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Mira Schendel

Gab sich der späte Flusser auch als Kunstverächter, barg sein brasilianisches Heim doch ein kleines Museum. Mira Schendels auf den Biennalen von São Paulo und Venedig gezeigte, von der Decke hängende Platte beschrieb Flusser so:

"Sie besteht aus zwei durchsichtigen Acrylplatten von ungefähr eineinhalb mal eineinhalb Metern, die zusammengeklammert wurden. Zwischen die beiden Platten sind hauchdünne Bögen aus durchsichtigem Reispapier so geheftet, daß sie sich teilweise überdecken.

Die Papiere sind mit schwarzen Zeichen beschrieben. Andere Zeichen wurden auf die vier Seiten (die beiden Innen-, und die beiden Außenseiten) der Acrylplatten geschrieben. Da dies alles vollkommen durchsichtig ist, steht der Beobachter vor einem Text, durch den hindurch er in den Raum blickt. Und da die Platte leicht mit jedem Luftzug mitschwingt, so sieht der Beobachter einen Text, der sich im Raum (in seinem Kontext) ständig verändert.

Der Text bietet sich dem Beobachter von zwei Seiten, den beiden Oberflächen der hängenden Platte aus dar. Selbstredend ist es derselbe Text von seinen beiden Seiten gesehen, aber die eine Seite ist nicht nur das Spiegelbild der anderen, sondern die verschiedenen Schichten sind von ihr aus umgekehrt gelagert. Der Text besteht aus mindestens vier verschiedenen Arten von Zeichen: Druckbuchstaben, lateinischen Schriftbuchstaben, Zahlen und kalligraphischen Schriftzügen. Diese Zeichen bilden Gestalten, je nach der Blickrichtung des Beschauers, also als traditionelle Zeilen, als vertikale Zeilen, als diagonale Zeilen und als in die dritte Dimension weisende Zeilen.

Manche dieser Gestalten ergeben Worte und Sätze verschiedener Sprachen, wobei man allerdings den Eindruck hat, diese Worte und Sätze irgendwie selbst gebildet zu haben. Andere ergeben Bilder von Szenen, etwa eines Bienenschwarms aus "a", oder eines aufmarschierenden, aus "b" bestehenden Heeres. Andere wieder ergeben geometrische Formationen (zum Beispiel Spiralen). Aber alle diese Gestalten heben einander auf, weil sie für viele andere durchsichtig sind und dadurch verneint werden.

Der Gesamteindruck ist der eines völlig bedeutungslosen Textes, der aber an allen Stellen entzifferbar ist, wenn man diesen Stellen ausschließliche Aufmerksamkeit widmet. In diesem Sinn ist die Platte eine Landkarte der Welt, so wie sie sich in ihrer Durchsichtigkeit und letzten Bedeutungslosigkeit heute dem Menschen darbietet. Und bei all dem hat das Werk eine deutliche ästhetische Wirkung: Es fasziniert und fordert heraus, immer wieder entziffert zu werden, von seiner dekorativen Funktion im Raum ganz zu schweigen. Trotz ihrer Durchsichtigkeit dominiert die Platte ihre ganze Umgebung."
("Bodenlos", S. 200f)

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Reinhold Grether: Die Weltrevolution nach Flusser
präsentiert von Claudia Klinger
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