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Um einen Flusser für China bittend

Nichts prägte den Globalisierungsstil wirtschaftlicher Großunternehmen in den achtziger Jahren mehr als die Triadentheorie Kenichi Ohmaes. Weltmarktführer kann dieser Theorie zufolge nur werden, wer über die Hebel der nordamerikanischen, westeuropäischen und japanischen Finanzzentren in allen drei globalen Großräumen Nord- und Südamerika, Europa und Afrika, Ost- und Südasien die Rangliste der Marktanteile beherrscht.

Das ist seither der Maßstab, an dem menschliche Aktivitäten gemessen werden. Wer also nicht nur in den Nischen der Warenwelt überleben will, sondern irgendeine Art von Projekt zur Geltung bringen möchte, muß einen biographischen Stil entwickeln, der dem weltbeherrschenden Globalismus gewachsen ist.

Flussers von der Lebensstimmung der Bodenlosigkeit geprägte Geste des Annehmens scheint mir hier beispielgebend. Dem Prager Engagement, dessen Einsturz er ins Emblem der Brücke bannt, folgt eine lange Phase des Degagements in der brasilianischen Peripherie. Doch verliert Flusser sich weder in seinen noch den brasilianischen Abgründen, sondern analysiert, unter Hinzuziehung beträchtlichen bibliothekarischen und später auch personellen Weltwissens, beide solange, bis sie in Resonanz zueinander treten. Daraus entsteht das Projekt einer brasilianischen Kultur.

Spielplatz seines brasilianischen Engagements ist im Grunde die Terrasse seines Hauses in São Paulo, auf der die Werte der neuen Kultur verhandelt werden. Es sind seine Besucher, die ihm die Türen der Redaktionen und Hochschulen öffnen. Flusser wird zum erstenmal das, wozu er sich berufen fühlt, "Lehrer und Führer der Jugend" ("Bodenlos", S. 211). Diese Berufung bleibt Kern seines Engagements und Hannah Arendt ("Vita Activa") und Wilhelm Reich ("Die Funktion des Orgasmus") die geistesverwandten inneren Gesprächspartner. Nun schleift der Hader über das Erreichte auf lange Sicht jedes Engagement.

Flusser nennt die Gründe für die Aufgabe des brasilianischen Projekts:

  1. "leichter Sieg und unbefriedigende Folgen" ("Bodenlos", S. 95),
  2. es war nicht der richtige Gottesdienst (S. 185),
  3. der Staatsstreich realisiert das Gegenprojekt einer nationaltechnokratischen brasilianischen Kultur (S. 256).

Als gelernter Migrant packt er seine Tasche, die er in Paris sowohl verliert als wiederfindet, um auf dem alten Kontinent dem degagierten Modus seiner Berufung, der "Berufung zur Schreibmaschine" (S. 73) nachzugehen. Die Ortswechsel von Meran über Fontevrault nach Peypin und Robion machen deutlich, wie schwierig es in internetlosen Zeiten war, einen geeigneten Lebensmittelpunkt für das sich nun abzeichnende zweite, die Suche nach dem neuen Menschen gesteigert wiederholende Flussersche Projekt, das einer telematischen Kultur, zu finden.

Publikationsmöglichkeiten blieben rar, das deutsche Projekt eines Brasilienbuchs war im Sande verlaufen, ob die italienische Karte gespielt wurde, ist nicht bekannt, die amerikanischen Kontakte führten nur zu punktuellen Einladungen wie zur Fernsehkonferenz des "Museum of Modern Art" 1974, und in Frankreich, wo 1972/73 immerhin zwei Bücher ("Dinge und Undinge", München/Wien: Hanser 1993, basiert auf einem davon) erschienen, kam Flussers Stil nicht an.

In den siebziger Jahren war Flusser out of time und die Grundstimmung der Bodenlosigkeit mußte erneut akkulturiert werden. Ein Düsseldorfer Symposium über Fotografie im Februar 1981, das auch Andreas Müller-Pohle besucht, erweist sich im historischen Rückblick als das entscheidende Sprungbrett, das Vilém Flusser in sein zweites Engagement, das für die bislang degagiert entwickelte telematische Kultur, katapultiert. Und die Form dieses Engagements ist nun nicht mehr die Terrasse, auf der nur noch Louis Bec herumsitzt, sondern eben der Sprung von Sprungbrett zu Sprungbrett, wie es sich für die neue Link-Kultur gehört.

Daß die tschechische Versuchung einen Schlußstrich gezogen hätte, wollen wir nicht glauben. In Kashgar (Sinkiang) ist, verläßlichen Berichten folgend, kürzlich ein in verschossene Parkas gewickeltes Paar gehörigen Alters aufgetaucht. Der von seiner Frau geführte Mann, der wüstenfarbene Rollis bevorzugt, läßt im Eifer des Gesprächs gelegentlich das künstliche Gebiß kreißen und spricht in akzentuiertem Uigurisch, Tibetisch und Mandarin über das Seidenstraßenparadigma einer neonomadischen Weltkultur.

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Reinhold Grether: Die Weltrevolution nach Flusser
präsentiert von Claudia Klinger
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