Menü + FAQ + Briefe + Foto + Statistik + Forum + Kontakt? + mehr...

Das Neueste steht zu oberst. Ein RELOAD bringt Dir die aktuelle Version. Außenlinks öffnen ein zweites Browserfenster - manchmal, manchmal auch nicht.
 

 

19:04:00 lesn & schrieben

Na, es hat mich doch leicht erschüttert, zu bemerken, daß der Titel des letzten Eintrags zwei Tage lang falsch geschrieben im Diary stand. Im Rahmen des Möglichen achte ich nämlich darauf, zumindest in Web-Veröffentlichungen Flüchtigkeitsfehler zu vermeiden und lese immer alles nochmal durch. Offensichtlich reicht das nicht, das Hirn setzt beim Lesen automatisch fehlende Buchstaben ein und so rutscht immer wieder etwas durch.
 
In den E-Mails ist alles noch weit schlimmer: hier reagiere ich oft spontan, vertippen inklusive. Gelegentlich ist es ganz lustig, was dabei dann 'rüberkommt, doch manchmal stehen mir auch die Haare zu Berge! Zu Zeiten der Papierbriefe konnte ich doch noch richtig schreiben - warum läßt das nach? Wie kommen solche Vertipper überhaupt zustande? Offenbar liegt es am Tippen selbst, an der Tastatur - und an dieser Medium-typischen Ungeduld, der Eile, in der alles stattfindet. Schließlich warten immer noch soundsoviel Kommunikationsangebote und Infos auf die Behandlung, da hält man sich nicht lange an der Form auf.
 
Beim Lesen von Tageszeitungen und Magazinen merke ich, daß auch dort das Fehleraufkommen gewaltig gestiegen ist. Und oft lese ich Schlagzeilen, die es garnicht geben dürfte - erst beim zweiten Blick wird klar, daß mir mal wieder der "Ergänzungsautomatismus" im Kopf einen Streich gespielt hat. Ein kleines Mädchen aus meinem Bekanntenkreis hat große Schwierigkeiten, überhaupt lesen und schreiben zu lernen: Sie glaubt, schon nach den ersten drei Buchstaben zu wissen, was es für ein Wort ist und liest einfach nicht weiter. Das ist der gleiche Mechanismus, doch hätte ich nicht angenommen, daß er schon bei 8-Jährigen 'funktioniert'.
 
Immer mehr Texte entstehen, mehr Papiere, mehr Webseiten, mehr E-Mails, mehr Bücher und Zeitschriften. Doch während diese Flut gewaltig anschwillt, verfällt die Fähigkeit, die doch Bedingung ihrer Existenz ist: das lesn & schrieben.
 
Vielleicht sollten wir wirklich schnellstens lernen, in Bildern zu kommunizieren, bevor die Texte gänzlich unlesbar werden.
 
 

17:04:00 Alternativen

Morgens um 7 - naja, manchmal auch etwas später - setze ich mich vor's Gerät. An guten Tagen bleibt das Mailprogramm, dieses Scheunentor zur Welt, erstmal unberührt, ich rufe den Editor auf und warte, daß mir etwas einfällt. Eine angenehme Art der Besinnung, der Geist sucht nicht, sondern "hört" - etwas, das kaum mehr funktioniert, wenn ich schon 40 verschiedene Infos und Kommunikationsangebote 'reingelassen habe. Tagebuch-Schreiben ist praktische Selbstverteidigung gegen die zentrifugalen Kräfte, die das Denken in 1000 Richtungen ziehen - durchaus interessante, spannende, manchmal wichtige, meist aber unwichtige Richtungen, zwischen denen das "Ich" zerissen und zerrieben wird und die Fähigkeit zu verlieren droht, "wichtig" und "unwichtig" zu unterscheiden.
 
Was für das Denken das ziellose Schreiben ist, läßt sich für den Körper sehr viel schwieriger finden. Immer wieder nehme ich mir vor, täglich eine halbe Stunde spazieren zu gehen oder Yoga zu üben - und halte es dann doch nur kurze Zeit durch. Der Sauna-Besuch alle zwei Wochen macht immer wieder deutlich, wie sehr ich unter dieser sitzenden Lebensweise leide - ein Leiden, das im Alltag leicht vergessen wird, es gibt ja so viel Spannendes zu tun.... Wobei "tun" immer nur Tasten-Hacken und Maus-Klicken bedeutet, immer wieder sitzen, sitzen, sitzen...
 
