<<< >>>


Sokrates liebt Baecker

von
Ingeborg Jaiser

Liebe Manu,

Du kannst Dir nicht vorstellen, was in letzter Zeit alles passiert ist. Viel zu brisant, um es Dir per Mail oder am Telefon mitzuteilen (man weiss nie, ob Feind nicht mithört). Es lebe die alte Snail-Mail!

Das Dilemma begann mit Gregors neuem Pharmajob. Wenn er nicht endlos durch die Gegend kurvte, saß er stundenlang in den gepolsterten Ledersesseln feiner Arztpraxen und pumpte sich mit dem Unsinn der ausliegenen Hochglanzzeitschriften voll. Abends schwärmte er nur noch von Wildwasser-Rafting, Urlaub auf den Malediven oder Badezimmer in portugiesischem Marmor. Vollkommen abgehoben! Die Situation spitzte sich zu, als Gregor immer später nach Hause kam und ich ihn in Verdacht hatte, sich nicht nur an den properen Arzthelferinnen, sondern gar an den Frau Doctores selbst zu vergreifen. Hinweise darauf gab es zumindest.

Dann kam es über mich, wie bei anderen der Kinderwunsch. Obwohl ich nie ein grosser Tierfreund war, wünschte ich mir plötzlich sehnlichst einen Hund. Einen mit spitzen Öhrchen, flaumigem Bauch und kleinen, samtenen Tatzen. Der Anblick glücklicher Frauchen und Herrchen machte mich sentimental. Daherwackelnde Rauhhaardackel rührten mich fast zu Tränen. Ich hatte meine Gefühle einfach nicht mehr im Griff.

Gregor musste meinen Wunsch aufgeschnappt haben, denn eines Tages brachte er ein wildes Ungetüm von Hund mit nach Hause und erzählte mir eine rührselige Story. Eine seiner Ärztinnen hatte den Hund von einer verstorbenen Patientin übernommen, um ihn vorm Tierheim zu retten. Und jetzt sollte diese unglückliche Mischung aus Collie und Schäferhund - weit entfernt von der Putzigkeit eines Dackels - ausgerechnet bei mir abgeladen werden. Ich schwankte zwischen Wut, Entsetzen und erster, aufkeimender Liebe. Tja, was soll ich sagen: Nach einigen Tagen hatte ich mich mit Gregor endgültig verstritten, doch mit Sokrates (so heisst mein Pflegekind) aufs Wärmste angefreundet.

Das hatte mein Leben perfekt umgekrempelt. Gregor zog schmollend aus und übernahm in seinem Groll auch noch die Region Hessen (war er doch schon immer heimlicher Fan des Frankfurter Fronttheaters gewesen). Sokrates forderte meine ganze Zuwendung und Aufmerksamkeit. Es war mir unmöglich, ihn tagsüber allein zu Hause zu lassen. Erst frass er mir sämtliche Vorräte weg, dann ging er ans Altpapier, später litt meine gesamte Einrichtung unter ihm. Aber ich liebte ihn wie ein Kind. Schweren Herzens übernahm ich im neuen Schuljahr nur noch einen halben Lehrauftrag und plante, mich als Internet-Publisher selbständig zu machen. Du weißt, das war schon immer meine heimliche Idee gewesen... Leider bin ich über das Drucken von Visitenkarten und die Sichtung von Literatur noch nicht hinausgekommen. Ehrlich gesagt, ging die meiste Zeit fürs Gassigehen mit Sokrates drauf...

Und jetzt wird es spannend, Manu! Heut früh liess ich mich grad mal wieder von Sokrates durch die Strassen ziehen, als mir in einem unbedachten Moment das Tier entwischt. Schöner Mist, sag ich Dir. Du glaubst nicht, zu was der Hund so fähig ist. Aber die ganzen Geschichten erzähl ich Dir ein ander Mal. Schweißüberströmt und erhitzt renn ich hinter dem Hund her und erwisch ihn gerade dabei, wie er in der nächsten Bäckerei ein Wurstbrötchen verschlingt. Und das alles vor versammelter Mannschaft. Meine Güte, war mir das peinlich! Ich ringe noch mit den Händen und verspreche, alles wieder einzurenken, als es wie ein Fieberschub über mich kommt... So was hatte ich echt noch nicht erlebt.

Der Juniorbäcker stand lauthals lachend vor mir, und irgendetwas an Energie, einige zischende, fauchende Funken sprangen unmerklich zu mir über. Ich muss ziemlich blöd dreingeschaut haben. War wie gelähmt. Gewöhnlich mache ich mir nichts aus Prolos, aber ich glaube, die lange Abstinenz nach Gregors Abgang hat mir zugesetzt. Der Bäcker war unverschämt jung, vielleicht Anfang Zwanzig, und verbreitete eine verlockende Aura von dumpfer Wärme und mehliger Sanftheit. Unter einem Vorwand zog er mich nach hinten in die Backstube. Wie in Trance folgte ich ihm. Ich hatte meine Bewegungen nicht mehr unter Kontrolle. Hitze wallte in furchterregenden Schüben durch meinen Körper. Willenlosigkeit zwang mich in Knie. Ich war nicht mehr bei mir.

Was soll ich Dir sagen, Manu, das war der beste Quickie aller Zeiten. Das ging durch und durch. Dabei bin ich fast doppelt so alt wie Dirk. Als wir reichlich zerknautscht und aufgelöst zurück in den Verkaufsraum stolperten, warf uns die Bescherung fast um. Sokrates hatte in kurzer Zeit die ganzen Auslagen leergeräumt. Das verschlug doch auch Dirk etwas die Sprache. Doch er meinte, mit ein paar Überstunden könnte er die Lücken schon wieder füllen. Sprach's, krempelte sich die Ärmel hoch und verschwand in der Backstube. So viel Elan hat nur ein Zwanzigjähriger.

Verwirrt, doch auch irgendwie erfrischt taumelte ich mit dem ausgelassenen Sokrates nach Hause. Schon im Treppenhaus hörte ich das Dauergeklingel meines Telefons. Es war - so ein Schreck! - Gregor. Er rief vom Autotelefon aus an, wobei seine Schimpftiraden durch längere Phasen des Rauschens unterbrochen wurden. Gregor behauptete, er hätte eben Sokrates in reichlich verwirrtem und verwildertem Zustand in einer Bäckerei entdeckt. (Was um Himmels Willen machte Gregor in Köln? Ich hatte ihn irgendwo in Hessisch-Sibirien vermutet.) In seiner Wut drohte mir Gregor, den Hund zu entführen. Was ihm zuzutrauen wäre, denn er hat noch einen Wohnungsschlüssel. Binnen weniger Minuten hatten wir uns wieder total verstritten.

Manu, ich brauch Deinen Rat! Was soll ich jetzt bloss tun, mit einem tobenden Ex-Freund, einem brotbackenden Jungliebhaber und einem fressgestörten Hund? Dabei hätte alles so harmonisch werden können.

Du hättest sehen sollen, wie treuherzig Sokrates Dirk angeblickt hat. Ich glaube, Sokrates liebt Bäcker. (Ich glaube, auch ich liebe Bäcker...)

Liebe Manu, bitte schreib mir, was Du von all dem hältst. Ich brauch ganz dringend Deine Hilfe.

Viele Grüsse von einer reichlich verwirrten Katja

Von Ingeborg Jaiser im September 96

<<< >>>