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Elaine

von Jörg Malsch

Schreie laut, wenn Du willst. Ich bin der flammende Hahn auf dem Dachfirst und Dein Entsetzen fließt warm in meinen schwarzen Adern. Deinen vor Angst flatternder Schatten atme ich wie süßen Moderduft. Das Grauen, in dessen kalten Stahlgriff Du zitterst, ist meine Nahrung. Alpträume streicheln meine Haut und ich bin gekleidet in die Farben des schleichenden Wahnsinns. Denn ich bin mächtiger als Heroin und älter als die Alkaloide der Nachtschattengewächse. Und noch nimmt Dein Bewußtsein nur ein schwaches Abbild meiner wahren Gestalt wahr...

Screamin Jay Hawkins. Verstört glitt Elaine aus der Scheinwelt zwischen Schlafen und Wachen. Was passierte eigentlich in dieser gottverdammten Welt? Blues am Morgen aus einem Radiowecker, den sie für neun Pfund fünfzig in Skibbereen gekauft hatte. 6 Uhr 15 und irgendein Idiot wagte es, Screamin Jay Hawkins anstelle von Sonny&Cher, The Mammas&Papas oder den Beach Boys auf dem Lokalsender zu spielen. Wut brodelte mit der Heftigkeit einer taktischen Nuklearwaffe in ihr auf. Sie fuhr halb auf, riß das Telefon vom Nachttischkasten und selbst im Dunklen fanden ihre Finger auf dem Tastenfeld den Weg ins Studio.

Nachdem sie dem verantwortlichen DJ mit einer Haßtirade den Tag versaut hatte, begann Elaine, sich besser zu fühlen. Sie hatte das Telefon zurückgestellt, das Licht angeknipst und dabei einen nur zur Hälfte gerauchten Joint gefunden. Das Zimmer füllte sich langsam mit dem Aroma hawaianischen Grases und ihr Blick schwebte zum Dachfenster. In der Dunkelheit draußen konnte sie nichts außer ihrem eigenen Spiegelbild erkennen. Eine junge Frau, die im orangefarbenen Schein einer Nachttischlampe auf der Bettkannte saß. Rotes Haar, daß an hohen, bleichen Wangen vorbei über ihre Brust floß, um ihr beim Ausatmen des Rauches sanft den Bauch zu kitzeln. Ihre vollen Hüften schienen zu lächeln, und sie sah die Hand eines Mannes, die schaftrunken an ihr Halt gefunden hatte. Die Berührung war mehr ein Spiel des Zufalls als eine erkennbares Versprechen. Elaine spürte, wie sich an ihrem ganzen Körper das Flaumhaar aufstellte. Wer war der Fremde, was war letzte Nacht geschehen? War er das wohlige Schaudern wert, das seine Hand auf ihrer Haut entfachte?

Es war nicht das erste Mal, daß sie neben einem Mann aufwachte, den sie erst am Abend zuvor kennengelernt hatte. Einige waren in ihrer Erinnerung verblaßt, gesichtslose Schemen und vage Formen geworden, wenige hatte sie sich aufbewahrt. Dabei gab es kein auffälliges Muster, es waren Besoffene dabei gewesen, unfähig, etwas außer ihnen selbst zu empfinden, und zärtliche Liebhaber, mit denen sie lustvolle Stunden verlebt hatte. Dieser hier war zumindestens ein halbwegs hübscher Bursche. Elaine gab schnell auf, sein Alter zu schätzen. Den Händen nach war er sicher älter als sie, aber sein Gesicht strahlte zugleich Jugendhaftigkeit und eine gewisse Durchtriebenheit aus. Kein Gesicht für die Titelseite des Time Magazine, aber je länger sie seine Züge musterte, desto mehr verstrickte sie sich in diesem Netzt aus lachenden Fältchen, sanften Hügeln und verborgenen Tälern...

Die Glut ihres Joints erstickte mit einem leisen Knistern in schwarzem Ruß, als ihre Hand an seinem ausgestreckten Arm entlangwanderte. Haut glitt auf Haut dahin. Nein, sie würde heute nicht zur Arbeit erscheinen. Sie würde sich wieder neben den fremden, warmen Körper legen und versuchen, sich daran zu erinnern, ob es schön gewesen war, mit ihm das Kopfkissen zu teilen. Hunger erwachte in ihr, nach Haferbrötchen und nach Zärtlichkeit. Nach einem kurzen Moment der Unentschlossenheit stand sie auf und zog sich an.

Es war ein Privileg, über einer Bäckerei zu wohnen. Ein Privileg, das sie sich mit dem Gehalt einer besseren Werbetexterin leistete. Schon beim Öffnen der Wohnungstür hatte sie der Geruch von frischem Brot narkotisiert. Nun fand sie sich barfuß in ihrer Küche wieder, desillusioniert durch die Dämmerung, die nasskalt durch das halb geöffnete Fenster strich und einen verhangenen Himmel entschleierte. Ihr vom Dope aufgerüttelter Magen knurrte angriffslustig. Elaine riß das braune Papier der Tüte auf und machte sich mit Heißhunger über die dunklen Brötchen her, die sich ängstlich hinter einem Panzer aus Butter und Honig versteckten. Erst, nachdem das letzte im Abgrund zwischen ihren schmalen Lippen verschwunden war, fiel ihr der Fremde wieder ein.