In den letzten Monaten kann ich es nicht mehr vergessen. Da hilft kein noch so komfortabler Bürostuhl: ich MUSS die Zeit einschränken, die ich vor diesem Apparat sitze. Und ich tue es zunehmend GERN. Beginne, knallhart denn computerfreien Sonntag zu verteidigen, Ausflüge und Besuche zu machen, bin sogar so vermessen, einen "Feierabend" einzuführen und die Abende anders zu verbringen, sei es auch nur mit einem Film oder einem Buch. Das ist zwar nicht die große Abwechslung, was den Körper betrifft, aber immerhin kann man dabei LIEGEN.
 
Kürzlich war ich in der Schweriner Oper - zum ersten Mal im Leben, eingeladen von Freunden, die da einen ulkigen Statistenjob haben. Mein Gott, ich und Oper! Immer hatte ich diese volksferne Hochkultur elitärer Bildungsbürger verabscheut, ohne je einen Versuch zu machen. Es war eine Rossini-Oper, unter dem Titel "Ein Türke in Mecklenburg" modernisiert - und wirklich stellenweise sehr lustig! Der ganze Event, das Lokalkolorit, das etwas herunter gekommene Opernhaus, die alles andere als elitäre Atmosphäre (keine "großen Abendroben" wie in Berlin) und die bewundernswerten Leistungen der Sänger haben mir gefallen - nach einer kleinen Gewöhnungsphase, in der mir die Schlichtheit der erzählten Geschichte rund um Liebe, (Un-)Treue und Eifersucht fast peinlich war. Intellektueller Hochmut, ganz klar, den ich seltsamerweise nicht spüre, wenn ich einen Fantasy-Roman lese oder im TV einen Psycho-Thriller ansehe.
 
Demnächst werde ich mal das Theater antesten - auch etwas eher Fremdes für mich. Oder auch mal sehen, was die Volkshochschule hier so bietet, es muß ja nicht unbedingt "Eier-bemalen-in-sorbischer-Wachsmaltechnik" sein. Hauptsache offline!
 
 

13:04:00 Welle der Unterstützung

Als ich gestern morgen den Diary-Eintrag zum Abmahnwahn in Sachen Stefan Münz auch in die Liste Netzliteratur und bei den I-Workern abschickte, ging eine Rakete los: Eine Welle der Unterstützung rollte an, wie ich sie im Netz lange nicht mehr wahrgenommen hatte - der Punkt, der das Faß zum Überlaufen bringt, ist augenscheinlich gekommen. Spätnachmittags erreichte die spontane Spendenaktion für den Prozeß die bemerkenswerte Summe von 2400,- - das reicht praktisch schon für die erste Instanz!
 
Zwar kritisieren einige, daß es erst jetzt, wo eine "Berühmtheit" zum Opfer geworden sei, zu solchen Aktivitäten komme. Wenn ein "Niemand" zu Unrecht abgemahnt werde, habe das keinen geschert.
 
Oh doch! Aber ich sehe keinen Sinn darin, aktiv zu werden, weil irgendwo Firmy xyz, die keiner kennt, oder Homepager X, der wahrscheinlich auch gleich die Unterlassungserklärung unterschreibt, betroffen ist. Wir können von "Glück" sagen, dass es jetzt Stefan getroffen hat! Erst einmal ist er nicht "irgendwie" bekannt, sondern steht durch sein jahrelanges Wirken für echte Netzwerte, fuer ein offenes und freies Verlinken (Hypertext) und fuer Grosszügigkeit im Verteilen von Informationen.
 
Zudem hat er es nicht einfach hingenommen und bezahlt, oder hingenommen und abgewartet, bis die Gegenseite ihn verklagt, sondern hat selber Gegenklage eingereicht und ist bereit, die Sache auszufechten.
 
