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Beim Bäcker - Sommernacht

von Hans-Peter Müller Diese Geschichte ließ ihn einfach nicht mehr los: was war da wirklich passiert vor diesem Bäckerladen? 

Manchmal verstieg er sich zu der Überzeugung, irgendeine Magie habe ihm den Kopf - und die Sinne verdreht. Als sei diese "Traumfrau" (im wahrsten Sinne des Wortes), mit der er eine wunderschöne Phantasie geträumt (oder doch realisiert?) hatte, nicht von dieser Welt gewesen. Als habe sich eine Art Fee dazu entschlossen, sich - und sei es nur für eine Nacht - zu materialisieren; um ihm (wie auch sich selbst) einen geheimen Wunsch zu erfüllen. Als sei ihr dies aber nur in Form einer Inszenierung erlaubt gewesen, die keine genaue Erinnerung zuließ ... 

"Papperlapapp," schalt er sich dann. "So ein Unfug!". Um sich doch niemals vollständig von dieser fixen Idee zu lösen; er hatte gar (nach langer Suche) die Wohnung in der Nähe des Bäckerladens aufgespürt, in der sie miteinander ihre Abenteuerlust ausgetobt hatten. Als sich die Tür öffnete, erkannte er sofort das Interieur wieder: ja, genau hier waren sie miteinander, ineinander versunken; doch die Frau, die ihm gegenüberstand, war eine andere; sie wußte auch glaubhaft zu versichern, daß sie hier seit mehreren Jahren wohnte - aber in der fraglichen Zeit verreist war ... Also doch? 

"Es kann einfach nicht mit rechten Dingen zugegangen sein in diesem Sommernachtstraum!", sagte er mit nahezu heiligem Ernst zu M. Die nicht so recht wußte, ob sie nun gerührt oder amüsiert sein sollte. Und dennoch spürte, wie wichtig es ihm war, gerade jetzt ernst genommen zu werden - immerhin wußte sie seinen Mut zu schätzen, ihr mit schonungsloser Ehrlichkeit ein Erlebnis zu offenbaren, dessen Details ihn jederzeit der Lächerlichkeit auszusetzen vermochte. 

Eine Nacht wie im italienischen Süden breitete sich über ihnen aus: trotz der fortgeschrittenen Zeit noch von angenehmer Wärme; der Himmel ein blauschwarzes Tuch ohne jede Schwere; eine leichte Brise streichelte die leicht bekleideten Körper und ließ jede Müdigkeit vergessen. Die ohnehin so gut wie nie aufkam, wenn die beiden etwas miteinander unternahmen; sporadisch, aber immer voller Intensität, Aufmerksamkeit und Anregung. Vor allem aber: Vertrauen. Nicht zum ersten Mal hatte er ihr als erstem Menschen ein kleines Geheimnis offenbart. 

Sie spürte, wie sehr er sich nach einer klärenden Antwort sehnte. Aber sie wußte keine. Sondern nur eine Frage, die sie auch an sich selbst richtete: "Wann geht es denn in der Erotik mit rechten Dingen zu? Macht sie das nicht gerade aus?" 
Sie hatte ins Blaue getroffen. Er mußte spontan über sich selbst lachen; und gab sich geschlagen. Als sei es damit nicht genug, fuhr sie fort: "Macht es denn einen Unterschied, ob Du es wirklich erlebt hast - oder nur in Deiner Phantasie? Oder gar in einer - wie auch immer gearteten - Verzauberung?" 

"Nein,", mußte er fast verlegen zugeben, "natürlich nicht. Liebe in jedweder Form: ob als erotischer Augenblick, ob in einer sogenannten festen Beziehung, ist Verzauberung. Wer sie zu erklären sucht, will sie festhalten. Wer sie festhalten will - mit welcher Bemühtheit auch immer - dem gleitet sie durch die Finger. Wer sie gar zu bezwingen sucht: mit Worten oder gar mit Habgier - dem geht sie unwiederbringlich verloren." 

Als sei jetzt jedes weitere Wort zuviel, antwortete sie nur mit einem Lächeln, das einen Tick länger und tiefer war als gewohnt. Um ihn damit in eine (durchaus wohlige) Verunsicherung zu stürzen, die er eiligst seiner Stimmung über die erzählte Geschichte zuschob; ohne von diesem Anblick zu lassen zu wollen. 
Sie fanden lange Zeit keine Worte mehr; die Blicke wichen einander kurz aus, um dann doch dieses unendlich vielsagende wie leuchtende Lächeln wieder aufzunehmen; weil es so ungleich schöner war als jedes einzelne der unzähligen (noch so anregenden wie verständnisvollen) Worte, die sie schon so oft miteinander gewechselt hatten. 

"Die Liebe versteckt sich vor uns. Vor unserem Drang, über sie bestimmen zu wollen.", brach es urplötzlich aus ihm heraus. "Alle sind auf der Suche nach ihr. Aber schauen immer in die Ferne: sie wähnen sie weit entlegen: ob zeitlich, ob räumlich. Dabei verbirgt sie sich im raffiniertesten Versteck, das es gibt: in unserer Unaufmerksamkeit. Wir laufen, den Blick in die Ferne: auf das Große und Unübertreffbare fixiert, unablässig an ihr vorbei." 

Sie war berührt. In vielerlei Hinsicht. Nicht ohne Herzklopfen faßte sie seine Hand: in einer Mischung aus Zuneigung und unschuldiger Gespanntheit. "Und wann zeigt sie sich?", fragte sie gebannt - und sprudelte selbst die Antwort heraus: "Wenn wir uns öffnen und ihr freien Lauf lassen; wenn sie uns über den Weg trauen kann. Weil sie frei sein muß. Sie bestimmt, wo sie hinfällt - und wie lange sie bleibt. Folgerichtig - wenn es stimmt, was Du sagst - bliebe sie um so länger, je weniger wir sie festhalten." 
Sie hielt inne - von einem flüchtigen Chaos abgelenkt, in dem sich wohliges Schaudern ("Er läßt meine Hand nicht mehr los," dachte sie, und es gefällt mir ... Zumindest heute abend.") mit traurigen Erinnerungen (an ihre Versuche, die Liebe zu gängeln) vermischte: zu einer verwirrenden Empfindung, für deren Definition sie keine Konzentration mehr fand. 
"Aber sich derart wehrlos einzulassen, das kann doch auch weh tun!" wandte sie ein. 

"Die Liebe tut nicht weh!", erwiderte er. "Nicht wirklich. Selbst wenn sie schmerzt. Die sie aus Angst vor Verletzung meiden, tun sich weit mehr weh: weil sie erlebnislos eingehen. An einer Schwindsucht, die sie als Abgeklärtheit schönreden." 

"Aber so überfordert sie uns. Wer kann das schon ...", sinnierte sie - mehr sehnsüchtig als resigniert. 

"Vielleicht nur wenige - oder keiner ..." antwortete er verträumt, von weit weg. Aber wir könnten es doch üben ... wenigstens versuchen ..." 

Sie zahlten und gingen, Arm in Arm. Den Abschiedskuß vor ihrer Wohnung, nur noch scheinbar so flüchtig und freundschaftlich wie immer, schrieben sie spontan zu einer Einladung um. 

Irgendwo in der Großstadt, weit entfernt von einem Bäckerladen, der noch im Tiefschlaf versunken war, malten zwei Körper sich genüßliche Liebeserklärungen auf die Haut; für ein paar Stunden wenigstens hatten sie die Liebe aus ihrem Versteck herausgelockt.

copyright Hans Peter Müller, Juni 1997 

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