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Reinhold Grether, Universität Konstanz

Netzliteratur und das globale Imaginäre

Versuch über Welttexte

Hochzeitstext für Axel und Miriam


Mein Thema heißt "Netzliteratur und das globale Imaginäre" und mit dem Netz, der Literatur, dem Globalen und dem Imaginären plumpse ich gleich vierfach in die Nesseln, sofern sich nicht schleunigst ein fünfter Begriff einstellt, der meinen Sturz entweder abfängt oder die Brenn- mit Taubnesseln überwuchert. Lassen Sie mich also mit einem fünften Begriff, dem der Virtualität, einen Bewegungsspielraum umreißen, der den vieren das Niederdrückende nimmt. Dazu ein Märchen.

Jemand stirbt und hinterläßt seinen Nachkommen eine Anzahl Gegenstände und einen Verteilungsschlüssel. Alle wären glücklich, ließen sich die Gegenstände tatsächlich auf die Nachkommen verteilen. Dummerweise geht die Rechnung nicht auf. Kurz bevor die Erben sich die Köpfe einschlagen, kommt ein Fremder hinzu, der ein Exemplar gleicher Art besitzt. Den Ernst der Lage erkennend, überläßt er den Erben seinen Besitz und nun geht die Rechnung auf einmal auf. Nachdem jeder erhalten hat, was ihm nach dem Verteilungsschlüssel zukommt, bleibt unverhofft ein Exemplar übrig. Der Fremde nimmt es an sich und zieht seiner Wege.

Medienanthropologisch gesehen werden Menschen dadurch zu Menschen, daß sie die Ausweglosigkeit ihrer Lage in einem Medium darstellen können. So ist es irgendwann gelungen, eine Beute, anstatt sich über ihre Verteilung die Köpfe einzuschlagen, ins Medium der Sprache zu verschieben und dadurch die Gewalt für einen gewissen Zeitraum aufzuhalten. Entwickelte man diesen kulturbegründenden Impuls über Generationen weiter, wurde die Sprache schließlich so geschmeidig, daß sie nicht nur die Gewalt aufzuhalten, sondern sogar deren Antriebe zu modifizieren vermochte, sodaß das beuteinduzierte Köpfeeinschlagen immer mehr zum Ausnahmezustand wurde. Natürlich machte die mediale Verschiebung die Welt nicht wirklich besser. Die alten Probleme artikulierten sich lediglich um und das neue Medium brachte neue Probleme auf. Deshalb kam es zu einer beschleunigten Entwicklung neuer Medien und dadurch zu einer Beschleunigung der Wiederkehr alter Probleme. Wenn wir nun in digitalen Diskursen die Entwicklung der Virtualität vorantreiben, dann werden auch wir nur neue Artikulationsformen unserer Ausweglosigkeit hervorbringen. Gleichzeitig ist die Wiederaufnahme des kulturbegründenden Impulses die einzige Chance unserer Menschwerdung.

Virtualität kommt von sehr weit her, sie hat die ganze Geschichte der menschlichen Anstrengungen, unhaltbare Lagen durch Traum und Theorie, durch Meditation und Kunst zu übersteigen, intus, und ist dadurch ungemein weich, geschmeidig und großmütig. Während das Spiegelbild nur denjenigen reflektiert, der eben jetzt vor dem Spiegel posiert, sieht Virtualität von gewohnten Unterschieden wie anwesend/abwesend, unbewegt/dynamisch, möglich/unmöglich gerade ab und macht sich einen Spaß daraus, ganze Skalen medialer Formen zu entwickeln und durchzuspielen. Kein Problem also für "Netzliteratur und das globale Imaginäre" im Medium des Virtuellen aufzutauchen.

