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F l u s s e r   -   auf dem Lande

 


 

  

Holländischer Pavillon
für die Weltausstellung
in Hannover
[5]

Entwerfen von Natur
 
Der Vortrag von Philip Oswalt (Architekt und Lehrbeauftragter an der TU und an der HDK Berlin) galt dem "Entwerfen von Natur." Oswalts Flusser-Interpretation, wie auch der Rest seiner Darstellung, die bestrebt war, Texte und Bilder zusammenzuführen, war interessant, und seine Grundthese der Auflösung des Gegensatzes von Natur und Kultur, die auch bei Flusser von Anfang an ein absolut zentrales Thema darstellt, durchaus provozierend. Das Irritierende, wenn nicht Irreleitende an seinem Ansatz aber war, daß Flussers eigene Vision einer sich frei entwerfenden Menschheit ohne explizit formulierte ethische Dimension eigentlich nicht denkbar ist.
 
Wie auch in der anschließenden Diskussion deutlich wurde, kann Flusser wohl kaum dazu herangezogen werden, einen sich als wertfrei ausgebenden Diskurs der technologischen Machbarkeit zu legitimieren. In Oswalts Ausführungen fehlte es an relativierenden Momenten. Flusser in einem Interview (Zwiegespräche: S. 81 und 83):

"In dem Augenblick, in dem wir fähig sind, das kalkulatorische Denken ins Konkrete zu setzen, ist es möglich, Dinge zu erzeugen, die in dieser Welt nicht möglich sind; zugleich mit dieser an die göttliche Kreativität erinnernden Fähigkeiten kommt (jedoch) auch das Bewußtsein über das Absurde des Unternehmens."

Man kann der entropischen Grundtendenz des Universums entgegenarbeiten, sollte dabei aber nicht vergessen, "daß man diese Tendenz nicht besiegt, sondern nur hinauszögert, und daß alles, was wir tun und sind, verdammt ist, in Vergessenheit zu geraten."
 
Der Pavillon
 
Besonders eindrucksvoll war Oswalts Schilderung des Entwurfs des holländischen Pavillons (siehe Foto) für die Weltausstellung in Hannover im Jahr 2000, an dessen Konzeption er selbst mitarbeitete. Dieser soll, so Oswalt, "die Künstlichkeit der Natur" aufzeigen.

"Er ist als eine vertikale Stapelung von Natur konzipiert: Wälder, Tomatenplantagen, Seen, Sümpfe werden übereinandergestapelt. Jedes Stockwerk wird von einem anderen Biotop besiedelt. In ihrer Gesamtheit bilden die verschiedenen Biotope ein künstliches Ökosystem. Der Pavillon ist dabei zugleich Park wie Fabrik. Die verschiedenen Stockwerke erfüllen unterschiedliche Funktionen - Pflanzen gewinnen Biomasse als Treibstoff, Pflanzen erzeugen Lebensmittel, Pflanzen reinigen Wasser. Eine Pflanzenfabrik. Und zugleich dient diese Fabrik der Erholung: die Fabrik wird zu einem Park, der Park wird zur Fabrik. Der Pavillon ist ein Versuch, ein neues Verständnis von Natur zu entwickeln, eine neue Art von Natur zu entwerfen."

 
Ein solcher Ansatz sei, so Oswalt, in einem Land eher denkbar, das sich einen Großteil seiner Umwelt per Kultivierung dem Meer abgetrotzt habe.

 
 

Faszination und Verkennung
 
Dirk Matejovski (Geschäftsführer des Wissenschaftzentrums NRW) befaßte sich am Sonntag morgen mit "Faszination und Verkennung. Der Medientheoretiker Vilém Flusser". Es ging ihm dabei darum, einige Aspekte der Wirkungsgeschichte von Flussers Reden und Texten, zentrale Motive seines Denkens und die von ihm ausgehenden Impulse herauszuarbeiten. Der Referent ging auf Flussers Ansätze zu "Bilder", "Texte" und "telematische Gesellschaft" ein und zog dabei insbesondere zum letzten Punkt einen Vortrag heran, der im Kontext des Wissenschaftszentrums entstanden ist, "Die Auswanderung der Zahlen aus dem alphanumerischen Code".
 
