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Beim Bäcker - Ein Wachtraum 

von Hans-Peter Müller

Ein schwüles Klima heute. In jeder Hinsicht. 
Er hatte den Mittag im Biergarten in lustvoller Trägheit vertrödelt, genoss es, Zeit zu haben, gönnte sich die Unvernunft einer heiteren Benommenheit durch ein viel zu frühes Bier. Hatte dem Treiben der Menschen ohne Ziel zugesehen; sich auch an so manchem schönen Anblick erfreut; ein blitzendes Lachen hier, eine charmante Geste da; die Menschen, lose bekleidet, gaben Einblicke preis, die nur einen Stein kalt gelassen hätten: Es gibt wenig schöneres als das lässige Wiegen der Hüften einer Frau unter sommerlich dünner Kleidung..., dachte er bei sich. Oder die Silhouette eines anmutigen Nackens, die sich in den Schattenriss einer entblössten Schulter und den Ansatz einer Brust fortsetzt ...

Nicht ohne leise Sehnsucht: er hatte sich dann in eine spontane erotische Begegnung mit einer charmanten wie lustvollen Frau hineingeträumt; kein Model-Typ; sondern seine Traumfrau: von lebendigem und offenherzigem Wesen, unverkrampft, in Bewegung: eben alles, was Menschen wahrhaftig schön macht. Sie liesse sich heute in den Tag treiben, wie er. Man komme, am gleichen Tisch sitzend, mehr zufällig ins Gespräch; beschliesse dann in spontaner wie unverfänglicher Sympathie, durch die belebte Geschäftsstrasse zu schlendern: in angeregter Unterhaltung; das eine Bier zuviel von vorhin löse Zungen und Hemmungen; der Nachmittag verflöge im Nu; Berührungen verlören zunehmend an Zufälligkeit; als sie im Taxi den Nachhauseweg anstrebten, flüsterte sie ihm plötzlich ins Ohr: Mit Dir könnte ich heute noch eine Menge Spass haben .... Der Hauch ihres Atems an seinem Nacken elektrisiere ihn und werfe seine gesamte innere Ordnung durcheinander ... 
Was ist Erotik anderes als die Bereitschaft, sich von einem anderen Menschen verwirren, im wahrsten Sinne des Wortes: den Kopf verdrehen zu lassen... 

Er hatte sich losgerissen von diesem Tagtraum; umgeben von Menschen, die sich, aller Lockerheit von Kleidung und Gesprächen zum Trotz, eher den Anschein von Festungen gaben. Manche Formen von Heiterkeit sind so undurchdringlich wie ein Dornröschenschloss..., schoss es ihm, leise enttäuscht, durch den angenebelten Kopf.

Er schlenderte träge nach Hause; blieb aber - gleichsam magisch angezogen - stehen und setzte sich auf eine kleine Bank; gegenüber die kleine Bäckerei, die er so gut kannte - die heute aber eine ganz besondere Ausstrahlung zu haben schien: etwas Flirrendes ging von dem Treiben der Menschen dort aus; er vermochte nicht zu unterscheiden, ob dies real war - oder eine Fata Morgana seiner (durch den vorherigen Tagtraum) erotisierten Stimmung. Es kam ihm vor, als hätten die Gesten und Bewegungen vieler Menschen vor und im Laden heute eine besondere Offenherzigkeit; als offenbarten und verdichteten sich dort, wie unter einem Brennglas, alle sonst so sorgfältig verborgenen oder gezähmten heimlichen Phantasien zu einer Börse der uneingestandenen Wünsche. Was wäre, wenn.., dachte er bei sich in einer Mischung aus liebevoller Ironie und Bedauern, was wäre, wenn sie es denn wirklich täten? Die Angst vor Nähe - warum nicht auch in einem spontan gelebten erotischen Austausch ohne Bindung - ist dann doch meistens stärker als der Wunsch nach ihr... .

Ein wundervoller Anblick unterbrach jählings seinen Gedankenflug. Eine Frau schlenderte geradewegs auf ihn zu; er musste sich zwingen, sie nicht anzustarren, schien sie ihm doch förmlich wie eine Materialisierung seiner mittäglichen Phantasie: keine ebenmässige Figur, aber welch eine Haltung! Stolz, jedoch nicht unnahbar; und ein quicklebendiges Gesicht. 
Rücken sie doch bitte ein Stück, sagte sie mit einem entwaffnenden Lächeln, ich will doch auch mal sehen, was hier so interessant ist.... Sprach's und nahm Platz - ohne durch ihre Haltung den üblichen Kilometer inneren Abstands einzunehmen, der so alltäglich geworden ist (selbst in der Sardinenbüchse einer überfüllten U-Bahn). Bleib mir ja vom Hals!, sprechen diese Körper; und kleben an ihrer geliebt-verhassten Einsamkeit. Nicht aber der ihre. 
Minutenlanges Schweigen. Seines eher das einer stummen Revolution im Ameisenhaufen; ihres anscheinend in sich ruhend. 
Was ist denn da los?, brach sie die Stille mit neugieriger Verwunderung. In dieser Bäckerei? Nicht nur drinnen, grinste sie. Sehen Sie das denn nicht? 

Er entrang sich ein vieldeutiges Schon .. und schalt sich einen feigen, unsicheren Stockfisch. Nahm seinen ganzen Mut zusammen und fügte hinzu: Spannend. Nein, besser: Spannung. Zwischen Mann und Frau, auch: zwischen Mann und Mann ... Anziehung, Wünsche, aber auch: Geschlechterkampf und -krampf. Eigentlich unangebrachte, aber sehr machtvolle Hemmungen als allgegenwärtiges Hindernis. Zuviel im Kopf, zu wenig mit den Sinnen. Das spielt sich dort ab. Auffallend deutlich. 
Sie zog, mit unnachahmlichem Charme, eine Augenbraue hoch und überliess seiner Intuition, ob diese Geste Ironie oder Anerkennung ausdrückte. Kurze Pause. 
Jaa, gedehnt-wohliger Seufzer, während sie die Arme verführerisch ausbreitete, aber dieser Tag ist dazu auch wie geschaffen ... - und gab dann durch einen unvermittelten Ruck zu verstehen, dass sie nun aufbrechen werde. Er wusste nicht, was ihn trieb - aber er ging einfach mit; sie schien nichts dagegen zu haben.

Einen aufregenden Spaziergang später: Küsse in irgendeinem wohltuend kühlen Hausflur, immer wilder .. dann eine Treppe hinauf, unsicheren Gangs (längst kein Alkoholrausch mehr - sondern der schönste, den es gibt...), unterbrochen durch fiebriges Abtasten, sehnsüchtig wie ängstlich: Tu es! Will ich zuviel? Nein!... Doch!...; eine Tür wird hastig aufgeschlossen ... 
Dann zärtliche Überfälle auf ohnehin fallende Bastionen: Kleidungsstücke, Haut, Körperteile ... Magie, Zauber, Kopflosigkeit ... bedingungslose Hingabe,Vereinigung ... 
Trennung.

Irgendwann wachte er fröstelnd auf. Tiefblaue Nacht. Er sass (immer noch? wieder?) auf der Parkbank gegenüber der Bäckerei. 
Und haderte noch wochenlang mit jenem einen Bier zuviel, dem er (zusammen mit der Hitze? Oder mit seiner bedingungslosen Kapitulation an die Begegnung?) die Schuld daran gab, dass er nie sicher sein würde, was an dieser Begegnung traumhaft schöne Wirklichkeit - und was daran ein wirklich schöner Traum gewesen war. Hans Peter Müller im Januar '97


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