Gleich werde ich 24 Beispiele bringen und weil die meisten davon sehr bekannt sind, nur einige davon anbeamen. Zuvor noch ein paar Worte zum globalen Imaginären, die auch erhellen, warum ich den Begriff der Netzliteratur sehr weit fasse. Das Globale hat, zumindest anthropologisch gesehen, zwei Dimensionen: die Weite und die Tiefe. Ich kann aus mir herausgehen und ich kann in mich hineingehen, ja in mir versinken. Gehe ich aus mir heraus, begegne ich anderen Menschen und in dieser Begegnung erschließt sich mir der Inbegriff aller möglichen Begegnungen. Die Begegnungsgemeinschaft der lebenden Kulturmenschheit heißt traditionell Ökumene. Ich kann aber auch in mich hineingehen und mental die Skala menschlicher Möglichkeiten entwickeln und mich auf diese Weise als Teil der Menschheit überhaupt empfinden. Die Seelengemeinschaft der Menschheit überhaupt heißt traditionell Kosmopolis. Lasse ich mich tiefer in die mystische Begriffslosigkeit fallen, verschwinden alle Unterschiede, und diejenigen, die aus solchen Zuständen wieder auftauchen, nennen ihn Nirwana. Wichtig in unserem Zusammenhang ist, daß die antike Globalisierungswelle der ersten Achsenzeit multizivilisatorische Begegnungsformate wie die chinesische, die indische, die persische, die makedonische und die römische Ökumene und ihr entsprechende professionalisierte Seelenformate wie die Kosmopolis und das Nirwana hervorbrachte. Und was jetzt auf unseren Nägeln brennt und selbst den Nesselhintern verschmerzen läßt, ist natürlich die Frage, und sie wird die kommenden Jahrzehnte prägen, zu welchen Formatformationen die moderne Globalisierungswelle der zweiten Achsenzeit, deren Zeitgenossen wir sind, vorzustoßen sich anschickt. Sofern es gestattet ist, im Laufe eines digitalen Diskurses eine Analogie zu bemühen, dann zeichnet sich über den noch sichtbaren traditionellen Ökumenen eine universal diversifizierte Weltkultur ab und die traditionellen Seelenformate der Kosmopolis und des Nirwana scheinen sich im Raum des Virtuellen eine dynamische Transformationslandschaft zu erschließen. Revolutionen sind unscheinbar und so mag es nicht ganz nutzlos sein, unsere Wahrnehmung eine Weile auf das globale Imaginäre einzustellen, also auf (meist netzbasierte) symbol- und realitätsentlastete flüchtige Phantasmen, Denkmöglichkeiten, Probeläufe, die sich auf Globales kaprizieren. Netzliteratur ist uns dann schon alles, was das globale Imaginäre aus virtuellen Sprachkontexten herausschneidet, ummontiert und auf sich zurüstet.

Jeder Überblick über "Netzliteratur und das globale Imaginäre" wird bei "La plissure du texte. A Planetary Fairytale" einsetzen, ein von Roy Ascott am Musée d’art moderne de la ville de Paris angesiedeltes, zwischen 8. und 22. Dezember 1983 mit über 600 Mitteilungen auf I.P. Sharp-proprietärer Artex(Artist’s Electronic Exchange Network)-Software über deren Firmennetzwerk laufendes, weltweites Märchenschreibprojekt. Aus den Perspektiven von Tölpel, Hochstapler, Verräter, Weisem, Prinz, Narr, Hexe, Fee, Prinzessin und Zauberlehrling erzählt, ging es, und das ist in unserem Zusammenhang das Entscheidende, gerade nicht um einen gemeinsam zu erstellenden ausgewogenen Text, sondern um parallel prozessierende Produktivitäten, die mit den jeweils vorliegenden Versionen souverän, dreisprachig und ascii-multimedial umgingen.

Erlauben Sie mir gleich zu Beginn einen kontrastiven Abstecher in die Aliteralität künstlerischer Installationen. Martin Kippenberger eröffnete 1993 auf Syros die erste Station seines "Metro-Nets", ein global verteiltes Netz funktionsloser U-Bahn-Eingänge, denen nichts weiter als der schwüle Dunst ventilierter Metroluft entströmt. Seit 1989 baut Eva Wohlgemuth mit ihren "Location Sculptures" ein korrespondierendes Netz markierter Weltpunkte auf, das der Gleichgültigkeit der Kartographie ein System subjektiv aufgeladener Weltorte gegenüberstellt. Maurice Benayoun thematisiert in seiner auf der letzten Ars Electronica gezeigten CAVE-Installation "World Skin: A photo-safari in the land of war" unseren entgeisterten Medientourismus durch wiederkehrende Unheilskulissen, aus denen der Tod längst heraus photographiert worden ist.

