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Zurück zum Bäcker

von
Carola Heine

Sollte ich den Lutscher nun essen oder nicht? überlegte ich noch, während ich die Stufen vor der Haustür hochstapfte. Drei Sekunden später hatte ich ein ganz anderes Problem: Meine Schlüssel! Ich mußte sie und das Portemonnaie beim Bäcker vergessen haben, wahrscheinlich hatte ich sie mal wieder auf der Ladentheke liegenlassen, übermüdet und überarbeitet wie ich war. Zweimal war das in letzter Zeit schon vorgekommen, aber ich hatte immer Glück gehabt und jemand hatte mich beim Verlassen des Ladens darauf aufmerksam gemacht. Heute leider nicht. Keine Zeit zum Fluchen, auf dem unbeqümen Absatz kehrt und nichts wie zurück!

Unten an den Stufen kam mir die Nachbarin entgegen. "Ach Frau Heine, können Sie ein paar Minuten auf Yolanda aufpassen? Ich muß dringend...." Das mußte wirklich was dringendes sein, wenn diese einzigartige Mutter das intelligenteste und kostbarste Kleinkind auf dem Planeten dem rohen Unverständnis einer anderen Person überließ, dachte ich amüsiert und meinte "Dann muß das kleine Fräulein aber mit zum Bäcker, ich habe die Schlüssel dort liegenlassen." Yolanda, sicher festgezurrt in ihrem Wägelchen, griff zielsicher nach dem Lutscher und ihre Mutter warf mir einen hysterischen Blick zu. Würde sie ihr Kind später noch lebend vorfinden, konnte sie es wagen? Nun hätte ich ihr sicherlich erklären können, daß ich mich ganz wunderbar mit Kleinkindern auskenne und diverse Jahre meiner Jugend mit Überlebenstraining als Babysitter verbracht habe, aber warum? Entweder sie vertraute mir das Kind an oder nicht, ich mußte jedenfalls schnellstens zurück zur Bäckerei.

Yolanda hatte längst entschieden und bestimmte "Bäcka gehn." und so schoben wir ab, während ihre Mutter die Stufen hochhetzte. Sie kannte mich ja ganz gut und würde wohl nicht plärren, das konnte ich nur hoffen. Sobald die Mama außer Sichtweite war, probierte ich aus, wie schnell man in Pumps mit Kinderkarre flitzen kann und stellte fest, ziemlich schnell und erstaunlich unbequem für die Füße, genaugenommen mörderisch. Aber es half ja alles nichts, mir war ganz elend bei dem Gedanken daran, daß meine Schlüssel ausgerechnet zusammen mit der Adresse in meinem Portemonnaie dort liegengeblieben waren. Die Baustelle nahmen wir mit Extra-Schwung und ich zerrte die Karre ohne Rücksicht auf Verluste die Stufen hoch, Yolanda ließ vor Lachen ihren Lutscher fallen, aber wir waren ja nun an der Quelle und konnten direkt einen neuen mitnehmen. Vielleicht nahm sie ja auch ein Vollkorn-Brötchen oder sonstwas Vernünftiges. "Haben Sie zufällig meine Schlüssel gefunden?" fragte ich die Verkäuferin und sie nickte beruhigend, holte mit einem Griff Portemonnaie und Schlüssel unter der Theke hervor. Das Erleichterungsgefühl war grenzenlos und trotz komplettem Auflösungszustand von Schuhen und Frisur hätte ich mich sicher wunderbar gefühlt, wenn nicht gerade in dem Moment meine große Liebe "von früher" den Laden betreten hätte. Was hatte der denn in dieser Gegend zu suchen? Und konnte er nicht warten, bis ich nicht mehr verschwitzt war und keuchend an der Theke hing?

Irgendwie würgte ich ein möglichst unbelastetes "Hallo" hervor und strahlte, so gut ich konnte. Die Trennung war uns beiden damals nicht leichtgefallen und ich hatte gedacht, daß ich viel mehr darunter gelitten hätte. Früher war er immer so gelassen und überlegen gewesen. Warum sah er jetzt so verletzt und betroffen aus? "Lutscha ham" verkündete Yolanda und griff energisch nach meiner Handtasche. "Wie alt ist denn die Kleine?" fragte er tonlos und ich fand plötzlich, Yolanda war ein ganz außergewöhnlich wunderbares Kind, aber wie alt sie nun genau war, das wußte ich wirklich nicht.

