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23.04.01 Wechselfieber

Ein lieber Freund hat mir geschrieben, er fühle sich verraten, weil ich tatsächlich daran denke, wieder in die Stadt zu ziehen! Schon lange vor mir lebte er auf dem Land in einem idyllisch ruhigen Dorf eine knappe Stunde von München. Meine Loblieder aufs Landleben haben ihm gefallen, und jetzt? Alles verändert sich! Auf nichts kann man zählen, es gibt keinen Endpunkt, keine Erlösung, keine bestmögliche Lebensweise. Die allergrößte Begeisterung für dieses wunderbar weite Land, für die unverstellten Horizonte, die beeindruckenden Wolkenformationen und die vielen leeren, etwas verwunschen wirkenden Herrenhäuser überdauert keine zwei Winter.
 
Winter in Mecklenburg: Trüb und verhangen die Himmel, sogar heute noch, am 23.April. Viel Sumpf, Moor und Matsch, die hohe Luftfeuchtigkeit ist selbst in gut geheizten Räumen immer spürbar. Ich bin schon die dritte Woche krank wie in den letzten 20 Jahren nicht. Um mal "unter Menschen zu kommen" fahren wir täglich in einen Supermarkt, die reine Benzinverschwendung. Und sehen dort Mecklenburger, immer nur Mecklenburger, keine Türken, keine Afrikaner, keine Albaner, keine Sinti und Roma, nicht mal Thais und erst recht keine illegalen Irakis. Als ich vor zwei Wochen mit der Berliner U-Bahn von der City-West nach Kreuzberg fuhr, waren sie alle wieder da, zurück in meinem Bewußtsein von "Welt". Es war mir kaum aufgefallen, dass ich hier in einem nur-deutschen Umfeld lebe, gehe schließlich kaum aus. Auf der Wilmersdorfer Straße saß ein braungebrannter tibetischer Mönch im Regen, schlug eine Trommel, blies gelegentlich in eine Muschel und erzeugte so mit minimalem Aufwand zwei Quadratmeter Tibet um sich her. Er lachte viel und die Leute warfen Münzen in einen alten Hut: Free Tibet! Später erzählte ich das einem Freund, der meinte: "Ah, der sitzt immer da, das ist ein Amerikaner!"
 
Multikulti. Man kann es genießen oder darunter leiden, in jedem Fall gehört es zur Metropole und ganz besonders zu Berlin. Der Andere, ob als Ausländer oder Immigrant, zeigt durch seine massenhafte und selbstverständliche Anwesenheit den Status Quo der Welt, wie sie halt so ist in den Zeiten der Globalisierung. Und das ist gut so, ist näher dran an der Wahrheit als das verträumte, praktisch nur-deutsche Mecklenburg.
 
Schwerin ist eine wunderschöne Stadt an sieben Seen. Die Altstadt mit den vielen kleinen Fachwerkhäusern wird hübsch saniert und ergibt eine vorzeigbare Touristenmeile. Dazu die Prachtbauten, fast italienisch wirkende Paläste, ein Achtung-gebietendes Regierungs- und Verwaltungsviertel, ein vieltürmig-verwinkeltes Märchenschloß, dazu die dreistöckige Shopping-Mall im Stil der Berliner Arkaden, nur eine Nummer kleiner. Alles da, doch immer mehr Einwohner kehren der Stadt den Rücken, wie die Statistiken jedes Jahr neu bestätigen.
 
Ich wußte nie so genau, was mir bei einem Spaziergang durch die Schweriner City eigentlich fehlt, warum die Straßen kaum zum Verweilen einladen, doch so langsam wird es mir klar: Es sind fast ausschließlich Deutsche, die sich dort zielgerichtet und schnell von A nach B bewegen, dabei kaum mal nach links und rechts schauen. Und höchst selten sieht man mal einen Sänger oder Musikanten, ganz gewiß keine Bettler, keine Demonstranten, keine Bauchladenhändler und keine Penner. Dafür die Straßenreinigung mit einem riesigen Staubsauger, der auch den letzten Krümel lärmend vom Pflaster saugt.
 
Nichtsdestotrotz wird mir in Berlin die Vielfalt auch wieder auf die Nerven gehen, ich weiß. Zumindest dann, wenn ich es zulasse. Man ist an seinen Stimmungen nämlich nicht unbeteiligt: Schlechte Laune und Genervt-Sein sehe ich heute als eine Form von Trägheit, eine Verweigerungshaltung, eine Art kindliche Regression, die von der Welt das Glück erwartet. Mal sehen, ob mir die Einsicht auch hilft.


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+ © 1996-2001 Claudia Klinger
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