Aufräumarbeiten - Kampf gegen den Stoff
von Uri Bülbül am 13.Sept.2000 23:58

Gegen Ende August nahm ich mir das Kämmerchen als Ziel einer Aufräumaktion vor. Das Kämmerchen sitzt mir im Nacken, wenn ich mit dem Rücken zu ihm am Schreibtisch arbeite. Früher diente es als Umkleidekabinchen und Kleiderschrank, als meine Freundin das Zimmer bewohnte. Nun ist sie seit langem weg, und ich habe angefangen, ihre ehemaligen Räume zu bevölkern. Nun ist das Kämmerchen der zweite Akt meines "Kampfes gegen den Stoff". Büroeinrichtung, später wieder Büroauflösung – wohin nur mit all dem Stoff? Es hat sich eine Menge angesammelt, und wenn ich jetzt nicht mit Aufräumarbeiten beginne, werde ich bis zu meinem Tod nicht mehr fertig damit.

Am Samstag, den 2.September 2000 sollte es so weit sein. Einen Tag zuvor sah ich mir ganz gedankenversunken das Kämmerchen an: Ordner, Manuskripte, Bücher, Zeitungsausrisse, Karteikarten, Karteikästen, Rechnungen, alte Mahnbescheide, ein paar Fotos –wie kamen die eigentlich dahin?-, Disketten, CDs, eben: Stoff.

Meine Strategie ist einfach: es wird gelesen und weggeschmissen, was nicht aufbewahrungswürdig ist. "Wer braucht schon den einmal gelesenen Text ein zweites Mal?" Ich… na jedenfalls manchmal. Ich bin ein Wiederkäuer. Dennoch muß einiges weg. Der Rest muß auch weg, aber dafür habe ich einen Plan, ein ungeheures Vorhaben: Die Blätter und Zeitungsartikel werden eingescannt und als Dateien aufbewahrt. Ich werde mir das Kämmerchen auf CDs brennen.

Deshalb wird am Samstag, den 2. September 2000 der Rechner hochgefahren. Wozu aber schalte ich das Modem ein? Na ja, mal kurz die Post abrufen, dann noch einen Blick auf die Seite riskieren, die ich unlängst entdeckt habe. Die Betreiberin ist mir sympathisch, weil sie ein Tagebuch führt, aber die Regelmäßigkeit aufkündigen muß. Und am Tag meiner Aufräumarbeiten entdecke ich ihren Beitrag "Die Last der Möglichkeiten".

Was mich zunächst fesselte, war die zauberhafte Synchronität der Dinge… nein, der Subjekte: Zwei Individuen, die nahezu nichts miteinander zu tun haben und vereint sind durch den "Kampf gegen den Stoff". Einige Tage zuvor hatte ich irgendwo im Netz etwas über die Borks gelesen: wir sind die Borks, vernetzt im Internet und unserer Individualität beraubt oder enthoben, dadurch aber auch Teilhaber der Erfahrungen aller zusammen- und vielleicht gleichgeschalteter Mitglieder der Netzgemeinde.

Nein, nein, ich will nicht die Inhalte von Weltraumseifenopern zu philosophischen Metaphern hochstilisieren. Uns denkende Subjekte, die sich in einen avantgardistischen Solipsismus hineinspintisiert haben, verbindet nicht erst das Internet.

Zurück zum Kämmerchen. Irgendwie will ich da nicht recht hin, halte alte Aufzeichnungen in der Hand, aus meiner Schulzeit ein Bericht aus Buchenwald, noch mit dem Matritzengerät vervielfältigt. Der jüngste bin ich nun wirklich nicht mehr, dann sind da noch unzählige Gedichte und Kurzprosa auf vergilbtem Papier, universitäre Hausarbeiten dazwischen gestreut, ein bißchen Literaturwissenschaftliches und etwas Filmsemiotik und dann diese kleinen Karteikärtchen. Was zum Teufel hat mich geritten, als ich auf A7-Karten mit einem Rapidographen Lexikonartikel über den Aphorismus, über die Groteske, die septem artes liberales, Geist oder Schatten exzerpierte, ein Nietzsche-Zitat in Grün dazwischen streute und fein säuberlich auch zwischen den Linien schrieb? Eine Lupe wäre angebracht, ein Fadenzähler.

Und das alles soll nun digital auf CDs verschwinden? Meine Gedanken sind nicht originell, meine Aufzeichnungen ohne Quellenangabe wissenschaftlich unbrauchbar, aber irgendwie auratisch! Bin ich selbstverliebt, daß ich mich kaum von meinen Handschriften trennen kann, obwohl die Texte im Computer erfaßt sind? Es ist ein Stück Jugend, ein Stück liebgewonnene Naivität, von der ich mich nicht trennen kann, Zeugnisse einer Persönlichkeit, die Spuren in dieser Welt hinterlassen will, bevor der Tod mich holt. Dabei bin ich nicht mal ernstlich krank! Aber da ist der naive Glaube, daß wer schreibt, bleibt! Ein Ausdruck meiner Sehnsucht nach Ewigkeit. Und das soll auf eine silbern glänzende Scheibe, in der ich mich matt spiegeln kann? Sicherlich nicht losgekoppelt von Eitelkeit.

Es will mir nicht gelingen, das Papier zu entsorgen. Die gebrannten CDs bereichern nun das Kämmerchen, das mir wieder im Nacken sitzt, während ich mich ins Netz frei schreibe Claudias These entgegen, der innere Widerstand gegen das Wegwerfen rühre vom Bestreben, Möglichkeiten zu erhalten.

Uri