Das kann ein XY nicht einfach so bringen, wohl aber Stefan, der doch auf eine gewisse Restsolidarität all derjenigen hoffen darf, denen er im Lauf der Jahre genuetzt hat - kostenlos. Da für Stefan die geforderten 1800,- Abmahngebühren allein sicher keinen Grund zum aufwendigen Gerichtsverfahren darstellen, bin ich ihm ausgesprochen dankbar, dass er bereit ist, "für die Sache" in die Vollen zu gehen. Denn es eröffnet die echte Chance, die Sache erstens gerichtlich vom Tisch zu bekommen und zweitens vielleicht sogar in Richtung Gesetzesinitiative zu mobilisieren. "Wegen Münz" machen viele mit, und man braucht nun mal sehr viele. Klappt das dann, nutzt es allen, auch dem letzten kleinen Krauter.
 
Mehr Info:
 
heise online am 12.04.2000 ueber den Fall:
http://www.heise.de/newsticker/data/atr-12.04.00-001/ Stefan Münz über die Bedeutung von Links im Web und die Konsequenzen der Abmahnpraxis:
"Recht und Links - alles legal ...?"
 
 

13:04:00 Es reicht! Helft Stefan Münz!

Wieder einmal geht etwas vor, das jedem wachen Menschen die Haare zu Berge stehen und an unserem Rechtssystem verzweifeln läßt! Ein einschlägig bekannter Rechtsanwalt verschickt reihenweise Abmahnungen an Webseiteninhaber wegen eines Links auf ein Programm, das den Begriff "Explorer" im Titel trägt. Auf dieses allgemein übliche Wort hat nämlich jemand MARKENSCHUTZ angemeldet, man glaubt es nicht! Und der geschäftstüchtige RA schickt Kostenbescheide über 1800,- mit dem Hinweis, man hätte ja vor Setzen des Links eine MARKENRECHERCHE durchführen können. Jawoll, man kann sich leicht ausrechnen, was das jeden kosten würde, der eine web-übliche Linkliste führt!
 
Auch Stefan Münz, der berühmte Verfassser der Dokumentation Selfhtml, von der die meisten hierzulande das Webben gelernt haben, hat es erwischt. Trickreich mahnt der Rechtsanwalt in diesem Fall auch alle Hoster von "Spiegelungen" der Dokumentation ab, das lohnt sich dann so richtig.
 
Leute, die Zeiten sind ja leider vorbei, in denen ein allgemeines Bewußtsein der Netizens herrschte, das es ermöglichte, gegen jeden Angriff auf Einzelne sofort vorzugehen. Heute fragen mich Menschen tatsächlich, ob ich ihnen gestatte, einen Link zu meinen Seiten zu setzen, das muß man sich mal vorstellen! Der Hypertextgedanke ist völlig ins Hintertreffen geraten und viele haben einfach Angst und ziehen den Kopf ein, wenn da irgendwer wegen noch so abstruser Dinge Abmahnungen schickt.
 
Aber irgendwo ist Ende! Es muß Punkte geben, an denen man sagt: Stop! Bis hierher und nicht weiter! Wenn sich Vorstellungen stabilisieren, wie die, daß man erst Markenrecherchen durchführen muß, bevor man sich trauen darf, einen Link zu setzen, ist das das Ende des freien Webbens, das Ende des Netzes.
 
Also seid so gut und unterstützt Stefan, unterstützt die Initiative Freedom for Links, setzt das Banner und die Links zu den Infoseiten, redet darüber, wo immer ihr andere Netz-Interessierte trefft. Und die, die ein paar Mark übrig haben, könnten sogar etwas für den Prozeß spenden. Stefan hat sich die Abmahnung nämlich NICHT gefallen lassen und eine negative Feststellungsklage eingereicht. Es soll gerichtlich klargestellt werden, wie weit oder wie kurz die Freiheit des Vernetzens reicht. Ich denke, die Erfogschancen stehen gut - doch normalerweise lassen sich Leute allein schon von den Erfordernissen des Rechtswegs abschrecken. Stefan nicht! Und darüber freue ich mich.
 
 

12:04:00 Launen

Tja, nun bin ich doch wieder beim "Ich" - vermutlich müßte es mir kontinuierlich schlecht gehen, um wirklich literarisch zu werden! Immer, wenn eine wichtige Website gestalterische Anfangsprobleme aufwirft, die nicht einfach so durch "mehr arbeiten" geändert werden können, gerate ich in eine Mißstimmung, die mir das Leben verdüstert. Ich weiß dann einfach nicht, was tun, denn die "Einfälle" lassen sich nicht befehlen und so sitze ich grübelnd vor dem problematischen Entwurf und komme in immer miesere Stimmung. Dann ist wirklich abschalten angesagt und etwas anderes tun. Eigentlich weiß ich das seit langem, doch regelmäßig verbinde ich den Ablauf mit allerlei negativen Gedanken über die Welt schlechthin. Wahrscheinlich muß es mir schlecht gehen, damit ich es wieder genießen kann, wenn die Dinge nur so flutschen. Ach je, was für komische Wesen wir doch sind....
 
