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Musik?

 

30:01:00 American Beauty

Gestern war ich im Kino: "American Beauty" ist ein so herzergreifender Film, daß man die ganze Zeit zwischen Lachen und Weinen schwankt. Er handelt vom Familienvater (Kevin Spacey), der plötzlich aus dem erstarrten Leben seiner amerikanischen Vorstandt-Existenz erwacht und sein Leben völlig umkrempelt, dadurch seine Frau und seine Tochter schwer irritiert, seinen Job an den Nagel hängt, anfängt zu kiffen und seine Muskeln zu trainieren. Kurzum, er ist verliebt, doch ist das nur der äußere Anlaß für sein Erwachen aus dem tiefen Schlaf der Routine, die die Menschen zu lebenden Toten macht.
 
Um mir ein paar zusammenfassende Worte zu ersparen, wollte ich eine Rezension aus dem Web hier verlinken. Dabei ist mir aufgefallen, wie oberflächlich diese Rezensionen sind: keine hat auch nur ansatzweise die spirituelle Dimension dieses Films bemerkt, lediglich der Fun-Faktor, die sexuellen Verstrickungen und der Sarkasmus werden besprochen. Mich hat der Film sehr berührt, gerade auch als amerikanischer Film. Man verliert ja leicht den Glauben, daß in den USA noch irgendwo ein Bewußtsein existiert, daß es im Leben um mehr geht, als möglichst viele Dollars zu machen. "American Beauty" beweist das Gegenteil - und das mit einer Leichtigkeit in der Darstellung, die den Europäern einfach nicht möglich ist. "Weil sie noch nicht so abgedreht sind wie die Amerikaner", meinte mein Freund. Ich bin mir nicht sicher, ob es nur daran liegt. Elend, auch psychisches, ist ein Stoff, über den hierzulande einfach nicht humorig gescherzt werden darf - und wenn es doch geschieht, dann in der Manier von Harald Schmidt, wobei jegliches Mitgefühl den Bach runter geht.
 
Nach dem Kino waren wir noch essen - das Schweriner Nachtleben ist wirklich marginal, selbst Samstags sind kaum Leute auf den Straßen. In den Restaurants fehlen durchgängig gewisse Selbstverständlichkeiten, die in einer Metropole wie Berlin üblich sind und erst bemerkt werden, wenn sie fehlen. Etwa die Musik: entweder es gibt gar keine Musik oder sie ist viel zu leise. Zu leise, um ihren Sinn zu erfüllen, nämlich die einzelnen Paare und Gruppen gegeneinander abzuschirmen, so daß man nicht dauernd mithören muß, was am Nebentisch geredet wird. Auch fällt mir auf, daß die Gaststätten immer sehr herausgeputzt sind, so Richtung "festlich" - daneben gibt es nur Imbißstuben, reine Abfütterstellen für den schnellen Hunger zwischendurch. Offenbar ist das das "Provinzielle": Essen gehen als "festlicher Sonntagsausflug" gedacht - und nicht als Normalität in einer Welt, in der kaum einer mehr kocht.
 
Nachtrag zu "American Beauty": Eine Leserin empfahl eine bessere Kritik des Films - allerdings in englisch. Herzlichen Dank!

 

26:01:00 Kostenloser "Content" sein?

Nun dreh' ich schon den dritten Tag meine mittäglichen Runden - ein Stück aus dem Dorf raus, über einen Feldweg, dann wieder zurück, ca. eine halbe Stunde. Und staune immer noch, wie sehr mich dieser Spaziergang erholt, wie gut ich hinterher arbeiten kann und wie die Laune ins Positive ansteigt.
 
Trotz aller guten Laune konnte ich mich heute morgen nicht dazu durchringen, einer Anfrage von Online Today nachzukommen. Man wollte mich in einem Artikel verhackstücken: die MENSCHEN hinter den Webseiten usw. Nur ein bißchen mit dem Journalisten plaudern - und natürlich "eine Foto-Session über mich ergehen lassen", wie es der freundliche Mann am Telefon so treffend nannte.

Mit Grausen denk ich noch an das Spiegel-Special im Sommer. "Nie wieder" dachte ich mir nach dem ZWEI STUNDEN langen Foto-Termin! Ich hatte zugesagt, weil der Artikel von einem Bekannten geschrieben wurde, mit dem ich das Interesse am Thema Netzliteratur teile. Es hat mir wieder für Jahre gereicht...
 
Noch 1996, als mein Cyberzine Missing Link frisch im Web stand, war ich ziemlich fleißig, was die PR anging. Ich wollte es irgendwie wissen: Was ist möglich? Wie sehr und mit welchen Mitteln kann man die Zugriffe steigern? Also war ich auch bereit, die Medien zu bedienen und freute mich über die Erwähnungen. Allermeist waren das Artikel, die sich auf die Webseiten selber bezogen - neuerdings ist "der Mensch dahinter" gefragt. Und ich seh' nicht recht ein, warum ich als kostenloser Content zur Verfügung stehen soll, was schließlich meine Zeit (und oft auch Nerven) kostet. Alle Beteiligten verdienen dabei, nur ich nicht!
 
Wer gewohnt ist, im Web zu veröffentlichen, findet es auch langsam ein bißchen überarrangiert, in Printmedien oder gar im Radio/TV zu erscheinen. Schließlich weiß ich, wie schnell das im Papierkorb landet bzw. wie unglaublich schnell sowas aus dem Gedächtnis verschwindet. Dafür Zeit opfern? Da mach' ich doch lieber eine Website, die steht da, solange ich will und immer wieder kann ich Leute darauf hinweisen, wenn es mir wichtig erscheint.
 
Als "Mensch dahinter" bin ich maximal für die wichtig, die z.B. dieses Diary lesen - da bin ich nämlich mein eigenes Thema. Ansonsten ist PR eine Verkaufsmethode - und derzeit habe ich den "Massen" nun mal nichts zu verkaufen.

 

24:01:00 Körper ist alles

Gestern begann der Tag mit einer richtig guten Yoga-Stunde. Alleine ist es für mich eine Überwindung, damit anzufangen, doch zu dritt geht es wunderbar. Es war ein sonniger, klarer Tag, keine Wolken, alles verschneit, glitzerne Reflexionen tanzten vor den Augen, ganz wie im Märchen. Das hat mich motiviert, noch einen Spaziergang dran zu hängen, der zu einer kleinen Wanderung ausartete: 1,5 Stunden bis zum Vogelhotel am Dümmersee, dort Kaffee getrunken, dann wieder 1,5 Stunden zurück.
 
Danach fühlte ich mich zum Bäume ausreißen. Die ganze Trägheit und Verhocktheit der letzten Wochen war verschwunden, kein Schimmer von Unlust, schlechter Laune, Langeweile, einfach wunderbar. Für den Rest des Tages war ich dann so produktiv, wie sonst am ganzen Tag nicht!
 
Kurzum: Ich muß mich mehr bewegen, sonst verotte ich vor dem Monitor! Einfach, aber wahr. Habe mal gelesen, die Zellen, die ja wesentlich aus Wasser bestehen, neigen zur Fäulnis, wenn sich nichts regt: stehendes Wasser...! Deshalb hat ein Unternehmer mal einen Spezialstuhl für Sitzberufe entwickelt, der stets in einer kleinen, fast unmerklichen Schwingung schwingt. Genial - aber ich werde nicht wieder auf technische Lösungen setzen, sondern den Tag mit Yoga beginnen und mittags eine Runde drehen. Keine ganz große, aber immerhin genug, um nicht einzurosten.
 
Die ganze Zerstreutheit, die ständige leichte Nervosität ist weg, wenn der Körper seinen Auslauf hatte. Ich kann mich konzentrieren, bin ganz ruhig und fühle auch nicht diesen Wiederstand gegen kleine Aktivitäten im Haushalt.
 