Leise schlüpfte sie aus dem schwarzen T-Shirt und der BlueJeans und öffnete die Schlafzimmertür. Sein im Schlaf gefangener Körper verströmte mehr sexuelle Energie, als das Halbdunkel des Raumes bedecken konnte. Gehüllt in die Aura des Geheimnisvollen - Elaines Gedächtnis weigerte sich noch immer, selbst Fragmente des gestrigen Abends preiszugeben - schien jeder seiner kräftigen Atemzüge Vorbote der Ekstase zu sein. Hatte er ihr seinen Namen nicht gesagt? Egal. Sie würde ihn noch eine kleine Weile schlafen lassen, und dann würde sie ihm die Seele aus dem Leib ficken. Und er ihr.

Die Stimme aus dem Lautsprecher hauchte Belangloses von grünen Wiesen, kaltem Regen und Heimweh. Der Mann ließ seinen Blick durch die leere Kneipe wandern, ohne den Kopf zu bewegen. Noch war er der einzige Gast. Hätte um diese Zeit ein Fremder die schwere Eichentür geöffnet, so hätte er den Mann, der auf seinem Barhocher wie ein irischer Don Quichotte auf einer ächzenden Rosinante hockte, wohl für ein weiteres Möbelstück gehalten. Sein Gesicht besaß die Farbe des Nußholzes, aus dem die runden Tische mit den geschnitzten Füßen geschaffen worden waren. Seine Augen hatten im Laufe der Zeit den erdigen Ton von Kilkenny angenommen. Ein bauchiges Bierglas schien ihm anstelle einer Hand aus dem rechten Ärmel seiner Joppe wachsen. Der linke Arm lag flach auf dem Schanktisch und wirkte im rauchigen Licht der Hängelampe wie ein Bestandteil der Zapfanlage. Selbst einem aufmerksamen Fremden wäre das Fehlen seines Schattens auf dem unregelmäßigen Muster des grauen Steinbodens entgangen.

"Mann, im Laden war heute echt die Hölle los." Der sichtlich angetrunkene Fachverkäufer versuchte Eindruck bei dem stupsnäsigen Mädchen zu schinden, daß rechts neben dem Mann auf dem Hocker hin- und herrutschte. Keiner von beiden hatte Notiz von ihm genommen, ihm, der im zunehmenden Lärm des allabendlichen Feierabendpublikums stumm sein Glas leerte. Für den Bartender war sein Bierglas nur eines von vielen, das zu füllen war, und es gab Seltsameres auf der Welt als ein Gast, der stets kurz nach ihm erschien, nie ein Wort sprach, zur Sperrstunde verschwand und immer korrekt zahlte. Sicher, ab und an wurde er versehentlich angerempelt. Manchmal war ihm schon zugeprostet oder ein kurzes Lächeln geschenkt worden. Aber niemals verweilte die Aufmerksamkeit der anderen länger als einen Augenblick auf ihm.

Früher hätte ihm weniger als diese Zeitspanne genügt, um Leidenschaft zu wecken, Sehnsucht und Begierde, Durst nach Wissen, Macht und Liebe. Mit einem Fingerschnippen hatte er jeden von den Ketten der Konvention befreit und Inspiration war die Droge gewesen, die ungezählten Geistern Flügel hatte wachsen lassen. Und dennoch hatten ihn die Menschen gefürchtet, gehaßt und waren ihm mit paranoidem Mißtrauen begegnet, denn er hatte sie stets mit dem Grauenvollsten konfrontiert, was ihm möglich war, und das waren sie selbst gewesen. Nun jedoch war seine Zeit vorbei, entschwunden wie ein einsamer Cowboy im Sonnenuntergang und die einzige ihm verbliebene Macht beschränkte sich darauf, Münzen aus seiner Tasche auf den Tresen wandern zu lassen. Müde war er geworden, ein Stück Treibgut in einem immerfort kreisenden Mahlstrom, so vollgesogen mit schweren Erinnerungen, daß er unterzugehen drohte. Für ihn gab es keine Rettung, keine Erlösung, niemanden, der seine weltverbrannte Seele ein letztesmal küssen würde... Das Mädchen mit der Stupsnase wandte sich ihm zu. "Bin ich froh, daß dieser Typ endlich abgezogen ist. Ehrlich, der hat vielleicht genervt," sagte sie mit rauchiger Stimme, "nichts als blablabla..." Er erwiderte nichts. Sie legte den Kopf schief und betrachtete ihn aus den grünen Augen der Moorseen. "Du bist mehr so der stille Zuhörer, habe ich recht? Du gefällst mir." Ihre Hand lag leicht auf seiner Schulter wie Mondschein auf einem vergessenen Land, als er ihr den Kopf zudrehte. Tief ruhte sein Blick in ihrem Gesicht. "Ich heiße Elaine, und wie ist dein Name?"

Dezember 1998

© Jörg Malsch

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