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Musik?

 

29:03:00 Generationen-Kontakte

Wie ein harter Schnitt im Actionfilm ist der Alltag wieder über mich gekommen. "Alltag" ist in den Netzzeiten eigentlich ein falsches Wort, mein aktuelles Projekt ist immerhin erst zwei Monate alt, da kann man ja kaum von "Alltag" sprechen. Die heiße Phase der Entwicklung hält mich von früh bis spät am Monitor, an EINER Sache in all ihrer Vielfalt - meine Güte, ja, es ist spannend, aber ich halte es nur aus im Wissen, daß es auch wieder schlaffere Phasen geben wird, wenn mal die Grundlagen stehen.
 
Zwischen 25 und 35 war ich sehr viel "leistungsfähiger", arbeitete monatelang und Jahr um Jahr, von früh bis spät an den jeweiligen Projekten, vergaß jede Trennung von Leben & Arbeiten, Urlaub war ein Fremdwort. Der Ehrgeiz, ummäntelt als Sachzwang oder Weltrettungs-Bedürfnis trieb mich voran, über Richtung und Sinn meiner Selbstausbeutung dachte ich nicht nach. Eine tolle Zeit, doch wollte ich sie nicht wiederhaben!
 
Manchmal bekomme ich Mail von jungen Menschen, die mich fragen, wie ich geworden bin, was ich heute bin. Es stellt sich oft erst nach einigem Mailkontakt heraus, daß mein Gegenüber gerade mal um die 18 oder 20 ist. In Mailinglisten erlebe ich, wie z.B. ein Auftraggeber nach Freelancern oder Praktikanten sucht - und dann fragt mich privat ein 19-Jähriger, der sich da beworben hat, ob die Bedingungen nicht verdammt unverschämt sind?
 
Vor den Zeiten des Internet hatte ich nie Kontakte zu anderen Generationen, weder zu den Jungen noch zu den Alten. Heute maile ich mit Leuten zwischen 16 und 81 (echt!) und staune, wie einfach das ist. Auf der Straße würde man sich keines Blickes würdigen. In den Institutionen, die sich um "den Dialog" bemühen, verhindert eine lebensferne, sozialarbeiterisch-pädagogische Beklommenheit, daß normale Gespräche entstehen. Zudem sind die alten Vorgaben zerstört: Die Älteren haben kein Monopol mehr auf ein besseres Wissen. Meine Generation und erst recht die Älteren stehen der Netzwelt skeptisch bis ängstlich gegenüber, sie können nicht im Ernst von sich behaupten, den heute Jungen noch sagen zu können, wo es lang geht!
 
Besonders dramatisch ist der Autoritätsverlust der Lehrer. Sie sind heute im Schnitt 50, haben berufliche Unsicherheit selbst nie erlebt, in der Regel lebenslang dasselbe getan, und das im überschaubaren Rahmen der Kollegien und Schulbürokratien. Ihre auch bisher nur in der Theorie begründete Selbsteinschätzung, den Jungen etwas "vom echten Leben da draußen" vermitteln zu können, zerschellt unter dem Anspruch, von jetzt auf gleich zum kompetenten Netz-Couch mutieren zu sollen. Wenige schaffen es, das eigene Nicht-Wissen zu verkraften und gemeinsam mit den Schülern die Dinge zu erforschen, zu stark ist der Anspruch verinnerlicht, den Schülern immer etwas voraus haben zu müssen, um Lehrer zu sein.
 
Die richtig ALTEN, die mir - selten aber doch - gelegentlich eine Mail schicken, unterscheiden sich genau in diesem Punkt angenehm von den Alten, wie sie mir früher begegneten (bzw. NICHT begegneten). Sie sind weit davon entfernt, mir etwas überbügeln zu wollen, sondern sprechen davon, was sie heute erleben. Natürlich folgen dann Geschichten "von damals", aber die höre ich sogar gern, finde es interessant, wie man in anderen Zeiten zurecht gekommen ist und was für Probleme im Mittelpunkt standen. Von einem konkreten Menschen erzählt, ist das weit spannender als jedes Geschichtsbuch. Und mit einem 20-Jährigen zu mailen, ist sehr viel erhellender, als den Shell-Report über die "Jugend 2000" zu lesen!
 