Heute morgen hat es schon geklappt mit der halben Stunde Yoga. Schon verrückt, wie sehr doch alles, wirklich alles, von der körperlichen Befindlichkeit abhängt! Das Fühlen, das Denken, nichts bleibt unbeeinflußt von der Muskelspannung bzw. Entspannung, von der Atmung und vielem mehr. Wer nur sitzt und mit der Maus klickt, fühlt sich bald mitten in einem absurden Theater, das immer schwerer zu ertragen ist.
 
Ja, ich weiß das alles schon sehr lange. Es ist ein echtes Elend, wie schwer es mir doch fällt, meinen Alltag wirklich dauerhaft zu ändern. Passive Lustbarkeiten wie Sauna genügen einfach nicht, Bewegung muß sein, wir sind nun mal nicht geboren, um nur "im Geiste" zu leben.

 

22:01:00 Bildschirme fressen Menschen auf

Olivias Mail hat mir sehr gefallen, bringt sie doch das Problem auf den Punkt:

"Ganz übel wird es, wenn man sich bewußt entschließt, mal einen Abend freizunehmen, frei von der Arbeit und frei vom Computer und dann nicht weiß, was man eigentlich machen soll, weil alles, was einen reizen würde, nicht ohne den Computer geht."

Vielleicht wird es ja wieder anders, wenn das Equipment mal voll mobil geworden ist, wenn wir die Computer als Kleider und am Handgelenk tragen und unsere Umwelt voll von Interfaces steckt, in die wir nur rufen oder flüstern müssen, wenn wir etwas tun wollen. Dennoch wird das Leben auf diese Weise sicher nicht mehr die Intensität haben, die wir schon jetzt vermissen, weil letztlich alle noch so spannenden Aktivitäten körperlich gesehen nur als Herumschieben von Zeichen stattfinden.
 
Gestern hab' ich einen Teil des Abends mit Kindern verbracht, Karten gespielt, Ratespiele veranstaltet - es war wunderbar, lustig und liebevoll. Doch werden diese Kinder gerade mit aller Macht auf die Welt der Rationalität vorbereitet: WENN du im Diktat nicht mehr als fünf Fehler hast, DANN kannst du noch spielen gehen.... Ist ja verständlich, anders kann es nicht laufen, schließlich müssen sie lernen, sich in dieser Welt durchzusetzen, umgeben von logischen Systemen, die keine Gnade kennen.
 
Was ist Aufklärung? Der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, sagte Kant. Wobei das "selbstverschuldet" bedeutet, den EIGENEN VERSTAND nicht zu gebrauchen, obwohl man es doch könnte. Das war zu einer Zeit, als man große Erwartungen an die Vernunft hegte, letzlich die Befreiung von der Tiernatur des Menschen. Zu einem Denken kommen, das unabhängig ist vom Triebleben des Körpers, von den schwankenden Emotionen und Gefühlen - so beschreibt mein Lebensgefährte das Ziel der Aufklärung.
 
Und es wurde erreicht - allerdings nicht durch eine Überwindung der Tiernatur, sondern durch deren Marginalisierung: Mehr und mehr schieben sich schützende Interfaces zwischen die Menschen und zwischen uns und die Welt. Ein Formular kennt nur "ausgefüllt" und "nicht ausgefüllt", jeweils mit fest vorgegebenen Folgen, ohne Blick auf die Person und die Umstände. Programme rationalisieren die mühseligen Prozesse der Verständigung, E-Mail bringt uns viele Kontakte, allerdings mit gebremstem Schaum: Ich lese nur einen Text, den du geschrieben hast - und wer es schafft, prägnante Texte zu schreiben, kommt gut durch: "Nobody knows, that you are a dog", heißt es richtig und das Befreiungspotential dieser Verborgenheit ist gewaltig. Jedoch: ein Hund bleibt ein Hund, als Vorstandsvorsitzender wird er einfach nicht glücklich werden!
 
Einen Ausblick auf die nahe Zukunft gibt der Text Digital Home, der in der Liste Netzliteratur als spontaner Mitschreibtext entstanden ist. Die Rationalität der Geräte zu Ende gedacht - zum bösen, versteht sich.

 

21:01:00 Zuwenig Licht

Wenn ich morgens - oft VOR dem Lesen irgendwelcher E-Mails - meinen Web-Editor starte, fahre ich mit der Maus im Startmenü auf "HomeSite 4.0", wodurch drei Möglichkeiten "aufklappen". Die erste heißt "HomeSite 4.0 deinstallieren", erst die zweite ist der Programmaufruf. Seltsam, nicht? Mir kommt das wie eine kleine Aufforderung vor: Laß es lieber! Mach Schluß mit dem Ganzen....
 
Klar, wenn ich vor Tatendurst strotze, gehe ich darüber hinweg, doch derzeit versinke ich immer wieder in Motivationsproblemen. Liegt es am Januar? Der Lichtmangel? Oder bin ich ernsthaft des Webbens müde? Ich wüßte nicht, was ich statt dessen tun sollte und es ist doch, mit allem, was damit zusammen hängt, eine sehr abwechslungsreiche Tätigkeit! Schließlich bin ich kein Code-Sklave, der nur Projekte und Vorgaben anderer Leute umsetzt und ich betreibe auch immer wieder eigene Projekte, nutze die Freiräume des Netzes.
 
Mein Leben lang war ich überzeugt, Arbeit müsse Spaß machen - nicht nur der Erfolg, sondern die Arbeit selbst. Und nie nie nie mußte ich diesen Grundsatz aufgeben! Dafür nahm ich Zeiten der Arbeitslosigkeit in Kauf oder arbeitete in Bereichen, die andere Selbstausbeutung oder "prekäre Jobs" nennen. Selbst einen guten "Arbeitsplatz" (BAT 2!) verlassen, weil er keine Möglichkeiten mehr bot, meinen Interessen zu folgen: kein Problem! Auf diese Weise war ich immer sehr flexibel, lernbereit, häufte Kenntnisse über die Welt und was sie nachfragt, an. Ich bin für meine Arbeit- und Auftraggeber immer schon ein Teil der Lösung ihrer Probleme und niemals eine Last.
 
Und wie hat mir das gefallen, mittels des Netzes auf diese Weise selbständig zu werden! Meine ganz persönliche Kompromißlosigkeit (Spaß MUSS sein) zahlt sich seit längerem aus. Schließlich ist das Web ein derart schnell wachsendes Medium, daß jedes Festhängen am einmal Geglaubten eher stört. Webprojekte sind schnell erstellt, verglichen mit dem Aufwand, in der physischen Welt etwas aufzubauen - und schon kann man sich dem nächsten zuwenden! Langeweile dürfte da nicht aufkommen.
 
Nein, das ist es nicht. Wenn ich mal drin bin in einer Arbeit, bin ich keineswegs gelangweilt. Doch der Umstieg, das Switchen zwischen verschiedenen Projekten macht mir Mühe. Und wenn wenig Druck ist, nimmt das Formen an, die ich nur noch "Winterdepression" nennen kann. Dann fühle ich mich fast körperverletzt von der Vielfalt der Dinge, die auf mich einströmen. Die vielen Mails, die ich beantworten muß oder will, die ständigen organisatorischen Kleinigkeiten, der ewige Kleinkrieg mit der Technik, mit dem Papierkram - all das stößt mich ab und ich spüre Fluchttendenzen. Es gibt Tage, da lese ich lieber einen Roman anstatt zu arbeiten, tausche meine allzu kompliziert wirkende Welt gegen die simplen Abläufe eines spannenden Thrillers und liege den Großteil des Tages auf der Couch: Regression!
 
