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Prager Jude-Sein

Der Autobiographie "Bodenlos" ist ein Textfragment aus den letzten Lebensjahren "Bis ins dritte und vierte Geschlecht" beigegeben, worin Vilém Flusser über sich sagt:

"Er hat sein Leben damit verbracht, diese seine Prager-Jude-Bedingung zu überholen, und am Ende hat er feststellen müssen, daß er sich die Sache zu einfach gemacht hat. Er hat nämlich nie tatsächlich versucht, Prager Jude im ganzen Sinn dieses Wortes zu sein, und er weiß nicht einmal, welcher dieser ganze Sinn ist. Daher ist für ihn dieser Text ein verspäteter Versuch, sich über sein Menschsein Rechenschaft abzulegen." (S. 267f)

Wir lesen diese Passage als Brevier Flusserscher Lebenskunst:

  1. Wir müssen unsere Lebensbedingungen radikal annehmen. Fliehen können wir erst, wenn wir das Programm dieser Lebensbedingungen in allen Einzelheiten analysiert haben. Du mußt den Mechanismus kennen, um ihn auseinandernehmen zu können. In der kognitiven Durcharbeitung der Umstände entstehen diese noch einmal - aber als Bild. Du steckst noch drin, aber das Bild ist schon draußen. Das Bild ist die Wirklichkeit noch einmal - aber virtuell, im Zustand der Möglichkeit. Diese Doppelbedeutung steckt im Wort "annehmen". Fleurop steht mit einem Blumenstrauß vor der Tür. Nimmst Du ihn an, ist er da. Du kannst aber auch annehmen, daß Dir jemand einen Blumenstrauß schickt. Wo ist der Strauß jetzt?

  2. Je besser Du eine Situation angenommen hast, um so besser kannst Du sie überwinden. Verstehst Du jetzt, wie "Fotokritik" und "Menschwerdung" bei Flusser zusammenhängen? Die technischen Medien funktionieren als programmierte Apparate. Wenn Du sie "bedienst", bist Du nichts anderes als ein Funktionär des Programms. Du hast Dich dem Apparat unterworfen, Du bist ein Sub-jekt. Lämmer gehen zur Schlachtbank, Subjekte in Ehebetten, Büros und Seminare. Freut sich das Programm: "Da kommt schon wieder dieses Subjekt!" Hast Du aber das Programm angenommen, also seinen Funktionalismus zerlegt, dann kannst Du womöglich das Programm gegen sich selber ausspielen und ihm Darstellungen abzwingen, die so nicht in ihm vorgesehen waren. Ein gutes Foto ist ein überraschendes Foto. Es überrascht das Programm des Fotoapparats, das die gezeigte Ansicht garnicht machen wollte. Scratch ist Musik - bis Scratch-Programme den Stecker ziehen. Und was ist mit Deinem Photoshop? Wie willst Du dieses Programm überlisten? Nach Flusser (oder nach dem Flusser-Programm?) hängt Deine Menschwerdung davon ab.

  3. Das Scheitern ist vorprogrammiert. Körper sind sterblich. Deshalb halte ich Klonen für ein menschliches Grundrecht. Gerade weil mir selbst immer nur Fluchten auf Widerruf gelingen, soll mein Klon meine Rebellion fortsetzen. Die Kraft unseres Annehmens, so der späte Flusser, reicht einfach nicht. Lebenslang müssen wir das Annehmen vertiefen, aber ein Grund kommt nicht in Sicht. Die Bedingungen des Menschseins überschreiten jede konkrete Existenz. Prager Jude-Sein kann man immer nur im Versuch und das Prager-Jude-Sein-Überholen bleibt eine Abfolge von Essays. Das Projekt der Menschwerdung ist absurd, weil es nur als Mißlingen gelingt. Deshalb wird es zugunsten einer Kultur des Konsums und des Spektakels verabschiedet. Die Kultur des Annehmens schrumpft zum metabolismusgestützten Stoffwechsel (dem Lüstchen für den Tag) und die Kultur der Überschreitung zum K(l)ick der Unterhaltung (dem Lüstchen für die Nacht).

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Reinhold Grether: Die Weltrevolution nach Flusser
präsentiert von Claudia Klinger
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