Ein paar schöne Augen hab ich im Web gefunden!
 
 

10:04:00 3 Tage offline

Was für ein Gefühl, die Feder des Füllhalters über ein Papier zu führen und Spuren zu hinterlassen! Seltsam verkrüppelt die Schrift, aus der Übung die Hand, deren Zeigefinger nur noch den Mausklick kennt, deren Fingerkuppen viel lieber gegen harte Tasten hacken, anstatt den eleganten Lamy in diskziplinierten Schwüngen durch ein Nichts zu manövrieren.
 
Papier, mein Gott, echtes Papier, das einmal beschrieben unveränderbar bleibt und dadurch seine Unvollkommenheit zeigt. Allenfalls vernichtbar, verbrennbar, unübersehbar vergänglich. Ihre Hand fühlt sich steif an, es ist so kalt, daß sie schon nach einer Viertelstunde kapituliert. Trotz des wolkenlosen Tages, der grellen Morgensonne, den optimistisch zwitschernden Vögeln und der ganzen Idylle, die ein Mecklenburger Herrenhaus-Park vermitteln kann, ist es unter freiem Himmel nicht mehr auszuhalten. Widerstrebend steht sie vom Gartentisch auf, kippt den Rest des kalt gewordenen Kaffees auf die Wiese, drückt die Zigarette in das ökologisch korrekte Kippensammelglas und steigt durch das ebenerdig gelegene Küchenfenster ins Haus. Es ist nicht zu umgehen, dem Gerät - zumindest räumlich - wieder näher zu treten.
 
Im Zimmer angekommen, wählt sie den zweiten Tisch, der gewöhnlich nur als Ablage für unabweisbare Papiere dient: Rechnungen, Behördenschreiben und ein paar Arbeitsunterlagen, mit höherer Macht per Post oder Fax in ihre Welt getreten, die sie doch gegen Papiereingänge so weit als möglich abgeschottet hat. Papier ist Körperverletzung, es häuft sich an und dominiert binnen weniger Tage jede freie Stelle, wenn man ihm nicht in aller Entschlossenheit entgegentritt und es ohne Zögern ins Recycling weiterleitet. Es okkupiert den Geist, denn es müssen Angaben zum Verbleib gespeichert und Ordnungssysteme regelmäßig aktualisiert werden. Bei alledem verstaubt es schnell, so daß jede Suchaktion schon bald den Geruchssinn beleidigt, die Augen tränen läßt und Putz- und Abstaubarbeiten nahelegt - ein Elend gebiert das Andere...
 
Da ihre Papiervermeidungsstragtegien erfolgreich sind, blockiert nur noch ein kleiner Stapel den zweiten Tisch, der schnell beiseite geschoben ist. Platz genug, um die antiquierte Position des Handschreibers einzunehmen. Sie tut es und genießt unverhofft den freien Platz vor sich. Es fehlt das Gegenüber, das alle Blicke auf sich zieht, denn das Gerät steht jetzt über Eck, nur von der Seite zu sehen. Dunkel der Monitor, eine auffällige Stille füllt das Zimmer ohne das tiefe Brummen und Blasen, das normalerweise von früh bis spät das sanfte Zischen der Heizung und den noch leiseren Ton der nicht ausschaltbaren Lüftung im Bad übertönt.
 
Es ist der dritte Tag fern vom Gerät, und die Welt beginnt, sich aus der Enge des Nadelöhrs zu lösen, durch das sie sich gewöhnlich in ihre Wahrnehmung quetscht. Es könnte der Beginn von etwas ganz Anderem sein, doch sie weiß, daß es gleichzeitig der letzte Tag ist. Sie kann die Leine in die Länge ziehen, jedoch nicht durchtrennen. Welch' lächerliche Geste, mit der Hand auf richtigem Papier den Widerstand zu proben, ganz wie ein Kind sich die Augen zuhält, um vom Monster nicht gesehen zu werden!
 