Manchmal denke ich: wenn ich etwas hätte, FÜR das ich viel Geld brauche, dann hätte ich eine dauerhafte Motivation. Das könnte ein kostenintensives Real-Life-Projekt sein, oder aber eine Tätigkeit, für die alles andere in den Hintergrund rückt, bzw. einzig Mittel zum Zweck ist. Manchmal beneide ich z.B. Autoren, die gute Geschichten schreiben. Geschichten, die man weiterlesen muß, Bücher, von denen man nicht loskommt. Das muß nicht literarisch-hochstehend sein, bewahre! Ich finde es großartig, etwas zu schaffen, was die Leute unterhält und zudem die Möglichkeit bietet, viel von sich selbst einzubringen - versteckt in den Figuren und Handlungen. Das schönste daran - so stell' ich es mir wenigstens vor - ist die Gelegenheit, in EINER SACHE völlig aufzugehen und sich nicht in 1000 Dingen zu verlieren.
 
Wenn ich sehe, in was für selbst geschaffenen Gefängnissen andere leben, sag ich mir immer wieder: Claudia, du hast es doch super-gut! Zum Beispiel der Programmierer meines Mailprogramms: seit vielen Jahren arbeitet er daran, hat großen Erfolg und zigtausend Kunden. Alle Jahre kommt ein Update mit neuen Features, die ich alle nicht brauche, aber egal, darum geht es hier nicht. Sondern: Er kann nicht aufhören, nicht plötzlich sein Programm auf den Müllhaufen der persönlichen Geschichte werfen und etwas ganz Neues anfangen. Allenfalls der Verkauf wäre drin, aber welcher Programmierer schreibt schon einen Code, den andere wirklich durchblicken?
 
Oder die Leute, die eine Firma aufbauen, VC-Kapital, etc. Wenn es ihnen nicht gelingt, binnen zwei drei Jahren an der Börse abzukassieren, sehen sie alt aus. Da gibt es keine Möglichkeit, aus dem Hauen & Stechen mitten drin auszusteigen.
 
Was ist nur mit mir los? Wie ich es auch betrachte, ich kann mir keine Veränderung vorstellen, die grundsätzlich ein für alle mal meine "Motivationsprobleme" beseitigt. Habe ich Vielfalt und Abwechslung, sehne ich mich nach Einfachheit und Konzentration. Stecke ich in EINER Sache allzu fest, fühle ich mich gefangen und will wieder weg. Etwas Neues beginnen und zum Erfolg führen - ach, das kenn ich doch schon....
 
Wenn ich soweit bin in meinen Betrachtungen, sehe ich ein: auf dieser Ebene ist kein Weiterkommen! Was ich suche, ist offenbar durch Veränderungen der Arbeit nicht zu erringen. Ich suche das, was ich auf dem Bahnhof Zoo (letzter Diary-Eintrag) in Berlin ganz kurz spüren konnte: Das "eigentliche Leben", ein ständiges Gewahrsein der Wahrheit unserer seltsamen Existenz. Etwas, das normalerweise nur im Schock, in der Todesangst oder durch einen großen Verlust ans Bewußtsein tritt. Es befreit von aller Langeweile und gleichzeitig von der Last, ständig etwas wählen zu müssen.
 
Darüber Texte zu schreiben, ist nicht die Lösung. Immerhin, heute bin ich wieder früher aufgestanden und bemerke: es wird schon sehr viel früher hell. Gerade ist die Sonne aufgegangen, es ist kalt und klar.

 

19:01:00 Unsichtbar

Berlin, Bahnhof Zoo. Die Schmuddelsszene ist längst an den entlegenen Hintereingang verdrängt, ich stehe in einer hellen Shopping-Mall. Bunte Läden und schicke Imbißstände laden den Reisenden zum schnellen Konsum, geschäftig eilen die Menschen durch die Halle oder stehen herum. Ja stehen, denn Sitzgelegenheiten gibt es nicht, könnten sich doch Unerwünschte dort niederlassen und die Optik stören. Damit die Stehenden wissen, wo sie hinsehen können, gibt es die übliche Video-Wand mit Wetterbericht und Infos der Bahn.
 
Ich verbringe die letzte Stunde meines 1-tägigen Berlin-Besuchs in diesen Hallen, kaufe Zeitungen, eine Fahrkarte, eine Wurst mit Brötchen und Senf, einen Bananensaft - doch damit ist mein Konsumpotential für jetzt ausgeschöpft, noch 20 Minuten bis zur Abfahrt, was tun?
 
Nichts. Mangels Sitz-Möglichkeit ist es mir verwehrt, mich in die gekauften Medien zu versenken, also schaue ich einfach zu, was so vorgeht. Auf dem Land sehe ich nie so viele Menschen und auch nicht so verschiedene, also sehe ich hin. Betrachte die unterschiedlichen Gesichtsausdrücke, die Klamotten, die Gangart, die Haltung, die Bewegungen der Leute. Das unverstellte Hinsehen aktiviert nach wenigen Sekunden eine innere Stimme: Man starrt doch die Menschen nicht einfach so an!
 
Ich registriere den Ordnungsruf und sehe einfach weiter hin. Vertiefe mich in die erstaunlich finsteren Augenbrauen eines braunhäutigen Dicken, der mühsam seine überquellende Reisetasche schleppt. Betrachte die Pickel im Gesicht eines blonden Mittdreißigers, der nervös mit dem Fuß wippt. Sehe den Geschäftsmenschen, geschniegelt vom Scheitel bis zur Sohle, der mit glasigem Blick in sein Handy spricht, folge mit den Augen zwei attraktiven Südländerinnen, die heftig aufeinander einreden. Hier und da stehen Uniformierte, Hände auf dem Rücken verschlungen, sie drehen sich langsam um sich selbst, damit ihnen nichts entgeht, was die Ordnung störten könnte.
 
Niemand sieht mich. Keiner bemerkt mein Starren. Die innere Benimmregel ist gänzlich überflüssig! Ich müsste schon laut schreien oder angfangen, zu tanzen, damit jemand auf mich aufmerksam wird. Alle sind vollständig in ihr "eigenes Ding" verstrickt, selbst die, die sich offensichtlich langweilen. Es ist, als wäre ich unsichtbar - ich BIN unsichtbar!
 
Normalerweise deprimiert mich sowas. Das Aneinander-vorbei-sehen stört mich, die Versunkenheit der Vielen in die je eigenen Ziele und Geschäfte erscheint mir als Wachschlaf, als automatenhaftes Wuseln einer Menschenmenge ähnlich einem Ameisenhaufen. Ich leide, wenn ich das erlebe, einen kurzen Moment lang, bevor ich selber wieder in den eigenen Schlaf verfalle.
 
Doch heute nichts davon. Ich bin UNSICHTBAR - und das ist wunderbar! Ein Gefühl absoluter Freiheit überkommt mich: Niemand sieht mich, niemand will etwas von mir, niemand bewertet mich. Wie sonst auch, interpretiere ich die Szene als Symbol für's Ganze, doch diesmal bedeutet sie etwas anderes: Es ist gut, wie es ist. Ich bin allein und kann mein eigenes Ding machen, keiner schert sich darum. Weder muß ich irgendwie loyal sein, noch braucht mich die Welt. Das, was ich bei mir und anderen als Wachschlaf interpretiere, sind in aller Regel Geschäftigkeiten, die dafür da sind, bemerkt zu werden. Aktivitäten, mittels derer jeder versucht, ein bißchen höher aufs Podest zu kommen, um endlich von Scheinwerfern angestrahlt und wahrgenommen zu werden. Und damit sind wir alle so beschäftigt, daß wir herumlaufen wie die Zombis und einander schon garnicht mehr ansehen.
 