Das Gegenüber nicht zu SEHEN macht frei, frei von Vorurteilen und Schubladen-Denken, frei, sich offener zu zeigen und ganz normal miteinander zu reden. "Wissen als ob" ist dabei bedeutungslos, man kann nur das sinnvoll austauschen, was man am eigenen Leib erfahren hat. Aber das ist unter Umständen eine ganze Menge!
 
 

27:03:00 Real Life

Zurück aus Rendsburg. Drei Tage mit anderen Netizens, mit Autoren und am Internet interessierten Seminarteilnehmern vermitteln soviel kreativen Input, Energie und Inspiration, daß ich aufpassen muß, nicht allzu viele neue Aktivitäten anzufangen. Das Netz bietet Tag für Tag unendliche Möglichkeiten, doch normalerweise bleiben sie rein virtuell: Man weiß, man könnte.... aber es gibt ja so Vieles, was man tun könnte, so daß nur selten eine wirkliche Entscheidung, ein Plan, ein Projekt entsteht. Wenn dagegen reale Menschen ins Spiel kommen, die ich nicht nur über ihre Texte erlebe, werde ich geradezu hingerissen: die Ideenmaschine springt an, ich möchte weitergeben, was ich habe, das jahrelang beiläufig kumulierte NetKnowHow vermitteln, Verbindungen herstellen zwischen meinen aktuellen Projekten und denen anderer, neue, so noch nicht dagewesene Dinge auf die Beine stellen und natürlich auch allerlei Eigenes verändern, zum Beispiel auch das Outfit dieses Diarys.
 
Auch Vorurteile verblassen im "Real Life": zum Beispiel die Annahme, Printautoren seien dem Netz feindlich gesonnen. Quatsch, es gibt mittlerweile ganze Autorengruppen, die das Netz für ihre Zwecke nutzen, ganz unabhängig von der Verwertungsmaschine. Oder die Anmutung, Unternehmer dächten nur noch an die Rendite - nein, ich lernte einen Firmenchef kennen, der im großen Stil Kunst und Literatur fördert. Oder gar die Vermutung, es wäre mittlerweile ein Leichtes, sich als Einsteiger im Netz zurecht zu finden: im Gegenteil, der Bedarf an sinnvoller Orientierung im unendlichen Meer des Wissens ist gewaltig, wird offenbar immer größer, je mehr der Mainstream mit dem Netz konfrontiert wird.
 
Zurück in Schloß Gottesgabe umgibt mich wieder ländliche Stille, die Vögel zwitschern und ins Mailprogramm rieseln 237 E-Mails. Der Alltag hat mich wieder. Natürlich werde ich NICHT auf einmal alles anders oder viel viel mehr machen als bisher, aber die Inspiration, die Energie der realen Kontakte bringt die wahre Freude am Arbeiten, beeinflusst untergründig die Richtung der Aktivitäten, bindet sie immer neu zurück an das, was Menschen heute benötigen, wünschen, träumen und erleiden. Daher kommt Sinn, wenn er sich auch nicht in Worten schreiben läßt.
 
P.S.: neuer Leserbrief zum Thema "Putenfleisch" (19.3.) - herzlichen Dank an Matthias!
 
 

24:03:00 Kurzreise

Fahre heute zu einem Seminar ins Nordkolleg nach Rendsburg um "aus dem Leben einer Medienschaffenden" erzählen. Zum Glück sind es nur ca. 20 Leute - ich hasse es, vor einem unüberschaubaren Publikum zu reden. Sonntagabend bin ich zurück, vor Montag braucht hier also niemand 'reinsehen.
 
 

22:03:00 Etwas mit Sinn?

Mit dem gestrigen Diary-Eintrag wollte ich mal nicht sinnvolle Sätze mit Aussage und vorausgegangener Reflexion zu bilden, sondern einfach losschreiben. Das geht und kann sogar richtig Spaß machen, wie jeder weiß, der mal einen Creative Writing-Kurs besucht hat. Ich wollte allerdings keinen Spaß, sondern war äußerst frustriert über die Nutzlosigkeit sinnvoller Texte: Ich kann ja soviel wissen und auch hinschreiben, aber das ändert nichts, nicht am Putenfleisch-Dilemma und nicht am eigenen Handeln.
 