Monster? Widerstand? Mit Verwunderung beobachtet sie die eigentümliche Stimmung, die von ihr Besitz ergreift, je länger sie sich dem Einschaltknopf verweigert. Immerhin ist es die Machtmaschine, um die es hier geht. Sie kennt das Gefühl des Amputiertseins, wenn sie fehlt, den mangelnden Zugriff auf einen großen Teils des Gedächtnisses und das Fehlen fast aller Aktionsmöglichkeiten. Sie kennt die Befriedigung, wenn das Gerät hochfährt, die Netzwerkverbindung hergestellt ist, wenn die Welt der Möglichkeiten ihr zu Füßen liegt und vermeintlich geduldig auf ihre "Eingaben" wartet.
 
Eingaben? Waren nicht "Eingaben" das einzige Mittel, dem Staatsratsvorsitzenden der ehemaligen DDR mit einem Anliegen zu kommen? Mein Gott, was für ketzerische Gedanken! Sie schaudert. Was hier auf einmal als eine neue Stimmung an die Oberfläche tritt, betrifft die Grundpfeiler ihrer Existenz, die Symbiose mit dem Alles-ist-möglich-Gerät. Es ist ihr Tor zur Welt, zur Arbeit, zum Spiel, zu unzähligen Menschen, die - voreinander geschützt durch das Interface zwischen den Gesichtern - zusammenwirken, um das Mögliche wirklich zu machen. Nicht zuletzt ist es der Goldesel, Produktionsmittel für ihr bequemes Leben, das sie in ein entlegenes Schloß in Mecklenburg versetzt hat. Wo ihr Blick ungehindert über Wiesen und Bäume streifen kann, hinaus ins leere Land, in dem nur noch ein paar Übrig-gebliebene ihre großen Landmaschinen auf- und abfahren, Gülle verspritzen und nach Subventionen verlangen, anstatt zivilisiert in die Monitore zu schauen.
 
Sie beschließt, mit dem Ich-Sagen aufzuhören. Wie wäre denn ernsthaft ein 'Ich' zu behaupten, angeschlossen ans Netz der Möglichkeiten, doch ohne die eine, auf die es ankäme: den hereinkommenden Anweisungen und Vorschlägen zu entkommen? Wählen, ja, wählen geht, wählen ist Pflicht, ist hochbezahlte Kunst. Sie wählt, welche Mail sie beantwortet, welcher Idee sie Entfaltung gönnt, zu wem sie "ja" oder "nein" oder "später mehr" sagt. Sie kann die Programme wählen, mit denen sie die Texte und Bilder entstehen läßt, die an Stelle der Welt getreten sind. Sie ist ein kundiges und erfahrenes interaktives Element, immer bereit, die Zeit zwischen zwei Mausklicks zu verkürzen, noch ein paar Entscheidungen mehr in den Tag zu pressen, noch ein paar neue Möglichkeiten wahrzunehmen und wirklich werden zu lassen, indem sie in den Netzen neue Knoten knüpft. Was gäbe es auch sonst zu tun?
 
Während nun schon etwas flüssiger der Federhalter über das Papier gleitet, denkt sie daran, wie sie schon bald diesen Text in die Tasten tippen wird. Tippen muß, denn was soll ein Text auf Papier? Papier ist "draußen" und alles Draußen ist Vorstufe, Stoff, Material, allenfalls Ideengeber für das Digi-Tal, in dem die Dinge zum eigentlichen SEIN gelangen: unendlich kopierbar, allseits benutzbar, weder wachsend noch verstaubend, potentiell unvergänglich.
 
Sie spürt ihre Traurigkeit und versucht, weder davor zurückzuschrecken, noch ein Aufhebens darum zu machen. Gefühle sind vergänglich. Draußen tschilpt ein Vogel, drei kurze Töne hintereinander. Hat nicht gestern ihr Lebensgefährte zwei CDs mit Vogelstimmen gekauft? Ob sie mal eben das Gerät einschaltet, um nachzusehen, welcher Vogel da singt?
 