Die halbe Stunde im Bahnhof zeigt mir: Es gibt ein Leben neben dem Kampf ums Dasein. Nämlich das Dasein selbst. Niemand hindert mich daran, den Daseinskampf auf das Nötigste zu beschränken und im Raum der Freiheit zu sein. Ein Raum ohne "Um-zu", ein Leben, in dem von Moment zu Moment bewußt bleibt, was für ein unglaublich seltsamer Zustand das "In-der-Welt-Sein" ist. Leben als Experiment, als Abenteuer mit dem gänzlich Unbekannten.
 
Hört sich gut an, denken ist leicht. Doch gleichzeitig wird mir klar, wie weit ich davon entfernt bin, diese Möglichkeit immer neu zu ergreifen. Ich weiß ja garnicht, was "mein Ding" ist. Weiß nicht einmal, wie ich es anstellen soll, es herauszufinden. Und weil da keine klare Gebrauchsanleitung vor mir liegt, versacke ich täglich neu ins Gewohnte, in die Vielfalt des Kampfs ums Dasein. Wundere mich zwar, daß Siege so hohl sind und die Wunschmaschine langsam leerläuft, doch packe ich es nicht, das zu ändern.
 
Täglich eine halbe Stunde NICHTS tun, so als erster Schritt, um wenigstens zur Besinnung zu kommen, genau wie auf dem Bahnhof - vielleicht gelingt mir wenigstens das?

 

17:01:00 Gift der Depression

Gerade hab' ich das erste Buch von Michel Houellebecq "Erweiterung der Kampfzone" fertig gelesen, kein Problem, es hat ja nur 150 Seiten. Weil mich die "Elementarteilchen" (Buch 2) so beeindruckt hatten, wollte ich auch die "Kampfzone" nicht auslassen. Und: Es ist furchtbar! Reines geistiges Gift, verbreitet von einem Depressiven zum Zweck des Überlebens, Selbsttherapie, die im gelangweilten Literaturbetrieb natürlich spitzenmäßig ankommt: Ein Shooting-Star, wie es heißt.
 
Der 30-Jährige Protagonist des Romans schlurft durchs Leben, ohne eine irgendwie geartete Beziehung dazu zu finden. Nicht zur Arbeit, nicht zu irgendwelchen Freuden des Alltags, natürlich hat er keine Familie und zu Frauen nur sehr selten unbefriedigende Verhältnisse. Aus all diesen "Nicht" generiert er ständig abgründig-philosophische "Wahrheiten" von großer Abstraktheit, im Konkreten kommt er ja nicht zurecht und flieht also in wilde Worte, die alles und jedes demontieren. Nichts bleibt, außer dem Selbstmord und selbst den schafft er nicht.
 
Das Buch kommt an: Wer kennt nicht solche Stimmungen? Wer fühlt nicht am Rande des Bewußtseins den stets lauernden Abgrund? Schließlich sind wir alle sterblich und können letztlich nicht darüber hinwegsehen. In jedem Augenblick fragt uns das Leben: Woher? Wohin? Wozu? Insbesondere dann, wenn es immer weniger Zwänge gibt, die uns vorgeben, was zu tun ist. (In der dritten Welt ist kaum jemand depressiv!)
 
Michel Houellebecq zelebriert aufs Neue die MidLife-Crisis und stilisiert sie zur Condition Humain. Ich sage das, weil ich mich sehr gut daran erinnern kann, bis ca. 36 auch diese trotzige Art gepflegt zu haben, eher agressiv als depressiv, doch das ist nur eine Frage des Temperaments, der "Säfte". Die Trotzhaltung ist es, die mich die Depression nicht als letzte Wahrheit anerkennen läßt. Die Weigerung, auch den eigenen geistig-psychischen Zustand zu verantworten und dafür zu sorgen, nicht völlig von der Rolle zu geraten. Nicht, um der Welt einen Dienst zu leisten oder gar eine Pflicht zu bewältigen, sondern für sich selbst: aus Liebe zu diesem Wesen, das nun einmal da ist, zum Dasein als Interface zwischen dem Erkennbaren und dem Unerkennbaren. Abgesänge wie "Kampfzone" mögen noch so sehr einen "Zeitgeist" auf den Punkt bringen: Ich tue mir gut, indem ich feststelle: das ist nicht MEIN Geist.
 
Natürlich ist diese Rede eine Verteidigung, genau wie der Körper per Immunsystem Angriffe abwehrt, so muß ich geistige Angriffe abwehren. Manchmal bin ich zu schwach dazu - DANN sollte man solche Bücher nicht lesen.

 

16:01:00 Listen-Leben...

In den letzten Tagen bin ich schreiberisch fremd gegangen: In der Liste Netzliteratur läuft eine derart interessante Diskussion, daß ich zum Diary gar nicht mehr gekommen bin. Ich hatte einen Kommentar zu Martin Walsers ZEIT-Artikel Selbstgespräche gepostet, der mich sehr beeindruckt hat. Obwohl ich keineswegs Walser-Fan bin, sogenannte "Großschriftsteller" sind mir schon seit den Zeiten des Deutschunterrichts nicht besonders nah. Walser beschreibt den Unterschied zwischen der "adressierten Sprache" der Öffentlichkeit und der persönlichen Sprache eines Schreibenden - auf eine so selbst beobachtende Weise, daß es fast klingt, als schriebe er ein Diary. Naja, heißt ja auch "Selbstgespräche"....
 
Das Thema hat gezündet - schließlich ist fast jeder gelangweilt vom öffentlichen Jargon der Politiker und Funktionsträger. Und auch die Art und Weise, wie dann die "Meinungsmacher" in den Medien einen Skandal machen, wirkt lange schon irgendwie komisch: Eine Art Schauspiel, bei dem die Rollen ab und an neu zugeteilt werden und die Emotionen & Entrüstungen so zelebriert erscheinen, wie der künstliche Nebel in einer Diskothek.
 
Die Frage nach der Möglichkeit authentischer Rede berührt mich - auch dieses Diary ist ja ein Versuch, auf eine Art und Weise zu sprechen, die weder in floskelhafte Urteile über dies und jenes, noch in bloßes Geschwätz über alltägliche Dinge des persönlichen Lebens abgleitet, die niemanden interessieren.
 
Eine Umfrage zur Netznutzung ergab vor ein paar Wochen, daß knapp die Hälfte aller User noch niemals ein redaktionell betreutes Medium aufgesucht hatten. Offenbar verbringen sie viel Zeit damit, in ganz anderen Ecken des Webs zu lesen und zu schreiben. Die Möglichkeit traditioneller "Meinungsmacher", über Massenmedien zu sagen, wo es lang geht, was man denken darf und was nicht, schwindet dahin - es gibt einfach zu viele Medien, als daß das "Herrschen" noch so einfach wäre. Einerseits ist das gut so, das selber-denken wird immer nötiger, die Freiräume der einzelnen Individuen wachsen - wofür sie allerdings genutzt werden, ist die Frage.
 
Wenn keine starke öffentliche Meinung mehr "zivilisierend" auf die Menschen einwirkt, kommt von rechts der Ruf nach dem starken Staat, nach mehr Recht & Ordnung, mehr Gesetzen und Gefängnissen. Andere denken über die gentechnische Veränderung des Menschenparks nach.
 
Doch stehen wir wirklich ganz im (wert-)Freien, wenn die Meinungsmacher an Macht verlieren? Ich denke nicht, es gibt nur nicht mehr die "eine Öffentlichkeit".
 