Zurück im Netz will ich unter dem Stichwort Polarisierung und Kollaps von Fülle und Leere "Night and Day", die jüngste Arbeit der japanischen Sensorium-Gruppe, mit Hervé Graumann’s "l.o.s.t" konfrontieren. "Night and Day" scheint die ganze Welt umfassen zu wollen, zeigt die Seite doch eine Weltenuhr mit 24 um jeweils 15 Längengrade verschobenen Webcamaufnahmen. Demgegenüber hat in l.o.s.t ein zykloper Cybergott nichts besseres zu tun, als uns in seiner Umnachtung mit Spott und Hohn zu überhäufen. Umgekehrt jedoch wirft l.o.s.t ein witzig-bösartiges Schlaglicht auf die Unbilden virtualisierter "quest", während "Night and Day" sich härmt, daß die 22 besetzten Positionen nicht auf demselben Breitengrad liegen und von unterschiedlich lichtstarken Kameras mit unterschiedlich langen Aufnahmeintervallen stammen.

Das nächste, endlich rein netzliterarische Paar von Arbeiten behandelt grundlegende Fragen des Lebens und dies mit der jedes Grammatologenherz erhebenden Umstellung eines einzigen Buchstabens. Geradezu beschwörend stellt Douglas Davis in der Annonce seines ausgedruckt wohl tausend Seiten übersteigenden "The World’s First Collaborative Sentence" die Frage "Who are you?" und es wäre des Schweißes der Philologen wert, den mikroanthropischen Einzelfiguren dieses textuellen Makroanthropos nachzuforschen. Organisiert Davis das globale Imaginäre gleichsam als selbstverlängernde Warteschleife über demselben Landeplatz, so stellt Olga Kisseleva die leicht verschobene Frage "how are you" einem weltweiten multikulturellen Publikum und formt aus den Antworten den poetischen Hypertext eines imaginären Kollektivsubjekts.

Das kollektive Imaginäre beflügelt eine ganze Palette partizipativer Einschreibangebote, die jedoch nach einer kurzen Phase des Aufschwungs meist knapp über der Grasnarbe dahinschlittern. "A Description of the Equator and Some Øtherlands" von Philip Pocock, Florian Wenz, Udo Noll & Felix Huber zielte nach den Reiseprojekten "arctic circle" und "tropic of cancer" auf die multimediale Mobilisierung der ökumenischen Äquator-Imago. Ähnliche Motive hegt Carolyn Guyer’s "Mother Millennia", das bis zur Jahrtausendwende aus 2000 Mutter-Erinnerungen eine multikulturelle Welt-Mutter-Imago aufzubauen sucht. Am 17. Januar 1999 fehlten allerdings noch 1986 Mütter.

Größeren Zuspruch erfahren Konzeptualisierungen von Zeit, im Kontext des globalen Imaginären von "Weltzeit", die ja schon "Night and Day" in ein Weltbild umzusetzen suchte. Der Sonnenlauf erzwingt eine permanente Rotation der Zeit um den Raum und die Einführung einer globalen normierten Zeit macht die Differenz von Global- und Lokalzeit um so auffälliger. Am eindrucksvollsten veranschaulicht dies die erdumrundende Welle der islamischen Gebetsperformance. Mit dem gleichen Motiv spielt "Noon Quilt", das, als säkulare Variante des Gebetsteppichs, seine Muster denjenigen als Einschreibfenster öffnet, die, von welchem Weltort immer, ihren mittäglichen Fensterausblick in hundert Worte fassen. Neben der ökumenischen gibt es auch eine kosmopolitische Zeit, in der sich die Menschen erinnern. Damit arbeitet Guido Grigat’s "23:40. Das kollektive Gedächtnis", das Erinnerungen an Zeitpunkte in eine 24-Stunden-Uhr einstellt und nur im erinnerungsentsprechenden (einminütigen) Zeitintervall freischaltet. 23:40 enthält bereits 187 Erinnerungen und das Deutsche Literaturarchiv sollte sich langsam Gedanken machen, wie die Erinnerungsuhr der Nachwelt erhalten bleibt.