 

06:04:00 Vergessen tut gut...

schreibt Ingo Mack in seinem Rundumschlag zum Leben in der Wissensgesellschaft:

"Ich an eine Lebensweise, die nicht nur noch durch Onlinebanking, ecommerce Warentausch und Bannerwerbungsgeflimmer bestimmt ist."

heisst es weiter und klingt wie eine Beschwörung. Ingo hat jedoch das Glück, seine Brötchen mit einer handfesten körperlichen Arbeit zu verdienen und läuft kaum Gefahr, sich völlig in den virtuellen Welten zu verlieren. Wer dagegen - wie ich - als "Info-Arbeiter" sein Auskommen fristet, muß das "Real Life" geradezu zelebrieren, es erst veranstalten, zumindest fühlt es sich so an, solange kein Wirbelsturm und keine Eiszeit die tägliche Monitor-Monotonie gewaltsam unterbricht.
 
Spaziergänge, Sauna-Besuche, Gartenarbeit, Kochen, Yoga-Übungen - alles braucht vorher einen gewissen "Ruck", um sich vom Gerät zu lösen. Besonders, wenn ein Projekt viel Arbeit macht, denke ich nur noch ans Weiter-machen, an's Fertig-Werden, sitze wie eine Blöde vor dem PC, hacke in die Tasten und neige dazu, die real existierende Körperwelt zu vergessen. Doch es geht nicht unbegrenzt so weiter, mir scheint, eine Krankheit macht sich bereit, mich zu stoppen. Trotzdem denke ich, völlig unvernünftig: Mensch, noch ein bis zwei Wochen Ranklotzen, das muß doch gehen....
 
 

03:04:00 Auf dem Affenfelsen

Sonntagmorgen in der Sauna. "Karibik-Insel" heißt der wunderbare Ort, der mich für einen Spottpreis von 18 Mark binnen einer halben Stunde in eine andere Daseinsweise katapultiert. Mehrere Saunen, ein Dampfbad, ein Hotwirl-Pool, in der Mitte ein Schwimmbecken. Der große Raum auf mehreren Ebenen bietet freien Blick nach draußen, ja, ich kann - eingehüllt in nicht mehr als ein Handtuch - draußen herumlaufen, die frische Luft genießen und mich wundern, daß ich nicht friere. Schon nach dem ersten Saunagang und dem Abtauchen ins eiskalte Tauchbecken kommt ein Wohlgefühl auf, daß so viel stärker ist, als alles, was mir im computerisierten Alltag zustoßen kann, daß es mir zu denken gibt.
 
Denken? Später! Es ist gerade das Angenehme an den hart kontrastierten Sinneswahrnehmungen, daß sie vom Denken entlasten. Der Urlaub findet im Kopf statt, allerdings kann es der Kopf alleine dahin nicht bringen. Ich wage mich in den Schneeraum mit seinen -18 Grad, lasse mich im Pool auf der Wasserorberfläche treiben, dann wieder die 75-Grad-Sauna, zusammen mit etwa 15 Männern und Frauen: das Glück des Affenfelsens. Völlig entspannt sitzen dicke und dünne, trainierte und schwabblige, alte und junge Menschen auf den warmen Bänken, wollen nichts und fürchten nichts, nicht einmal die Blicke des Anderen.
 
Wieder einmal wird mir klar: es gibt kein Glück jenseits des Körpers. Kein Erfolg, kein Kontostand, kein "Funktionieren", und am allerwenigsten "Ruhm & Ehre" bringen auch nur ein Fitzelchen des Wohlgefühls, daß mir der Affenfelsen schenkt. Wie oft muß ich das eigentlich noch feststellen, bevor ich endlich daraus Konsequenzen ziehe? Warum reibe ich mich immer noch und immer wieder derart auf? Warum arbeite ich, bis mir die Augen tränen und der Rücken vom vielen Sitzen schmerzt? Bin ich wahnsinnig?
 
Offenbar ja. Genauso wahnsinnig, wie all die Menschen, die mit aller Kraft die Welt "voran" treiben, die den Fortschritt in Szene setzen, von dem sie dann aufgefressen werden. Die "Pflicht", die Projekte, die Ziele, die Erwartungen, die Zukunft - alles Abstrakta, die man nicht anfassen kann, die uns aber nichtsdestotrotz durchs Leben hetzen, als wäre eine Goldmedaille zu gewinnen. Was aber kann man mit einer Medaille schon anfangen, selbst wenn es eine gäbe?
 