Sondern viele kleine Öffentlichkeiten, in denen ich hier und da - fluktuierend entlang an Interessen und Freundschaften - gleichzeitig Mitglied bin. Durch eigene Projekte generiere ich "eigene" Kleinöffentlichkeiten und auf all diesen Ebenen werde ich für andere sichtbar. Nicht als allzeit korrekte Meinungsinstanz, sondern in all meiner Widersprüchlichkeit, da sich eine "adressierte Rede" (siehe den Walser-Artikel) im lebendigen Netz nicht aufrecht erhalten läßt, selbst wenn man punktuell versucht, derart zu reden.
 
Mal angenommen, ich fasse dann an irgendeinem Punkt eine Meinung: "Man sollte jetzt dies oder jenes tun" was zugegeben selten vorkommt und vertrete das in "meinen" Kleinöffentlichkeiten. Dann hab' ich erfahrungsgemäß gute Chancen im Kampf um die sogenannte Diskurshoheit und kann u.U. andere auch zum Handeln inspirieren. Jedenfalls hab' ich bessere Karten als jemand, der z.B. aus Angst vor Datenjägern überall anonym bleiben will - und gute Karten auch verglichen mit allen, die lediglich allgemein-politisch agieren und keinerlei "Verschwimmen" zwischen öffentlicher und persönlicher Rede zulassen, bzw. versuchen. In der Werbeforschung weiß man seit langem: Das Wirksamste ist die Mundpropaganda! Alle anderen Werbemittel können im Vergleich dazu einpacken.
 
Und es gibt unzählige wie mich in unzähligen Kleinöffentlichkeiten, bzw. all dies wird mit zunehmender Medienkompetenz wachsen. Wenn dann etwas geschieht - mag sein, dass noch immer die ZEIT und die FAZ darüber schreiben, als hätten sie das Sagen - wird es das Ergebnis des kommunikativen Handelns dieser Kleinöffentlichkeiten sein. Man kann nicht wissen, was im einzelnen herauskommt, welche Teilnehmer sich wo eine kleine Diskurshoheit erringen, wie diese sich weitertransportiert und wie viele konkurrierende Meinungen nebeneinander laufen, bis auf einmal EINE zur Mehrheitsangelegenheit wird und sich durchsetzt.
 
Was warum zum "Attraktor" wird, läßt sich nicht voraussehen und nicht inszenieren, so sieht es auch die Chaos-Forschung, zum Ärger aller Macht-Akkumulatoren dieser Welt.
 
Dass das keineswegs weltfern ist, sieht man übrigens an der Börse: das ganze Hirnschmalz aller arrivierten Meinungsmacher ist oft binnen 1 - 3 Tage obsolet durch die Aktionen der Vielen. Solange die Aktienanlage noch ein Bereich für Spezialisten und Professionelle war, haben die Voraussagen halbwegs hingehauen - doch seit die "Massen" eingestiegen sind, sozusagen von der Wohnzimmercouch aus, sind alle völlig perplex über das, was abgeht....
 

 

12:01:00 Langsamer Anlauf...

Das Jahr fährt ganz langsam an und ich werde nicht aufs Gas treten! Zwar schleichen sich von allen Seiten kleine Pflichten an, doch ein größeres Vorhaben hat sich noch nicht gezeigt - außer dem eigenen, an dem ich dran sitze: Ein neues Cyberzine über das Publizieren im Web. Dem tun ein paar Tage Arbeit ganz gut!
 
Eine Fernsehproduktion will mich für einen immerhin öffentlich-rechtlichen Sender über das "Tagebuch-schreiben im Web" interviewen - werde ich nicht machen, doch mich wundert, daß diese Aktivität überhaupt immer wieder soviel Aufmerksamkeit genießt. Vielleicht existiert ja wirklich die Vorstellung, da breite jemand Dinge öffentlich aus, die vor Netz-Zeiten allein für die geheime Schublade bestimmt gewesen wären? Die Realität kann da nur entäuschen - zumindest, was dieses Diary angeht.
 
Doch selbst wenn es anders wäre: was gibt es denn schon noch, das einem anonymen Publikum den in der Schublade vermuteten "Kick" geben könnte? Nichts! Es gibt keine Geheimnisse mehr, alle menschenmöglichen dunklen Ecken und Absonderlichkeiten strahlen unterm Scheinwerferlicht, das 20.Jahrhundert hat ganze Arbeit geleistet. Der geile Blick aufs verborgene Böse geht ins Leere, denn das Böse ist nicht mehr verborgen, sondern langweiliger Mainstream. Es hat seine Glaubwürdigkeit, sich selbst als "Böses" verloren, ist allzu verständlich und banal geworden, immer noch "Böseres" wird verzweifelt gesucht, das noch einen Schrecken einjagen könnte.
 
Aktuelle Thriller zelebrieren neuerdings seltener das fantasievolle Menschen-Metzeln, so hab' ich jedenfalls gelesen. Sollte dem wirklich so sein, nehme ich das mal als gutes Zeichen, wenn auch die bloße Ermüdung nicht unbedingt etwas mit Besserung zu tun haben muß. Auch Sex ist ja eine unendliche Wiederholung derselben Erregungszustände.
 
Die Meldung: "Gunter M. aus K. speiste sonntags nur Baby-Augen an Broccoli-Mousse" bringt jedenfalls kaum noch jemanden in Wallung. Erst wenn es weiter heißt: "Im Knast schrieb er in sein Tagebuch: 'there is no free lunch'", ja, dann lohnt der Bericht wieder.
 
Der Philosoph Sloterdijk ist ja letzten Sommer mit seinem Vorschlag, große Geister über die gentechnische Verbesserung des Menschenparks nachdenken zu lassen, in die Skandalmaschine geraten. Doch was Denker nicht denken sollen, dürfen Literaten auf den Punkt bringen. Der Shootingstar Michel Houellebecq bringt in seinem Roman "Elementarteilchen" (unbedingt lesen!) eine radikale Lösung, an die sich Sloterdijk auch in mutigster Stunde nicht gewagt hätte: Durch Eingriffe ins Genom wird die Chromosomenteilung abgeschafft, Grundlage der geschlechtlichen Differenzierung und ebenso der Sterblichkeit. Neue Individuuen werden durch Klonen geschaffen, die Nach-Menschen sind geschlechtslos und unsterblich, frei von Tod und Werden - und sogar mit MEHR Möglichkeiten zur ehemals sexuellen Lust. Die Menschen sterben schnell aus, da sie den Neuen Wesen kulturell unterlegen sind, die brüder- und schwesterlich zusammenstehen wie vordem nur eineiige Zwillinge.
 
Houellebecq ist übrigens nicht wegen dieses unbedeutenden Schnipsels seiner Story faszinierend, sonst hätte ich sie nicht verraten.

 

09:01:00 Mail & Geschlecht

In den letzten 14 Tagen bin ich (fast) täglich meinen Impulsen gefolgt. Keine Brotarbeit, kein eigenes Projekt-Engagement - nichts von allem, was dem Fortkommen (wohin denn nur?) dient. Ein Glück, daß das möglich war, denn ohne solche Zeiten würde ich zur Mensch-Maschine, die nur noch Pflichten abarbeitet. Und ohne Bezug zum "Dasein ohne Ziel" ist zielgerichtetes Handeln die reine Maloche und letztlich gar nicht möglich.
 
Die Zeit zwischen dem 24.12. und dem 6. Januar war früher mal als "die zwölf heiligen Nächte" im Bewußtsein der Allgemeinheit. Zwar ist jetzt schon der 9., aber ich überziehe halt gern. Außerdem hat mir der Papierkram Unterbrechungen der Auszeit beschert, künftig lege ich das Steuerthema bestimmt in einen anderen Monat!

Seit ein paar Tagen bin ich in ein (u.a. auch) philosophisches Gespräch geraten - per Mail mit einer Berlinerin. Es hat sich einfach so aus einer sachlichen Anfrage ergeben, ist jedoch schnell zu vielen berührenden Themen vorgedrungen, Themen, die mich als reine Abstrakta schon lange nicht mehr bewegen, wie z.B. Ethik, Gleichberechtigung, Freiheit.
 
