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Bekkerīs Engel
von
Volker Hatlauf Natürlich hatte ich gleich bemerkt, daß es sich bei dem zauberhaften Geschöpf neben mir um einen wirklichen Engel handelte - und das noch bevor das Himmelswesen die schäbige Parkbank mit seinem wichtigwirkenden kunstfaserknisternden Samstagnachmittagskostüm berührt hatte.

Aber wie verhält man sich einem Engel gegenüber? Die letzten fünf Engel, die ich getroffen hatte, waren in weniger verwirrender Gestalt aufgetreten (besonders nett war Eric gewesen - aber auch der hatte nur kurz mal nach mir schauen wollen - sicherheitshalber - Routinebesuch sozusagen).

Dies jetzt fühlte sich gar nicht nach Routine an. Schließlich hätte der Engel ja auch eine andere Gestalt (und nicht gerade diese!) annehmen können. Aber er war gekommen wie er war - nur die Flügel unter der Jacke des Kostüms verborgen - natürlich - aber wer Augen hat zu sehen ...

Hätte nie gedacht, daß Engel so nervös sein können. Normalerweise zerkauen sie wohl eher keine Bleistifte - sicher hatte Angie weitaus größere Probleme als ich. Ob ich dieser Engelsgestalt vielleicht irgendwie helfen konnte? Nun, ich schwieg vorsichtshalber die halbe Stunde zuende ... bevor ich Engel in meine Augen ließ.

Selbst in Engelīs Augen gefallen - tief gefallen - bemerkte ich, daß dieses himmlische Knisterwesen wirklich ziemlich im Streß war - und wohl noch eine Unzahl von Aufgaben zu erledigen hatte. Dennoch blieb die (der Engel war eindeutig weiblich!) Gesandte des ewig Daheimbleibenden sitzen ... blieb sitzen ... und sitzen ... und sitzen; unwilkürlich mußte ich lächeln.

Mein Engel fragte mich irgendetwas - und ich antwortete irgendetwas - und dann standen wir auf und liefen lange durch die dunkeldampfende Stadt, Arm in Arm. Wer uns so gesehen hätte, wäre bestimmt auf die wildesten Gedanken gekommen - aber es war eben nicht die Suche nach einem ach-so-dringend-benötigten Unterschlupf.

Wir liefen einfach nur weiter ... bis es zu schneien begann. So früh war der Schnee noch nie gekommen, in all den Jahren nicht. Seit ich denken kann sind die ersten Flocken des Winters immer etwas ganz Besonderes für mich gewesen .... der Moment, auf den ein ganzes Jahr gemeinsam mit mir gewartet hatte.

Immer deutlicher waren unsere Fußspuren zu erkennen - ihre nur schwache Konturen im Schnee. Trotz der abendlichen Kälte fror ich nicht, und auch sie schien den allgegenwärtigen weißen Hauch von Luft und Atem eher als angenehm zu empfinden.

"Wir sind da," sagte Angie, "komm!" Ich folgte ihr mehrere Treppen hinauf in ein kleines Appartement. Während ich die Bahnen von Schmutz, welche das Schmelzwasser zog, auf der Glasscheibe verfolgte (lauter eigene kleine Welten), hatte sie bereits das andere Fenster geöffnet. - Ich wußte: Sie würde fortfliegen.

W e l t e n w e c h s e l

"Warum fliege ich nicht einfach mit?" frage ich mich. Ich steige zum Engel aufs Fenstersims. Er nimmt meine Hände (alle beide), schaut mich an und breitet die Flügel aus. "Ciao Engel," flüstere ich. "Ciao Bekker," haucht er zurück.

Ich habī nunmal keine Flügel - mein Hinuntergleiten wird erheblich kürzer sein als das engelsewige. So stehen wir noch einen kleinen Augenblick und lauschen dem schmeichelnden Wind - und werden schließlich zu

ÄOLSHARFEN

Einen Moment abwartend,
noch einmal tief
Luft holend,
diese kurze Ewigkeit des Sich-Berührens
herbeisehnend,
staunend genießend,
stießen sie sich ab
vom schmalen Fenstersims im
siebten Stock, auf welchem
sie sich befunden hatten;

Wissend
um die Instabilität des Zustandes
ihres In-die-Tiefe-Gleitens
trieben
sie auseinander.

copyright Volker Hatlauf 1997 

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