"Muß man die Welt retten, wo man schon genug mit dem eigenen Durchkommen beschäftigt ist?" fragt Jan in seinem Leserbrief Banane = Pute. Tja, muß man? Wer ist MAN? Es gibt offensichtlich ein "MAN", das die Welt einerseits in die Tonne treibt und gleichzeitig nachdenkt, ob man sie retten soll. Doch nicht mal als gutwilliges Individuum - das ich auch nicht dauernd bin! - kann ich an dem ganzen Elend irgend etwas ändern, kann lediglich persönliche Askese treiben mit allen verqueren Folgen, die das hat. (Die menschlich unangenehmsten Personen, die ich in diesem Leben kennenlernte, waren zwei rundum ökologisch korrekte Makrobioten).
 
Ich bin da ratlos, genau wie Jan, mache mir aber (was MICH angeht, über andere sage ich nichts) nicht vor, es ginge um mein "Durchkommen". Denn ich komme im Lauf der Jahre immer besser durch, doch das Welt-Retten gerät trotzdem immer weiter aus dem Blick. Der alte Spruch:

Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann und die Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden

war mir lange eine gute Richtschnur. Seit es allerdings das Netz gibt und meine Möglichkeiten gewaltig gewachsen sind, ist mir nicht mehr klar, was ich alles ändern könnte. Immerhin wär es ja z.B. möglich, ein Webprojekt zugunsten irgendwelcher Leidenden & Unterdrückten irgendwo in der Welt zu machen und damit Spenden zu sammeln. Zum Beispiel für die Frauen in Bangladesh, die von abgelehnten 'Verehrern' mit Batteriesäure verätzt werden. Das ging am Weltfrauentag durch die Presse und hat mich berührt. Morgen aber berührt mich schon wieder etwas anderes, die tierquälerische Landwirtschaft zum Beispiel, wie soll ich da je eine Wahl treffen?
 
Also tue ich nichts dergleichen und arbeite weiter am eigenen "Durchkommen" auf hohem Niveau. Manchmal allerdings geht mir dabei die Lust verloren, "etwas mit Sinn" zu schreiben.
 
 

21:03:00 mal anders...

Gedanken kommen nicht in ganzen Sätzen, sagt M., und meinetwegen soll es ruhig mal so vor sich hinschreiben, alles draußen vor oder überhaupt nicht mehr, im Zweifel Leere. Leere Zigarettenschachtel, Camel Filter, Funktastatur von Logitech, was gibt es außer Produkten? Marken, Namen, Zeichen, Logos, Tätowierungen, Webdesigns, Warenmuster, ich bin ich und nicht du, muß das täglich neu bewiesen werden? Heute ist wieder so ein Tag, der einfach endet, ohne jungen wilden Autoren ein Thema gegeben zu haben. Die ergonomische Plastikablage für die Handballen an der Tastatur verhilft auch nicht dazu, große Worte zu machen oder klitzekleine Lacher hervorzukitzeln. Alles easy, draußen sind schon 10 Grad, der Frühling ist da. Gottfried Benn hat daraus gute Gedichte gemacht, sagt M.
 
 

19:03:00 Putenfleisch

Eine Pute. Als ich klein war, war das noch ein Ereignis! Ein Riesenvogel, der kaum in den Backofen passte, zwei Monate vor Weihnachten beim Bauern bestellt, mit Spannung erwartet, misstrauisch beäugt, in mehreren Stunden gebraten und dann die "7 Sorten Fleisch" im Rahmen eines großen Familiengelages verspeist. Die Reste reichten für den nächsten Tag und wir sonnten uns im Gefühl, etwas Besonderes zu sein: andere Familys waren schließlich noch bei der gemeinen Weihnachtsgans, ha!
 
Aus damit! Pute ist seit Jahren "im Kommen", verdrängt zunehmend das fettere Schweinefleisch, wird von Ernährungswissenschaftlern und Köchen gleichermaßen in den Himmel gelobt und ist sehr, sehr billig geworden. Folgerichtig gibt es jetzt Putenwurst in vielen Zubereitungen bis hin zur gewöhnlichen Brühwurst, Bockwurst, Wiener oder Knacker, ja sogar das unmögliche Billigfrühstücksfleisch in Dosen vom Discounter gibt's in der Variante "Truthahn" und gerät damit wieder in den Bereich "mal probieren".
 
