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Nina, die den Tagen Farben gab

von Volker Hatlauf

Irgendetwas hatte mich geweckt. Ich hob den Kopf. War ich hier eingeschlafen, gestern? Auf dieser Bank, weiß von Taubendreck und inmitten einer gut sortierten Abfall-Landschaft?

Ja doch, ich erinnerte mich an die Großbaustelle links von mir. Hier hatte ich gestern Nachmittag dem Treiben der Baufahrzeuge und der Männer in Lohn und Brot zugeschaut. Hatte mir die Sonne auf den Bauch scheinen lassen und endlich mal wieder ein richtig kühles Bier getrunken. So ein richtig kaltes, dessen Flasche die sommerwarmen Hände kühlt.

Früher habe ich gar nicht gewußt wie herrlich ein solches Bierchen schmecken kann, habe es damals aus Gläsern getrunken und niemals bis zum letzten Schluck. Das war noch in der Zeit mit Nina gewesen. Nina! Ein Lächeln knipst mir das Gesicht an. Nina hat mich immer Lächeln gemacht. Mit ihrer Art zu Reden, ihrer Verspieltheit und ihrer ansteckenden Albernheit. Sie nicht zu lieben war mir vollkommen unmöglich gewesen.

Wo Nina wohl heute sein mag? Ich setze mich unwillkürlich aufrechter. Dies war einmal unsere Bank. Vor etwa acht Jahren gab es an dieser Stelle noch einen großen Park. So einen von der besseren Sorte, fast schon ein kleines Wäldchen - und das mitten in der Stadt. Da ließ es sich aushalten im Sommer - nicht so wie gestern Nachmittag - mit Baustaub auf der Zunge und Benzingestank in der Nase - und kein Entrinnen diesem fürchterlichen Gedröhne!

Die Bank steht unmittelbar am Bauzaun, der die Länge der Chinesischen Mauer zu haben scheint. Das ist auf eine Weise recht praktisch, auch wenn es ein wenig die Sicht zur Straße hin versperrt. Man kann ohne aufzustehen mit einer Hand in die Tasche der dort aufgehängten, inzwischen recht abgeschabten, Jacke greifen, und - ohne das Bier abzustellen zu müssen - die Zigaretten herauszufingern. Früher habe ich nicht geraucht.

Fünfzig Meter weiter den Zaum entlang verläuft die ständig verstopfte Hauptstraße, und man kann sogar einen Teil der Bäckerei sehen, die Nina und ich früher so gern aufsuchten.

"....äckerei Benra" kann ich von hier aus lesen, und auch das nur, wenn ich ganz nach rechts rüberrutsche. Im sichtbaren der beiden Schaufenster brennt bereits Licht. Sicher werden sie schon bald öffnen. Der Bäcker und seine damalige Frau erscheinen vor meinem inneren Auge - nur acht Jahre jünger eben.

Es hatte stets so herrlich nach frischen Brötchen geduftet bei "Benra" - Nina hatte das geliebt. Ganz allein deswegen sind wir oft hingegangen, haben einen Kaffee getrunken und uns dabei in unseren Augen verloren (dabei mag sie viel lieber Milch, aber das war egal - im magischen Duft dieser Brötchen).

Vor acht Jahren war es noch eine ganz stinknormale Bäckerei, und es herrschte längst nicht so ein Betrieb wie zum Beispiel gestern Nachmittag. Mein Gott, war das ein Rein und Raus gestern wieder! Keine Chance meine Augen dort aufzuhängen und an Nina zu denken. All die Leute, jeder eine eigene Welt im Gepäck - und nicht einen Moment Zeit diese nervende Kurzatmigkeit beiseite zu stellen. Ich habe alle Zeit der Welt.

Ich habe mich schon lange nicht mehr hineingetraut, in diese Bäckerei. Zunächst, weil die Erinnerung an Nina so sehr schmerzte - später weil ich einfach nicht wollte, daß mich dort jemand erkennt und irgendwelche Fragen stellt - und noch viel später, weil mich sowieso niemand mehr erkannt hätte.

Auf dieser Bank habe ich oft gesessen mit Nina, mit meinem kleinen/großen Mädchen - und Lakritzschnecken gegessen. Links standen damals drei Bäume. Denen hatten wir Namen gegeben, so wie den Tagen ihre Farben. Nun sitze ich allein hier und trinke Bier aus Flaschen. Und ganz sicher wird mich niemand mehr so in den Arm nehmen wie Nina - die vor langer Zeit fortging.


Von Volker Hatlauf im November 96

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