Wir haben lange schon den Punkt überschritten, wo ein materielles "Mehr" sinnlos wird. Denn materielle Freuden sind sinnliche Freuden, die mittels eines "Mehr" ab einem bestimmten Punkt nicht mehr gesteigert werden können. Im Gegenteil, sie schlagen in Leiden und Überdruß um. Mann kann nicht immer mehr essen, eine noch heißere Sauna aufsuchen oder sich länger massieren lassen. Das "Mehr" der sinnlichen Freuden ist nicht mittels Steigerung des Inputs zu haben, sondern allein durch Sensibilisierung, durch ein Subtiler-werden der Sinne. Und diesen Punkt haben wir verpasst, verpassen ihn täglich neu. Anstatt das, was vorhanden ist, was oft sogar billig oder ganz kostenlos ist, durch Bewußtheit und Beschränkung intensiver genießen zu lernen, wenden wir uns den Abstrakta zu, dem unendlichen "Mehr" und strampeln uns ab im Rattenrennen ums goldene Kalb.
 
Die Bemühung, auch noch den Sonntag zum normalen Arbeitstag zu machen, ist nur vordergründig wirtschaftlich begründbar. Auf's Ganze gesehen ist es ein wichtiger Schritt in die Vollendung der Bewußtlosigkeit: Bloß keine Insel mehr in der Zeit, keine Lücke im Getriebe, durch die man erkennen könnte: Es geht auch anders. Ich brauche ja gar nicht MEHR.
 
----- Es sind Leserbriefe gekommen, herzlichen Dank! Ich werde sie in den nächsten Tagen bringen, jetzt ruft mich die Arbeit... :-)
 
 

31:03:00 Wissensgesellschaft?

Der "Mensch auf der Straße" sagt die Aktienkurse treffender voraus als die Analysten und Experten der Banken und Fontgesellschaften, das hat eine Umfrage ergeben, die kürzlich durch die Medien ging. Ich staune und frage mich: Ist das denn nur bei Aktien so?
 
Alle reden von der "Wissensgesellschaft". Schulen und Universitäten sollen grundstürzend reformiert werden, um endlich wieder Menschen in die Welt zu entlassen, die sich im Ozean der Informationen zurecht finden. Jeder ist gefordert, lebenslang in immer neuen Bereichen zum Experten zu werden, ganz wie der Markt es braucht. Der "Ruck", den Roman Herzog einforderte, erschüttert nun schon einige Zeit die Deutschland AG - wir kommen an in der Wissensgesellschaft, spät, aber doch.
 
Wissen als ob
 
Seit 1992 arbeite ich am PC, es ist mittlerweile der vierte. Da ich keine Freude daran habe, in die Tiefen des Systems einzusteigen, brauchte ich in dieser Zeit öfter mal Hilfe. Voller Ehrfurcht rückte ich dann einen zweiten Stuhl neben den Experten, der meiner Maschine wieder aufhelfen sollte, und beobachtete gespannt, wie er das anging. Fragte - begierig, es wenigstens zu WISSEN, wenn schon nicht zu können - immer mal: Was machst du jetzt? Woher kommt dieses Problem? Warum verhält sich das jetzt so?
 
Und es zeigte sich: meistens wußte er es auch nicht, ja, wollte es garnicht wissen! Das ganze Gewürge, oft mehrere Stunden lang, bestand aus lauter "Trial & Error", durchtesten einzelner Systemkomponenten und Softwaremodule, wobei "Verdächtige" dann halt mal versuchsweise ausgetauscht oder neu installiert wurden. Irgendwann klappte dann alles wieder, wenigstens für einige Zeit. "Was war es denn jetzt?" - auf diese Frage bekam ich keine befriedigende Antwort. Mein Experte war glücklicherweise ein Freund, der seine Unwissenheit nicht zu verbergen suchte, auch deshalb nicht, weil er sie als in seinem Metier ganz normal empfand.
 
Meine Ehrfurcht vor dem Wissen des PC-Experten war natürlich dahin - zu Unrecht, ich hatte einfach einen veralteten Begriff von Wissen, nämlich als "Durchschauen von Ursache und Wirkung". Gerade das wird in einer immer komplexeren Welt offenbar unmöglich und "Wissen" heißt heute: mit dieser Tatsache umgehen können, eine Art "Wissen als ob".
 