Dieser Text (publiziert im Magazin des Wissenschaftszentrums Nr. 2 von 1991, S. 14-17) stelle eine Art Verdichtung Flusserscher Thesen dar und spitze die Trennung der zwei Kulturen der Naturwissenschaften auf der einen Seite und der Geistes- und Kulturwissenschaften auf der anderen auf die These zu, daß "diese Prädominanz der numerisch geschulten Elite (...) zu einer deutlichen Suspendierung alter Politikmodelle [führe]".

Matejovski gelang es nach unserem Eindruck sehr gut, die Mehrschichtigkeit, Polyvalenz und auch persönliche Ambivalenz des Flusserschen Nachdenkens über neue Medien deutlich zu machen, eine Art "wilde Medientheorie", die sich klarer disziplinärer und/oder ideologischer Zuordnungen entziehe und von daher weitere Impulse entwickele.

"Weder ist er den medien- und zivilisationskritischen Skeptikern noch den technizistischen Fortschrittseuphorikern gänzlich zuzurechnen. Es liegt etwas Schwebendes, Tastendes, suchend Meditatives über seinen entsprechenden Einschätzungen."

 
 

Textolatrie und Religiosität
 
Als letzter Vortrag folgte sodann Edgar Bauer (Heidelberg) mit zehn Thesen zu "Vilém Flusser - Textolatrie und Religiosität". Er unternahm den Versuch, Flusser nicht als Medientheoretiker oder als Sprachphilosoph zu charakterisieren, sondern als einen Denker, der sich intensiv auch mit dem jüdischen Erbe auseinandersetzte. Und obwohl Bauer einen dichten Text vortrug, bei dem es nicht immer einfach war, die paraphrasierende Kennzeichnung von der weitergehenden Interpretation zu unterscheiden, war diese Profilierung der Flusserschen Thesen gegen einen jüdisch-religiösen Hintergrund das Spannende in diesem Beitrag.
 
Bauer sah einen prägenden Einfluß auf Flusser im Werk Franz Kafkas, den Flusser als einen "heterodoxen Propheten in der Tradition Israels" verstehe, wie der Referent gleich einleitend betonte. In diesem Horizont ließe sich "die ontologische Dimensionierung seiner nachgeschichtlichen Reflexion über die Religiosität [suchen], die sich gegen geschichtliche Textolatrie [Textgläubigkeit] und telematische Idolatrie [Bildverliebtheit]" wende. Im Projekt der postmodernen Bodenlosigkeit sei, so Bauer, ein "originärer jüdisch-philosophische Entwurf messianisches Denkens [zu erkennen], für den das Tiefe nicht in einem ... bergenden Fundament, sondern in der Zukünftigkeit der ankommenden Zeit" liege (Zitate nach eigenen Mitschriften).
 
Zum Ende
 
Läßt man diesen Sonntag vormittag nochmals Revue passieren - die mit leichter Hand vorgetragene Charakterisierung Flusserscher medientheoretischer Positionen durch Matejovski, dann die heilige Messe, abgehalten in einem in den 60er Jahren errichteten Zweckbau mit einem stark halligen Ton, wo der Besucher aber trotz aller Widrigkeiten fast mit Händen greifen konnte, was christliche Gemeinschaft heißt, und schließlich die manchmal zum Hermetischen neigende, aber trotz aller Dichte fesselnde Beleuchtung Flusserschen Denkens von den bei ihm auch auszumachenden jüdischen Wurzeln und Traditionen her - dann war diese Abfolge zugleich eine Lehrstunde über Religiosität und über ein Denken, das zwar religiös genannt werden kann, aber a-theologisch, weil dieseitig bleibt, und das das Heilige nicht im Jenseits, sondern im Nächsten erkennt.
 
Keine tröstliche Botschaft, wie es einer Zuhörerin einem Seufzer gleich entfuhr? Auch dies ist wohl eine Frage des Standpunktes. Ein Hoffen auf Erlösung oder ein Hoffen darauf, daß das Dialogische in der Kommunikation aufgehen möge, sogar (oder vielleicht erst?) in telematischen Verschaltungen.
 
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Bernd Wingert
Forschungszentrum Karlsruhe
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Rainer Guldin
Università della Svizzera italiana
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