Natürlich bekomme ich ab und zu mal "philosophische Mails", angeregt durch die weit verteilten Seiten meiner jahrelang gewachsenen Weblandschaft. Doch ergibt sich daraus meist nichts weiteres, da sie in der Regel einen Punkt aufgreifen und einen Begriff abstrakt vertiefen wollen. Eine Tüte Argumente pro-Dies und kontra-Das, die mir nichts weiter sagt, als daß das Gegenüber "diskursfähig" ist.
 
Diskurs ist aber nicht mein Interesse. Es ist eine Täuschung, zu glauben, man könne durch Diskurs etwas klären. Zum einen gibt es den "reinen Diskurs" (=voraussetzungslose Auseinandersetzung zum Zwecke "reiner" Erkenntnis unter Berücksichtigung argumentativer Logik) nicht, außer vielleicht in der Mathematik und der naturwissenschaftlichen Forschung. Es stehen sich immer Individuuen mit konkreten, außerhalb der Wahrheitssuche gelagerten Interessen gegenüber. Andrerseits läßt sich alles argumentativ begründen - wie auch das gerade Gegenteil. Es kommt auf den Standpunkt an, wie es in ganzer Plattheit und Wahrheit im Volksmund heißt.
 
Wo eine/r steht, kann ich jedoch nur sehen, wenn ich mehr mitbekomme, als blosse Argumente, mehr als abstrakte logische Abwägungen. Erst wenn ich die Lebenswirklichkeit in den Blick nehme, kann ich mir zusammenreimen, was eine/r meint, wenn sie dies oder er jenes sagt, bzw. WARUM sie wohl so denken. Nicht umsonst gerate ich hier in den Versuch einer Geschlecht-bemerkenden Schreibe, denn die Dialoge mit Männern und Frauen sind unterschiedlich. Von Männern bekomme ich eher die abstrakte Sicht, die Philosophie, das Argument. Von Frauen das Leben, das tatsächlich-konkrete So-Sein. In diesem Sinne sind rein "männliche Mails" ' (die auch von Frauen kommen können) öde, weil ihnen alles Fleisch und Blut fehlt. "Weibliche Mails" (seltener von Männern, doch es gibt sie!) langweilen dagegen durch ihr häufiges Versacken im Konkreten, mensch vermißt hier gerade DIE Distanz, die bei den "männlichen Mails" nervt.
 
Glücklicherweise sind diese "Reinformen" nicht das einzige. Es gibt Grenzgängerinnen und Gränzgänger, Mischwesen, deren physisches Primärgeschlecht nur noch einen Anhaltspunkt unter mehreren bietet. Ich hoffe, daß das so bleibt, daß es mehr werden, daß nicht der an der Oberfläche feststellbare gesellschaftliche Rollback in Rollenschemata von "männlich" und "weiblich" diese Individuuen wieder verunmöglicht. Eine Gesellschaft, in der DIE MEHRHEIT die "Selbstfindung als Mann, bzw. als Frau" und die "Entdeckung des inneren Manns, bzw. der inneren Frau" endlich einmal hinter sich hat, vielleicht wär das mal was Neues?
 
Immer, wenn man anfängt, persönliches Erleben, eigene Vorlieben und Vorbehalte auf "die Gesellschaft" zu beziehen, tun sich Abgründe auf! So auch jetzt, denn mir fällt ein: es wird ja schon bald so sein! Faktisch herrschen heute schon DIE ALTEN - im aktuellen Wortsinn also die jenseits der 35, 40 oder 50. Und morgen werden womöglich die "richtig Alten" das Sagen haben, alles Leute, die weit fitter geblieben sind, als die Generation zuvor, immerhin Menschen, die schon aus Altersgründen die Dominanz ihrer Geschlechtlichkeit hinter sich haben. Ich mag mir jetzt nicht ausmalen, ob das eher gut oder furchtbar wird - brauch ich auch nicht, denn ich werde ja dabei sein.
 
Sofern mir nicht morgen der Himmel auf den Kopf fällt. Ich schreibe so vor mich hin und merke erst spät, wie weit ich mich in bloße Gedanken entferne. Morgen schon kann es mich erwischen und schon bin ich aus dem Spiel! Gut also, die Freude am Spiel nicht zu verlieren zugunsten von Vorstellungen über die eigene oder gar die "gesellschaftliche" Zukunft.
 
 

06:01:00 Weise Worte

Des öfteren bekomme ich E-Mail von Menschen, die es sicher gut mit mir meinen. Sie weisen mich darauf hin, daß ich mich hier im falschen Film bewege: alle Texte zu Themen wie "Wer bin ich?", alle Fragen nach dem "Woher-wohin-wozu?", nach "Sinn" oder nach übergreifenden Zielen seien obsolet. Nur das EGO stelle solche Fragen. Ein Beispiel:

Die Frage war wichtig. Die Erkenntnis, daß eigentlich das Ego gefragt hat in Verbindung mit der Erfahrung, daß es die transpersonale Liebe gibt, geben soviel Energie und Sicherheit, daß eine Antwort nebensächlich geworden ist. Das ist freilich eine Erfahrung, die mit Worten (mithin auch im Web) nicht mehr darzustellen ist. Doch gibt es Literatur, die anregen kann: "Die Rückkehr des friedvollen Kriegers" und "Die Erkenntnisse von Celestine". Romanhaft aufbereitet werden die Wahrheiten aus Bibel, Buddhismus, Psychologie, ... dem westlichen Menschen verdaulich dargeboten.

Wie schön für den westlichen Menschen! Und richtig: es gibt Erfahrungen, die sich im Web NICHT darstellen lassen, eine ganze Menge sogar. Außer in eben dieser abstrahierten Form, die der Schreiber praktiziert und die niemandem nützt. Ganze Bibliotheken widmen sich dem Unsagbaren, der Buchmarkt der letzten 20 Jahre quoll über von Versuchen, sich dem zu nähern, bzw. auch, damit Kasse zu machen. Manchmal mit den ulkigsten Mitteln und Methoden, manchmal mit Geschichten für das einfache Gemüt, die dennoch große Strahlkraft entfalten können (z.B. die unsägliche Fabel "Johannes").
 
Worüber man nicht reden kann, darüber soll man schweigen, meinte dereinst Wittgenstein. Ein Verhalten, das den "westlichen Menschen" in der Regel überfordert, "Kommunikation ist alles", so wird uns ja täglich ins Hirn gehämmert. Doch wohin führen solche Themen? Was bringen Predigten per E-Mail, Webseiten über das "Klatschen der einen Hand", oder gar "Diskussionen" über das Spirituelle in Mailinglisten und Newsgroups? Nichts außer jede Menge Streit über die "richtige Lehre" oder den Austausch von harmonischen Plattitüden. Am schlimmsten streiten die fundamentalistischen Christen in den USA, in DE dominiert das tolerant-ignorante "anything goes" des ausgehenden New-Age.
 
Seit aber das gesamte Leben als Folge der Computerisierung und Vernetzung für jeden spürbar umstrukturiert wird, verliert der spirituelle Marktplatz Kunden, Selbstverwirklichung und Sinnsuche treten zurück hinter Weiterbildungskurse und Selbstbehauptungstrainings. (Pech, wer da sein Ego vorzeitig entsorgt hat.... :-) "Wer bin ich" wird vertagt bis zur neuen Antwort auf die Frage "Wie werde ich MORGEN Geld verdienen?".
 
