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Noch´n Verkehrsunfall vor der Bäckerei.

von
Stefan Karzauninkat

"Ich habe keine Lust mehr", denke ich, als ich in dem engen, düsteren Treppenhaus stehe und die Treppen hochspähe. Der Schweiß läuft mir in kleinen Rinnsalen den Rücken hinunter, meine Füße sind wie zwei heiße, schwere Lavabrocken. An meiner Schulter baumeln 15 Kilo Notfalltasche, in der Hand ein tragbares EKG mit Elektroschockeinheit. Meinem Kollegen geht es nicht besser, er darf sich mit dem zweiten Notfallkoffer und der Sauerstoffeinheit abmühen. Wir müssen den ganzen Krempel im Schweiße unseres Angesichts in den dritten Stock dieses Altbaus hochschleifen.

"Unbekannter Notfall im dritten Stock" war die Meldung gewesen. Irgendein aufgeregter Anrufer war nicht mal in der Lage gewesen, den Namen und die Art des Notfalls zu nennen. Wenigstens die Adresse haben sie sich entlocken lassen. Wahrscheinlich sowieso wieder ein Fehlalarm. Fast hätten wir auf dem Weg einen Hund plattgemacht, der wie irr über die Straße in eine Bäckerei geflitzt ist. Ein ziemlich großer, Collie oder Schäferhund oder so. Das Ausweichmanöver bescherte uns einen heftigen Adrenalinstoß und der rechten vorderen Felge eine dicke Delle. Aber wir haben jetzt andere Sorgen.

Eine vollkommen hysterische junge Frau empfängt uns vor der Wohnungstür: "Kommensieschnell meinemutteristhin gefallenkommen sieschnell!" Ich liiiiebe hysterische Angehörige. Schade, dass Betäubungsgewehre nicht zu unserer Standardausrüstung gehören... In der Küche finden wir eine ältere Dame, vom Stuhl gerutscht. Ein etwas dämlich dreinblickender Mittdreißiger steht hilflos daneben. Wir erkennen schnell, daß es sich um einen bei älteren Menschen häufig vorkommenden Oberschenkelhalsbruch handelt. Schmerzhaft zwar, aber nicht lebensbedrohlich. Mit Freuden registriere ich, daß die Gute offenbar nicht zu den kräftigen Essern gehört. Klein und zierlich. Zum Glück. Eine Dicke dieses enge Treppenhaus runterzuschleppen wäre heute mein Untergang gewesen. Die junge Frau - Tochter oder Schwiegertochter, mir völlig schnurz - nervt uns die ganze Zeit, während wir eine spezielle Trage vorbereiten, ob es denn schlimm sei, sie hätte ihr Kind der Nachbarin anvertraut, die sei zwar nett, aber wem könne man heute noch trauen, ein ganz reizendes Kind sei das, man könne sie schon fast alleinlassen, aber die vielen fremden Menschen... Das hört gar nicht mehr auf. Ich werde das mit dem Betäubungsgewehr mal beim Boss zur Sprache bringen, glaube ich.

Endlich haben wir den Rettungswagen erreicht, den wieder mal ein paar Gaffer umstehen. Etliche Male mußten wir auf der Treppe die Trage absetzen, weil die Holme aus den schweißnassen Händen zu glitschen begannen. Jetzt fühlte ich mich wie ein frischgebackener, klebriger Krapfen im eigenen Saft. Fast an der Knusprigkeitsgrenze.

Während ich die Omi auf der Trage freundlich angrinse - sie grinst zurück; offenbar froh, dem Gegacker ihrer Tochter entkommen zu sein - schließe ich alle Strippen zur Überwachung an - eigentlich unnötig, denn ihr gehts "den Umständen entsprechend" prima. Da quakt das Funkgerät los. Verkehrsunfall vor einer Bäckerei an der Großbaustelle. Hoppla, das ist ja hier gleich um die Ecke.

Wir melden uns, obwohl wir besetzt sind, zur Erstversorgung klar. Wir wissen, daß auf der Autobahn wieder mal eine Großverschrottung abläuft und viele Rettungswagen da gebunden sind. Dankbar weist uns der Mann in der Rettungsleitstelle an, sofort eine Lagemeldung durchzugeben. Logisch.