Text und Bild sind seit Anfang der achtziger Jahre ein eminentes Forschungsthema, nachdem die literarische wie die künstlerische Moderne sowohl den puristischen metaphern- und gegenstandsfreien als auch den opulenten medienverschränkenden, -übersetzenden, -entwendenden intermedialen Pol in allen denk- und undenkbaren Varianten durchgespielt hatten und dadurch die entsprechenden kulturgeschichtlichen Traditionen überhaupt erst wieder ins Bewußtsein riefen. Der Computer ist ein idealer Medienkompilator, und, wie Christiane Heibach ausführen wird, ein genialer Formattransformator, und so erleben wir zur Zeit, von Shockwave-Arbeiten angefangen, die Wiederkehr einer dynamisierten barocken Emblematik, wo Text- und Bildelemente und -sequenzen zu denkwürdigen Assemblagen zusammentreten. "Refresh" von Elizabeth Diller und Ricardo Scofidio entwirft gewissermaßen Kalenderblätter, die Zwölferserien von Bürowebcamaufnahmen (elfmal inszenatorisch verändert und einmal live) mit Texten unterlegen, die durch "globale Sichtbarkeit" induzierte Verhaltensänderungen imaginieren. Stuart Moulthrop’s work in progress "The Tomb Robbers" koppelt einen ganz im Uneindeutigen situierten Text an phantasmagorische Quicktime-Panoramarundumblicke. Und Jay Dillemuth stellt ins Zentrum seiner VRML-Welt "Holo-X" eine Animatrice, deren textuelle Anzüglichkeiten die Differenz des Anmachens in dieser und in jener Welt zum Inhalt haben.

Sieben Gruppen mit 15 Beispielen haben Sie in bewundernswerter Manier an sich vorüber ziehen lassen, sodaß ich die übrigen vier Gruppen mit ihren neun Beispielen gerafft zusammenfasse, um mir das Vergnügen der Diskussion nicht zu verscherzen.

Landkarten des Virtuellen entwerfen aus geographischer Perspektive Martin Dodge’s "Atlas of Cyberspaces", aus künstlerischer und theoretischer "Omnizone: Mapping Perspectives of Digital Culture".

Auf Ebene der Infrastrukturen operieren der "Web Stalker", ein Browser, der das tafelbildähnliche Monitorfenster mit netztechnikvisualisierenden Prozessen befrachtet, und die Ping-Software von "Electronic Civil Disobedience", die Webserver durch eine Plethora von Anfragen lahm legt. Software war immer schon Netzliteratur und die genannte allemal, da sie die virtuelle Textwelt grundlegend umvernetzt.

Im Netz geht es um die Reorganisation von Wissen und Personen. Marko Peljhan’s "Makrolab" schlägt, wie die diversen Geheimdienste, allen voran ECHELON, Textschneisen in die satellitengestützte globale Kommunikationssphäre und veröffentlicht Auszüge des unendlichen Weltgesprächs, das wir bekanntlich alle sind. "IO_dencies" von Knowbotic Research ist dem Anspruch nach eine Weltplanungsoberfläche, zunächst für die Stadtplanung von Tokyo und São Paulo, die die Heterogenität des jeweiligen Weltwissens topologisch darstellt und ähnlich wie in Ascotts "Plissure du texte" parallel prozessiert. Gegenüber vorschnellen Komplexitätsreduktionen soll gerade die paradoxale Überschichtung des Undurchschaubaren bessere Entscheidungsgrundlagen für überkomplexe Welten liefern. Wenn wir uns nämlich, so Ingo Günther in seiner "Refugee Republic", auf eine transnationale globale Welt zu bewegen, dann sind wir auf das Wissen der Flüchtlinge und Migranten angewiesen, die immer schon die Turbulenzen des Entgrenzten durchlebten.

Nach soviel Ökumene zum Abschluß ein Duett aus Kosmopolis und Nirwana: Olia Lialina’s "will-n-testament", in dem sich Grabsteine in einen Friedhof toter Buchstaben verwandeln, und Holger Friese’s "unendlich, fast", bei dem einem alles ausfällt.