Ich finde das gut, auch wenn es mich selbst immer mitbetrifft. Es bewegt sich wieder was, die Mehrheit ist aus dem energetischen Vakuum rundum gesicherter Verhältnisse herausgefallen, es gibt wieder Dinge, über die zu reden ist, ja, geredet werden muß. Und vor allem: Wer existenziell gefordert ist, der wird durch seine Taten sichtbar, konkrete Handlungen sagen mehr als 1000 weise Worte!
 
Und hier liegen die Chancen der Kommunikation im Netz: vom realen Leben kann berichtet werden, über handfeste Fragen lohnt der Austausch, aktuelle Probleme können gemeinsam oft besser und schneller gelöst werden. Man hilft und bekommt Hilfe, man lernt, arbeitet, hat Erfolg und scheitert, lernt dabei sich selbst, den Anderen und die Welt kennen. Das Bewußtsein wendet sich wieder den Gegenständen zu, die uns entgegenstehen - wenn es auch heute keine Gegenstände mehr sind. Und: wenn gemeinsam etwas Drittes angesehen wird, werden wahre Kontakte, menschliche Begegnungen jenseits ökonomischer oder psychologischer Bedingtheiten sehr viel wahrscheinlicher. Toll!
 
Ich will also nicht wissen, welche Bücher ich lesen soll, welchen Guru ich nicht verpassen darf, welche Lehre oder LEERE all meine Fragen überflüssig macht - ich möchte etwas von DIR wissen, vom konkreten Anderen. Was bringt dir deine persönliche Metaphysik im Alltag? Bist du in "transpersonaler Liebe", wenn der Chef dich kündigt oder dein Konkurrent den wichtigsten Auftrag wegschnappt, wenn die Freundin dich verläßt oder die Kinder dich zur Weißglut treiben? Und wie gehst Du damit um, daß du es nicht bist? Gelassen die Vergänglichkeit hinnehmen, den Augenblick genießen? - ja warum rennst du dauernd ins Fitnesstudio? Warum nimmst du den Verfall Deiner Zähne nicht gelassen hin, sondern investierst einen mittleren Gebrauchtwagen in "Zahnhalteapparat" und Zahnersatz?
 
Fragen über Fragen, Dinge, von denen man erzählen kann. Der Rest ist Schweigen.

 

05:01:00 Wunschpalast geschlossen

Die Sonne scheint, schon den ganzen Tag. Ob hier eigentlich mal richtig Winter wird? 40 Kilometer von der Ostsee ist wohl nicht mit viel Schnee zu rechnen, doch sagen die Nachbarn, im Februar werde es richtig kalt. Soll ich vielleicht mal wieder was im Garten umgraben? Ach, ich merke: ich bin gelangweilt, doch ohne richtig daran zu leiden. Wehmütig schaue ich auf die Liste mit "Organisatorischem", die noch immer im Kopf im Bereich "abarbeiten" herumliegt. Nichts ist dabei, was nicht auch noch gut morgen geschehen könnte! (...also nicht nur gelangweilt, sondern auch noch stinkfaul!)
 
Wenn "nichts los" ist, neigt man im Allgemeinen dazu, in Wunschvorstellungen einzutauchen. Damit hab' ich länger schon "Probleme": Es funktioniert nicht. Mir fällt nichts ein, was ich gerne geändert hätte. Das ist einerseits so, weil es mir de facto blendend geht: ich wohne, wie ich es nicht besser hätte treffen können. Mit den Mitmenschen fühle ich mich im Frieden und die kleinen Alltagsbedürfnisse (essen, trinken, lesen, Sauna) kann ich mir erfüllen, ohne auf Preise achten zu müssen. Die Zukunft sieht gut aus, jedenfalls gibt es keine Drohungen, sondern eine Reihe Möglichkeiten, die ich nur zu ergreifen brauche, um das Auskommen auch dieses Jahr zu fristen.
 
Gut, die Steuer, die man als Selbständige so nachzahlt, macht nicht gerade Freude. Vor allem zwingt das System dazu, im nächsten Jahr nicht auch mal weniger, sondern MEHR zu verdienen als gehabt. "Arbeiten ohne Stress" ist mir unglaublich wichtig und daß das bisher sogar funktioniert hat, freut mich besonders. Also doch eine kleine Wolke am Horizont?
 
Quatsch! Wenn man lange genug grübelt, fallen immer negative Gedanken ein! Irgendwo muß der ganze Unsinn aus den Medien ja seinen Niederschlag finden: wie die Hyänenrudel sitzen die schlechten Nachrichten und Möglichkeiten am Rande des Bewußtseins. Läßt man mit der persönlichen inneren Anspannung nach, fallen sie in das Vakuum ein: Guck mal, hier ist etwas, vor dem könntest du doch wenigstens ein bißchen ANGST haben?
 
Doch es klappt nicht! Es ist zu durchsichtig, eine bloße Beschäftigungstherapie des Verstandes, der nicht weiß, was tun, wenn die Wunschenergie nicht zur Verfügung steht. Buchhaltungsarbeiten wären da tatsächlich eine gute Beschäftigung - doch die hab' ich zum Glück gerade hinter mir.
 
Es ist also kein Weg, in Befürchtungen abzugleiten, wenn die Wunschwelten geschlossen haben. Ich weiß zwar, daß ein Status Quo zerfällt, wenn man nicht ständig daran arbeitet, ihn zu entwickeln, zu einem "Mehr" zu machen, auf welcher Ebene auch immer. An irgendeinem Punkt des Zerfalls setzt die Wunschmaschine dann verläßlich wieder ein. Man beginnt, wieder zu wollen und entsprechend zu strampeln. Das kenn' ich alles schon und es schreckt mich nicht..
 
Ob das alles ist im Leben? Vielleicht hab' ich ja zu schnell gelebt: Niemals Zeiten des Abwartens, der mühseligen Kompromisse, der in die Länge gezogenen Kämpfe. Immer bin ich schnurstracks meinem jeweils aktuellen Dämon gefolgt. Im Zweifel jederzeit auf zu neuen Ufern.
 
Seit einiger Zeit fühlt es sich an, als hätte ich alle Ufer schon kennengelernt und oft genug aufgesucht. "Oh nein, nicht schon wieder die Karibik!" = nicht schon wieder eine netzliterarische 'Großtat', nicht schon wieder ein neuer toller Auftrag, nicht noch einmal ein nützliches Webzine, nicht noch eine neue Community und schon gar keine spannende Politaktion....
 
Was dann? Vielleicht doch ein paar Aktien kaufen, um vom Auf und Ab der Börse, vom Duft und vom Angstschweiß des großen Geld-Machens zu partizipieren? Ach je, ich glaube, das packe ich auch nicht. Zum einen passe ich jetzt auf Geld besser auf, wo ich weiß, wieviel Steuern so anfallen. Zum anderen fasziniert es mich höchstens ein paar Tage, das Thema Börse zu verfolgen. Der Punkt ist einfach, daß ich nicht mal weiß, was ich mit "mehr Geld" anfangen sollte. Klar, das ist "Sicherheit für die Zukunft", aber genau das war für mich nie ein Handlungsgrund. Auch die Tatsache des älter-werdens hat mich da bisher nicht umdenken lassen - falsch, umdenken schon, aber eben nicht "umfühlen".

Gottfried Benn, offenbar in ähnlicher Stimmung, hat mal ein Gedicht dazu geschrieben. Gutes Gedicht - allerdings empfinde ich nicht mehr dieses heftige "Leiden an der Sinnfrage", mir ist da zuviel Verzweiflung und Pathos drin. Ich muß mich nicht von einem Leiden befreien, sondern ich erwarte, daß sich neue interessante, nie gekannte Möglichkeiten auftun. Und wenn das nicht passiert, weil ich das meiste schon kenne, dann geh' ich eben mal wieder in die Sauna, das beruhigt das Denken und man schwimmt in umfassendem Wohlgefühl - weit weg von allen "Woher-wohin-wozu"-Fragen.
 