Das erste, was uns auffällt, ist ein großer, amerikanischer Van mit dunklen Scheiben vor der Bäckerei. Das zweite, was wir erkennen, ist, daß sich auf dem total verbeulten und zerdrückten Dach des Wagens ein großer Zementkübel breitmacht. Offenbar hat sich die Halterung am Kranseil gelockert und der randvolle Zementkübel hat sich schleunigst auf den Weg nach unten begeben. Die graue, zähe Masse gluckert langsam auf die Straße. Drumherum stehen eine Reihe Vorstadthausfrauen, die keinen Finger krumm machen, sondern nur gackernd herumstehen und Maulaffen feilhalten.

Die alte Dame auf der Trage wird von meinem Kollegen betreut, während ich mit der Ausrüstung zu dem silber- und inzwischen auch zementgrauen Chevrolet haste. Gerade macht sich ein Arbeiter im Blaumann an der Hintertür zu schaffen.

"Ist da jemand drin?" frage ich ihn und er nickt heftig. Scheiße, denke ich, da drin muß jemand ganz schön Kopfschmerzen haben. Die Tür läßt sich nicht öffnen, ist total verklemmt. Also Brecheisen holen und Rüstwagen verständigen. Und Unterstützung. Zurückgekommen drücke ich dem Arbeiter das Brecheisen in die Hand und versuchte, durch die Beifahrertür reinzukommen. Nichts zu machen, alles verriegelt, und durch die dunklen Scheiben ist absolut nichts zu erkennen. Der Junge im blauen Overall ist erstaunlich fix. Nach wenigen Momenten höre ich es knirschen und die hinteren Türen springen auf. Ein Aufschreien folgt aus der Zuschauermenge.

Es dauert einen Moment, bis sich meine Augen an das Dunkel des Wageninneren gewöhnt haben. Zwei Gestalten liegen halb aufeinander. Kein Mucks, kein Jammern. Das hört sich gar nicht gut an.

Keiner der beiden hat sehr viel an. Kein Wunder bei dem Wetter. Es macht ein paarmal hörbar Gluck und Blubb in meinem fast gargekochten Gehirn, bevor ich begreife, warum beide überhaupt nichts anhaben. Weia. Das nenne ich einen Coitus Interruptus. Das schlanke, rothaarige Mädel liegt obenauf, der kräftige dunkelhäutige Typ hat sichs unten bequem gemacht. In dem Wagen scheint es noch ein paar Grad wärmer als draußen zu sein. Ich muß mir mit dem Ärmel den Schweiß aus den brennenden Augen wischen. Keine gute Idee. Der Zementschlabber, der am Ärmel hing, klebt jetzt an den Augen. Suchend sehe ich mich um und kriege eine lila Baseballmütze zu fassen, mit der ich mir die Augen freiwische.

Endlich kann ich mich um die beiden kümmern. Ich muß erst ihre wunderschöne rote Haarpracht zur Seite schieben, bevor ich die Halsschlagader erfühlen kann. Nichts, kein Puls. Mist. Bei Ihm genauso. Als ich in die Notfalltasche greife, um nach einer Taschenlampe zur Pupillenkontrolle zu suchen, merke ich, daß ein dicker Zementklumpen an den Fingespitzen klebt. Kein Wunder, daß ich keinen Puls gefühlt habe! Also nochmal. Ich bin heilfroh, daß der Arbeiter im blauen Overall immernoch draußen steht und den Gaffern ein wenig den Blick nach innen verstellt. Beim zweiten Versuch spüre ich etwas. Schwach zwar, aber regelmäßig. Na, das läßt ja hoffen. In der Ferne höre ich das Herandödeln der werten Kollegen. Prima. Wurde auch Zeit. Die wenigen Minuten, die sie noch brauchen, verbringe ich damit, weiter den Zustand der beiden zu checken. Sieht erstaunlich gut aus. Beide haben dicke Beulen am Kopf. Kreiflauf schwach, aber einigermaßen stabil. Kein Blut weit und breit. Das Dach des Amischlittens scheint das Gröbste abgehalten zu haben. Nicht schlecht; amerikanische Wertarbeit.

Endlich finde ich Zeit, mir das Mädel etwas genauer anzusehen. Wie aus einer Zeitschrift gehopst. Traumhafte Figur; bei roten Haaren werde ich sowieso schwach. Im Geiste gebe ich mir einen Tritt: Nicht jetzt, Mann! Aber die Gedanken sind frei und machen sich auf die Reise in den amerikanischen Mittelwesten: ich sitze entspannt auf dem Beifahrersitz eines Cadillac und beobachte, wie die langen, roten Haare meiner Begleiterin im Wind flattern, während sie das 7 - meter cabrio lässig mit zwei Fingern lenkt...

Copyright Stefan Karzauninkat 10-Nov-1996 -

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