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Telematischer Messianismus

Telematik und Messianismus zielen auf ein Herausreißen des Menschen aus allen gewohnheitsmäßigen Bindungen. Beide gehen davon aus, daß die institutionellen und kommunikativen Strukturen des Alltags der eigentlichen Menschwerdung entgegenstehen.

Wenn man diese Strukturen verteufelt, zerstört oder zu ändern versucht, verpaßt man vielleicht das beste. Vielleicht sollte man die dichtgepackte Engstirnigkeit des Alltags loben, weil sie ein so hervorragendes Sprungbrett abgibt. Jedenfalls sind sich die Weisheitslehren aller Zeiten einig, daß ein vegetatives Menschenleben nur durch eine radikale Kehrtwendung ("volte-face" = "Purzelbaum" bei Flusser) in einen reflexiven Zustand überspringt. Der Streit geht dann darüber, ob der Mensch sich selbst ergreifen oder in Gott und der Welt verlieren soll.

Telematik und Messianismus kommen darin überein, daß sie das Antworten in den Mittelpunkt stellen. Wenn die Welt mit Diskursen überfrachtet ist und wenn der Messias vorübergegangen ist, kommt alles auf meine Antwort an. Indem ich antworte, wird die Welt dialogischer, indem ich antworte, trage ich den messianischen Funken weiter. Es ist also der von Buber, den Flusser noch in Prag hörte, entwickelte und von Lévinas zur Reife geführte dialogische Personalismus, den Flusser in das Projekt einer telematischen Gesellschaft einträgt. Das Antlitz des Anderen ist nichts anderes als der Widerschein des Messias, der mich unendlich verpflichtet. Telematik ist für Flusser also nicht die Verabschiedung des Nächsten, um mich in vollendeter Verantwortungslosigkeit dem Fernsten zuzuwenden, sondern Proxemik, Heranholen des Fernsten durch "Tele", um mich diesem auszuliefern.

Darüber ist sich Flusser bereits 1977 in den "Vorlesungen zur Kommunikologie" an der Universität Marseille-Luminy klargeworden:

"Wenn der Mensch als der "andere" Gottes und Gott als der "andere" des Menschen angesehen wird, dann versteht es sich von selbst, daß jeder Mensch als "mein anderer" für mich ein Aspekt Gottes ist. Um dies untheologisch zu sagen: In dem Maß, in dem ein anderer "du" zu mir sagt, und nur in diesem Maß, kann ich mich als ein "ich" annehmen. Daher ist die jüdisch-christliche Religiosität der Ausdruck einer Anthropologie, laut welcher der Mensch erst im Dialog mit anderen Mensch wird. Das meint die Bibel, wenn sie sagt, der Weg zu Gott gehe durch die Liebe zum Nächsten. Es handelt sich hier weder um eine Vermenschlichung Gottes (eine anthropomorphe Theologie), noch um eine Vergöttlichung des Menschen (eine theomorphe Anthropologie), sondern um eine Sakralisierung des anderen."
("Kommunikologie", S. 295)

"Akzeptiert man die vorgeschlagene These als Arbeitshypothese, dann gewinnt die jüngst entstandene Netzstruktur ein geradezu faszinierendes Interesse. Man kann sich nämlich fragen, ob, und wenn ja, in welchem Maße Netzsysteme wie das Telefon und die Post in den Dienst jenes Aspekts des Dialogs gestellt werden können, den die jüdische Analyse betont und der in den traditionellen Medien zu kurz kommt. Wenn Medien wie Marktplatz und runder Tisch einer utopisierenden Politik gedient haben, aber es heute nicht mehr tun können, werden in der Zukunft Medien wie Post und Telefon einer messianisierenden Politik dienen?

Eine solche Frage ist nicht so absurd, wie sie auf den ersten Blick zu sein scheint. Denn das Charakteristische an der Netzstruktur ist geradezu, daß jeder Partner des Dialogs mit jedem anderen verbunden ist, also "du" zu ihm sagen kann, und daß das Fehlen einer Mitte, wie sie die Kreisstruktur aufweist, das Interesse vom Thema ablenkt und dem dialogischen Prozeß selbst zuwendet. Man geht auf den Markt, um etwas zu tauschen, aber man telefoniert, um mit jemandem zu sprechen." (S. 297)

"An vielen Orten lassen sich Versuche beobachten, neue Netzstrukturen aufzustellen. Kabeltelevision, programmierte Erziehung, Computerdialoge, Telex einerseits, Videobänder, Graffiti, soziologische Kunst, Gruppentherapie andererseits sind Beispiele für solche Versuche. Auch die chinesischen Wandzeitungen und die Kibbuzim lassen sich in diesem Zusammenhang erwähnen. Man kann den Eindruck bekommen, daß überall das Gefühl wach wird, daß Netzdialoge zu einem politischen Leben in einem neuen, vorher nie verwirklichten Sinn führen können. Aber es läßt sich auch nicht leugnen, daß sich dies alles im Empirischen abspielt. Eine der wichtigsten Herausforderungen an eine tatsächlich wirksame Kommunikationstheorie besteht darin, diese Experimente theoretisch zu stützen." (S. 298)

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Reinhold Grether: Die Weltrevolution nach Flusser
präsentiert von Claudia Klinger
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