Eine Stunde Yoga bringt es auch - eine gute Idee!
 
 

03:01:00 Wenn Computer mitdenken / Netzliteratur

Was künstliche Intelligenz ist, konnte ich gerade hautnah miterleben: Vor zwei Stunden wollte ich ins Diary schreiben, doch der gesamte, gestern mühsam auf den neuen PC übertragene Bereich mit meinen Webseiten war verschwunden! Wie das? Ich zweifelte schon an meinem Erinnerungsvermögen, das eh nicht das beste ist. Doch die genauere Sichtung der Festplatte ergab, daß ich die Webprojekte WIRKLICH schon 'rüberkopiert hatte. Unterhalb des Verzeichnisses "Daten" war nämlich alles noch vorhanden, bis auf den Ordner "Eigene Dateien". Ich erinnere mich, gestern zum Abschluß mal versuchsweise einige Wartungsfunktionen angeworfen zu haben. Schließlich bin ich dem FORTSCHRITT gegenüber aufgeschlossen und lasse mir von Windows '98 Ratschläge geben - dachte ich mir so in meiner Vertrauensseligkeit! Und da war doch auch so eine Funktion "Überflüssige Dateien löschen", die ich angeklickt hatte, in der Meinung, es handle sich um Technik-bedingten Datenmüll, der so bereinigt werden soll. Jetzt weiß ich es besser!
 
Es ist nicht immer möglich, sich in die Programme hineinzuversetzen, um nachzuempfinden, was sie wohl "denken". Hier aber liegt eine Vermutung nahe: Es existiert unter C:\ schon immer ein vorkonfiguriertes Verzeichnis "Eigene Dateien", das von Winword und anderen Microsoft-Programmen genutzt wird. Und ich war so vermessen gewesen, noch einmal einen Ordner dieses Namens anzulegen! Zwar in einem anderen Verzeichnis (unter "Daten"), was Windows '95 bisher nicht verstört hatte, doch Windows '98 ist eben INTELLIGENTER! Hau weg den Scheiß, was fällt diesem Dumm-User ein, einen der geheiligten NAMEN vorkonfigurierter Ordner mehrfach zu verwenden!
 
Ich beuge mich der rohen Gewalt, nenne den Bereich in "Claudias Seiten" um und hoffe, das findet nun Gnade vor dem großen Bruder! Und ganz nebenbei: Heute morgen wandelten mich sowieso Gedanken an, ob nicht dieses Diary im Grunde überflüssig ist? Richard aus New Yorck - mit seinen 81 Jahren gewiß mein ältester Leser - schreibt zum Beispiel:

"Ich bewundere Deine Fähigkeit, die Situation unseres Lebens zu beschreiben. Wenn ich es gelesen habe, weiß ich eigentlich nicht recht, was ich gelesen habe. Es erinnert mich ein bißchen an die Verfassungsrechtskommentare während meines juristischen Studiums. Ich bin froh, daß ich das nicht vollendet habe, es wäre nur eine Gehirnverbiegung geworden mit haufenweiser Geldverdienung."

Ja, ich hab' auch mal ein juristisches Studium abgebrochen, aus den gleichen Gründen. Deshalb kann ich das gut nachvollziehen. Und Verfassungsrecht war mir ganz besonders langweilig, denn mit Anfang zwanzig interessierte mich eher der schwierige Umgang mit Männern als die Frage, wie denn ein Staat zu machen sei.
 
Auf dieses Webtagebuch bezogen, finde ich auch: es ist viel zu brav! Zu "staatstragend", zu positiv, zu beruhigend. Ich schreibe so, um mich meiner eigenen Stabilität täglich neu zu versichern. Schließlich sind die negativen Einflüsse, die Gründe, sich furchtbar aufzuregen, regelmäßig in der Mehrzahl und ich hatte und habe keine Lust, das Meer der Kritik, der Abgesänge und der Verisse noch zu vergrößern.
 
Der andere Weg ist das literarische Schreiben - Fiction statt Real Life. Ein Weg, den ich bisher nicht zu gehen versuchte, weil ich mich nicht vom "richtigen Leben" entfernen wollte. Literatur heißt, sich von dem, was der Fall ist, zu distanzieren - das ist bis heute meine eigene, an Wittgenstein angelehnte Definition von Literatur. Langsam aber sicher denke ich weiter: Ist nicht Literatur eine Möglichkeit zum "richtigen Leben" für jemanden, der SOWIESO in Distanz lebt zu dem, was der Fall ist? Und: im Rahmen von "Fiction" bräuchte ich keinerlei Rücksichten zu nehmen, könnte ganz persönliche Erfahrungen in Erfundenem und Überzeichnetem verstecken, könnte Figuren entwickeln, die verschiedene Aspekte nicht zusammenpassender Persönlichkeitsanteile ausleben und vieles mehr.
 
Naja, ich träume ein bißchen, jetzt im funkelnagelneuen Jahr. Keine Ahnung, ob ich überhaupt literarisch schreiben kann. Mein bisher einziger Versuch, eine Art psychologischer Kurzkrimi, umfaßte 43 Seiten und kostete mich sechs Wochen, in denen ich nichts anderes tun konnte als in meiner Geschichte zu "leben". Andrerseits hat er mich in nie gekannte psychisch-geistige Ekstasen versetzt....
 
Neben der Frage des Könnes und der Zeit gibt es noch das Problem der FORM. Nach jahrelangem Webpublishing ist es mir nicht mehr möglich, mich im Kämmerlein hinzusetzen und ein BUCH oder eine längere Story zu schreiben. Nur die Flucht nach vorne ist noch drin: Netzliteratur.
 
Einige Leser kennen die jahrelangen Diskussionen in der Liste Netzliteratur. WAS WOHL ist die neue Literatur, die dieses Medium entstehen läßt? Geht hier Literatur überhaupt noch, oder ist nicht allenfalls NetzKUNST möglich - zum Beispiel als Konzept-Art verstanden, die vor allem den Akteuren und Theoretikern Freude macht. Mit Hyperfiction, dieser Linkliteratur, die kaum jemand liest, kann es doch nicht schon ausgestanden sein? Und auch diese multimedialen Werke aus Bild, Text, Sound und allerlei bewegtem Klickibunti, die in der Regel die einschlägigen Wettbewerbe gewinnen, können doch nicht ernsthaft das ersetzen, was uns Bücher und Geschichten bedeutet haben und noch immer bedeuten?
 
Meine Frage ist nicht die des LESERS, sondern ich frage als eine, die SCHREIBT. Mit der weiteren Verbreitung des Netzes werden viele Autoren ihre "Schreibe" verändern und bemerken: wie anno dunnemal in der Gutenberg-Galaxis geht es nicht mehr....
 
Die bisherigen Versuche, NETZLITERATUR zu produzieren, waren genau das: Versuche, Netzliteratur zu produzieren... nicht etwa originärer Ausdruck des inneren Bedürfnisses der Autoren. Genau das entsteht nicht von heute auf morgen, weil die neue Kommunikationstechnik nun einmal da ist. Sondern die Techniken müssen in Fleisch und Blut übergegangen, müssen selbstverständlicher Alltag geworden sein, bevor etwas entstehen kann, was man dann - vielleicht - als Netzliteratur bezeichnet. Schließlich haben auch Bücher lange schon existiert, bevor etwa der ROMAN aufgekommen ist. Nur so als Beispiel.
 
Bisher ist dieses Diary meine vorläufige Antwort - doch ich merke, es ist vielleicht nicht die letzte.
 
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© 1996-2000 Claudia Klinger
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