch...", stotterte er verlegen.
„Und warum habe ich so lange nichts mehr davon bemerkt?" (Fast schien es, als spürte er den leisen Hauch ihres Atems in seinem Ohr; ein köstliches Kitzeln...)
„Ich, ich dachte vielleicht..., daß Du..."; so sehr er sich mühte: er brachte keinen vollständigen Satz mehr zustande…
„Daß ich Dich von der Arbeit ablenke," vollendete sie mit gelangweiltem Unterton sein verlegenes Gestammel. „Und daß es mit mir auch nicht immer das wahre Glück auf Erden ist: daß ich sogar manchmal, im Alltag zumindest, langweilig sein kann?"
„Ja.", murmelte er trotzig in sich hinein.
„Ach, und Deine Arbeit ist nie langweilig? Oder die Fernsehsendungen, die Du Dir zur Entspannung reinziehst? Oder die fruchtlosen Debatten mit Deinen Kollegen über Euren Chef? Oder Deine endlosen Versuche, aus Deinem PC noch ein wenig mehr an Performance herauszukitzeln?" „Schon. Aber das ist ja was anderes."
„Dummkopf. Kein bißchen klüger als alle anderen. Die Langeweile sucht Euch nicht heim wie eine schleichende Seuche: Ihr selbst seid die Langeweile; und wenn sie Euch anödet, wollt ihr krampfhaft ein Erlebnis, das Euch von ihr befreit: einen Film, ein erotisches Bild, eine Geschichte; am besten noch eine Zauberfee - oder einen Magier, je nach Neigung und Geschlecht… Hier, im Bäckerladen (oder wo auch sonst immer), findest Du genau so viel von mir, wie Du zu geben - und aufzunehmen bereit bist."
„In letzter Zeit also ziemlich wenig," lachte er auf.
„Du sagst es."
„Aber das liegt doch nicht alleine an mir."
„Nein. Du bist - im wahrsten Sinne des Wortes - passives Mitglied einer schweigenden Mehrheit. Aber: ändert das was?"

Er fühlte sich auf einmal so leicht; sein Herz ging ihm auf: als säße er hier mit einer Frau, die er schon lange begehrte - und hätte soeben gespürt, daß sie seine Gefühle erwiderte…

Mit einem Ruck stand er auf und nahm sie an der Hand: „Komm, laß uns losziehen; irgendwohin, unter Menschen. Vielleicht finden wir etwas, das uns durcheinanderbringt: ein schönes Gespräch, ein paar Beobachtungen, vielleicht sogar mehr..."

„Vielleicht? Vielleicht auch nicht. Aber einen Versuch ist es immer wert."

copyright Hans Peter Müller, Juni 1998 

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