von Sascha Greinke
Wir kamen aus der Stadt. Die Hitze hatte unsere Körper und Köpfe bis an die Belastungsgrenze ausgedörrt. Marc hatte seine Einkaufe wie eine Beute, unverpackt vor der Brust drapiert und zeigte mir zum wiederholten Male sein neues Hemd. Meine Begeisterung hielt sich allmählich in Grenzen, vor allem weil er auch kein Interesse an meinen neuen Platten, echte Vinyl erzeugnisse sind ja nicht mehr alltäglich, zeigte.
Wir kämpften uns gerade durch eine weitere Baustelle, da sah ich sie. Sehr groß, tres chic. Business-Outfit. Sie hatte einen Lolli in der Hand was mich irgendwie befremdete. Als sie an uns vorbeikam, ohne uns auch nur zu beachten, summte sie den Melody-Bogen von "Late At Night". Daraufhin drehte ich mich nach ihr um - ich hasse es fremden Frauen nachzuglotzen - besonders wenn sie mich gar nicht wahrnehmen, aber ich konnte nicht anders.
Im Unterbewußtsein nahm ich noch Marcs Gebrabbel wahr: "Hast Du denn jetzt schon den neuen Rohmer gesehen? Was machen wir denn heute Abend, wenn deine Melanie endlich aus HH heimkehrt? Sollen wir uns SEBADOH anschauen? Hey was ist denn?". "Schon gut," sagte ich, "aber die Frau hat "Late At Night" gesummt!". "Quatsch", entgegnete Marc, "solche Frauen hoeren nicht deine Musik und außerdem würde sie dir eh' kein Lächeln schenken, so wie du heute aussiehst!"
Da hattte er wohl recht, vom Outfit konnte ich da noch nie mithalten, außerdem schienen die zwei Eimer Koelsch gestern im Blue Shell und im Six Pack nicht spurlos an meinem Gesamteindruck vorbeigerutscht zu sein. Und das, obwohl ich nur zum Pinkeln auf der Toilette war und nicht die Kabinen für Aufnahme anderer Substanzen zweckentfremdet habe, wie der Kerl neben mir.
Als wir uns an einem Bauarbeiter vorbeiquälten, der mich an einen arbeitslosen Akademiker (verkannter Systemtheoretiker!) erinnerte, hoerte ich eine Frau sagen: "Haben wir uns nicht letzte Woche bei Amnesty International, Sektion "Gleichberechtigung" gesehen?" Zu meinem Erstaunen meinte sie eben diesen, seine letzten Haare zum Zoepfchen gebundenden, Bauarbeiter. Das passte ja! Loecherbuddelnder Luhmann-Fan und eine Weltverbesserin. Wahrscheinlich verabreden sie sich zur nächsten Lichterkette.
Vor der Bäckerei, in der wir uns mit Daniel treffen wollten, diskutierten drei Goeren lautstark, über irgendwelche süßen Leckereien. "Aus dem Weg, Blagen", versuchte ich mir Platz zu schaffen. Den Kopf in den Nacken gelegt, taxierte mich die Anführerin kurz, schaute verschwoerisch in die Runde und entgegnete schon auf dem Sprung: "Selber aus dem Weg, Lulatsch!!". Und da waren sie schon weg, bevor ich mich - meines Alters angemessen - revanchieren konnte. Während Marc vor Lachen zusammenbrach, fiel mir schlagartig ein, warum ich Kinder so hasse!!
In der Bäckerei stand die Luft. Ein Hund lungerte alleine - jedenfalls ohne Mensch an der Leine - in der Ecke 'rum und schmiedete Pläne, so bildete ich mir jedenfalls ein. Sonst tummelten sich noch eine mittelgroße Gruppe von "Muttis" - Typ:Reihenhaus mit Garten - im Laden. Einer Frau - aus deren Kinderwagen erstaunlicherweise kein Gezänk und Geschrei zu vernehmen war (entweder schlief der Nachwuchs oder er war tot, eine andere Moeglichkeit kann ich mir nicht vorstellen!) - war der bürgerliche Familienstress sprichwoertlich ins Gesicht geschrieben. Unweigerlich fiel mir die Textzeile der STERNE ein: "Was hat euch nur so ruiniert?".
An einem Stehtisch entdeckten wir Daniel, der gerade von der Arbeit kommend noch seinen verschwitzten Overall trug. Marc holte uns Tee, während ich Daniel kurz begrüßte, indem wir unsere ausgestreckten Zeigefinger touschierten. Der Typ neben Daniel sah in seinen Vertreter-Klamotten auch nicht mehr taufrisch aus. Schlürfte gedankenverloren seinen Kaffee und schwitzte vor sich hin. Mein T-Shirt war aber auch nicht mehr so Frühlingsfrisch, wie die Werbung es verspricht. Kaum erreichte Marc uns mit den Getränken, passierte genau das, was ich befürchtet hatte.
Marc drängte sich zwischen uns, um seinem innig geliebten Daniel, um den Hals zu fallen. Die beiden fingen an, sich wie die Besessenen abzuknutschen, als hätten sie sich Jahre nicht gesehen und wären nicht, heute morgen nebeneinander aufgewacht. Da ich diese Begrüßungsorgien kannte - und sie mir immer noch ein wenig peinlich sind - konzentrierte ich mich auf die Reaktion der anderen Anwesenden. Unserem Tischnachbarn fiel beinahe die Tasse aus dem Mund, während die "Muttis" kurz vor einem Blutsturz standen. Vor allem die Frau mit dem Kinderwagen, schien merklich iritiert.
"Wann kommt Melanie?", hoerte ich Daniel fragen, nachdem die beiden ihre Begattungsversuche beendet hatten. "Hoffentlich bald! Euer Verliebtsein macht mich krank! Wie war denn dein Tag?", antwortete ich. "Normal", entgegnete er und widmete sich wieder seinem Liebsten
Von Sascha Greinke im September 96