Weiter: In grauer Vorzeit, als die Autos noch keine Elektronik hatten, fuhren meine Freunde sogenannte Schrottautos. Die hatten gelegentlich - meist mitten im Urlaub - katastrophale Pannen. Kundig schaute dann mein jeweiliger Herzbube unter die Motorhaube, ruckelte hier, klopfte da (mir sagte der Anblick nichts!) und schon WUSSTE er. Und oft konnte er mit Draht, Isolierband, Schraubenzieher und Stahlbürstchen etwas ausrichten, bzw. wußte genau, welches Teil jetzt den Geist aufgegeben hatte. Ich lernte so durch blosses Zusehen im Laufe einiger Jahre mit wechselnden Freunden viel vom Auto, allerdings eher so, wie man sich Vokabeln merkt, ohne jedes Verstehen der Zusammenhänge. Bei einer Panne konnte ich schon mal sagen: "Das ist wahrscheinlich die Lichtmaschine!" und meinen Fahrer beeindrucken. Ha, Wissen als ob! Ich war auf dem besten Weg in die Wissensgesellschaft....
 
Vision: Ahnungslose vor!
 
Schaut man zurück in dunkle Zeiten, als das Volk noch nicht lesen und schreiben konnte, so sieht man den Aufstieg des Experten: zunächst als Schreib- und Rechenkundiger, dann als Universalgelehrter, schließlich als Spezialist. Mit der Auffächerung der Wissenschaft entstand im 20. Jahrhundert das Problem des mangelnden Überblicks, Zusammenhänge konnten nicht mehr gesehen werden von Experten, die in einem einzigen Spezialgebiet firm, doch ansonsten Idioten (=Privatmänner) waren. "Interdisziplinär" ist seit langem das Zauberwort, doch kaum jemand schafft es, diesem Anspruch zu genügen. Niemand?
 
Da heute fast jeder in irgend einem Gebiet Experte ist und wir ganz allgemein ständig mit Informationen über Dies&Das zugeschüttet werden, stelle ich mir vor, daß morgen der Ahnungslose gefragt sein könnte, der Nicht-Experte. Seltene Menschen, die es verstehen, sich vor dem "Wissen als ob" zu schützen, werden zu hochbezahlten Workshops eingeladen, wo hilflose Experten, unterstützt von vermittelnden Sprachkundigen, ihre Probleme vortragen - in der Hoffnung, den "geistig Armen" werde spontan, auf dem Weg des ansonsten verlustig gegangenen gesunden Menschenverstands die gewünschte Erleuchtung kommen.
 
Die Banken und Fonds könnten die ersten sein, die einschlägige Beratergremien installieren, andere werden folgen. Und sobald die Medien darüber berichten, wie lukrativ ein Engagement als Ahnungsloser sein kann, werden Bildungseinrichtungen neuer Art entstehen: Orte, an denen es weder TV, noch Bücher oder Zeitungen und auch keinen Netzanschluß gibt. Idyllische Etablissements, einzig dazu da, um das "Wissen" zu vergessen, die übervollen Köpfe zu entleeren. Texte sind verbannt, dafür gibt es Ballspiele, um wieder Zugang zu "Ursache & Wirkung" zu vermitteln - und vielleicht Gartenarbeit, um die Erfahrung zu ermöglichen, wie etwas von selbst entsteht.
 
Mit dem Aufstieg der so ausgebildeten Ahnungslosen könnte sich die Mode verändern: Ohrstöpsel (ohne Anschluß an einen Walkman!) und Scheuklappen tauchen auf, mit denen sich die Menschen davor schützen, beim Spazierengehen unerwünschte Schlagzeilen und Fachgespräche aufzunehmen. Ein neuer Assistentenjob entsteht, da die Ahnungslosen jemanden brauchen, der als Schnittstelle zur verwalteten Welt ihre Angelegenheiten ordnet. Und diese selbst schauen nur mitleidig auf die armselige Masse herab, die mit Cyberbrille und Headset (oder entsprechenden Implantaten) allzeit online sein muß.....
 

 
+ E-Mail schreiben?
 
 


© 1996-2000 Claudia Klinger
Digital Diary - www.claudia-klinger.de/digidiary/