"Sie wird vier", meinte ich und das würde Yolanda ja auch sicher irgendwann werden und war es bestimmt noch nicht. War also nicht gelogen. Ihm würde ganz sicher nicht auffallen, daß ich das Alter nicht bis auf Wochen und Monate und Tage angab wie eine 'echte' Mama. "Und wie geht es Dir so, arbeitest Du noch in Deinem alten Job?" Der Kerl war völlig von den Socken. Hatte ich es doch glatt gewagt, nach ihm weiterzuleben und jemand anderen kennenzulernen und sogar einen Ableger in die Welt zu setzen! "Klar." meinte ich und hoffte nur, daß das Gespräch so glatt weiterlaufen würde. Ohne daß ich wirklich lügen mußte. Jetzt sah er auch noch so beeindruckt aus, aber irgendwie so aufgesetzt - so, als ob er eine auswendiggelernte Meinung aufsagen würde. "So eine Doppelbelastung mit Familie und Haushalt stelle ich mir aber extrem anstrengend vor." Deswegen sehe ich ja so verschwitzt aus, dachte ich eindringlich und meinte "Du, es gibt auch Männer, die einfach so mal richtig mit anpacken und wo die Aufgabenverteilung total gut klappt." So, jetzt habe ich's Dir aber gegeben... und vielleicht treffe ich ja wirklich mal so ein seltenes Exemplar?

"Sicher." meinte er. Natürlich bügelte seine Mutter ihm noch die Hemden, das war unverkennbar. "Die Kleine ist niedlich. Ich hoffe, Du bist glücklich...." Leidender Tonfall. Ach bitte nicht auf die Mitleidstour, dachte ich ohne Punkt und Komma und mit einer gewissen kleinen bohrenden Wut. "Warum soll ich denn nicht glücklich sein, Rainer? Aber darüber muß ich nicht ausdrücklich reden, das würde sich ja anhören, als müßte ich es dringend mir selbst und anderen beweisen und dann wäre ich's ja wohl ganz offensichtlich nicht." Diese Sorte Gespräche - sein bohrendes Nachforschen und mein Unwille, Selbstverständlichkeiten zu Tode zu diskutieren - waren einer der Gründe für unsere Trennung gewesen, wie mir jetzt wieder einfiel.

Yolanda hatte nun genug. "Mama!" erklärte sie entschieden mit bebender Unterlippe und nickte mit dem bezopften Kinderköpfchen in Richtung Ausgang. Diesen Wunsch konnte ich erfüllen, mußte ich sogar erfüllen, wenn ich nicht auffliegen wollte. Ich bedankte mich bei der Verkäuferin, verabschiedete mich mit einem unschuldigen lieben kleinen Wangenküßchen von Rainer, der im übrigen trotz Dackelblick und Leidensmiene nicht so aussah, als würde er einsam verkümmern und knallte mit dem Kinderwägelchen die Stufen hinunter und über die Baustelle. Was für ein Glück, daß Yolanda so einen ausgeglichenen Magen zu haben schien.

Die Mutter bedankte sich überschwenglich und zerrte die Kleine direkt aus dem Wagen, um die lange Trennung durch eine gründliche körperliche Untersuchung abzuschließen. Meine Einkäufe wirkten, als hätte ich sie an einem Strick hinter dem Kinderwagen herschleifen lassen und ähnlich sah ich auch selbst aus. Aber ich fühlte mich ganz zufrieden. Wie wäre die Begegnung mit Rainer verlaufen, wenn ich das Kind nicht zufällig dabeigehabt hätte? Er hätte wie jedesmal demonstrativ und ausführlich von seiner neüsten Freundin erzählt - die wurden immer jünger, immer dünner und immer naiver (".... sie ist total süß, echt lieb und unkompliziert...") und hielten immer seltener länger als zwei Monate. Trotzdem hätte ich mich blöd und ersetzt gefühlt, gegen jede Logik und jeden Verstand, einfach, weil man sich immer so fühlt, wenn man einen Ex trifft, der... weitergelebt hat, statt sich vor den Zug zu werfen? Nein, so war es schon OK gewesen. Ein bißchen Grinsen am Ende eines so langen Tages konnte schließlich auch nicht schaden. Und mein vorübergehender Kinderwunsch war auch erfüllt worden. Vorübergehend.

Copyright Carola Heine

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