Ich mag Putenfleisch und es hätte mir nichts ausgemacht, dafür auch weiterhin 10 bis 14 Mark pro Kilo zu zahlen. Es war schon nicht mehr Delikatesse, aber auch nicht Alltag und hatte einen besseren Ruf als die "Gummiadler". Genau das Richtige, wenn man sich den Aufwand des selber Kochens mal leisten und dabei ein bisschen Mühe geben wollte.
 
Und jetzt? Dass Putenfleisch haufenweise herumliegt und preislich mit dem Schwein konkurriert, ist mir lange schon aufgefallen. Klar, dass das für die Pute nichts Gutes bedeuten konnte, doch SO genau wollte ich darüber nicht nachdenken. Immerhin hatte ich vom Huhn unter anderem Abstand genommen, um die miese Batteriehaltung nicht weiter zu unterstützen, was - jenseits ehrenwerter Bedenken - nach dem Urteil aller Gourmets auch auf den Geschmack geschlagen hatte. Ein gutes Huhn, schrieb Siebek schon vor einer Ewigkeit, muß mindestens 10 Quadratmeter für sich haben. Nicht im Ofen, sondern zu Lebenszeit.
 
Nun lebe ich auf dem Land, hinter der Schlosswiese steht der neue Hühnerstall, in dem jedes der zehn Hühner seine 10 m² Auslauf hat. Aber natürlich sind die nur für die Eier und zum Angucken, kein Schlachtvieh! Lieber esse ich gar kein Huhn, als eines zu schlachten, bzw. ein paar Mal im Jahr greif' ich zum Gummiadler und fühle mich dabei eben ein bisschen sündig . Normalerweise esse ich Pute....
 
Aus damit. Der Markt hat nicht geruht, sondern das Angebot erhöht, die Zucht und vor allem die Mast "effizienter gemacht", kurz gesagt die übliche quälerische "Massenproduktion" ins Werk gesetzt, die schon über die Rinder, die Schweine und die Hühner gekommen ist. Dabei ist es recht egal, dass die Puten korrekt auf dem Boden stehen und nicht in stapelbaren Käfigen wie die Hühner. Sie stehen dort nämlich Flügel an Flügel wie im dichtgedrängten Aufzug, mit abgeschnittenen Schnäbeln, damit sie sich nicht vor Verzweiflung gegenseitig angreifen, mit Knochen, die die Fleischmassen kaum mehr aufrecht halten können und mit Brüsten, die so überdimensioniert gezüchtet sind, dass die Vögel dazu neigen, vornüber in den Dreck zu fallen. Ihr Pech: das Fleisch schmeckt immer noch gut und ist nach wie vor "gesünder" - für uns, versteht sich.
 
Mir fehlen die Worte, um auszudrücken, wie wütend mich das macht, es fehlt das Talent, gute Haß- und Schmähreden zu schreiben und außerdem: wenn ich die Wut länger betrachte, so ist sie nur ein Bollwerk gegen die Traurigkeit und Verachtung, die hinter ihr lauern: Traurigkeit, dass solch eine widerliche Tierquälerei stattfinden muß, um so etwas zivilisatorisch Banales wie das Essen auf den Teller zu bringen. Verachtung, weil alle das wissen und es trotzdem geschieht. Weil wir alle weiterhin Schwein und Rind und Pute essen, immer mehr und immer billiger und dabei eben nicht an das grauenhafte Leben denken, dass die armen Viecher erleiden müssen.
 
Andrerseits weiß ich, dass das niemand gewollt hat! Nicht ich, nicht du. Keiner von uns würde auf die Idee kommen, Vögel derart einzuknasten und zu malträtieren, nur damit uns das "Geschnetzelte" nicht abhanden kommt. Ich glaube, unsereiner ist zwar bereit, einen Feind aus der Arena zu mobben und allerlei Ausraster im Beziehungsleben hinzulegen, aber einem Pick-Vogel den Schnabel abschneiden? Das würden wir eher sein lassen, solange es nicht ans Verhungern geht.
 
Trotzdem haben wir jetzt die Putenknäste! Und bei jedem neuen Tier, das in den Verdacht kommt, gut zu schmecken, wird es genauso verlaufen. (In Brandenburg hat man begonnen, Strause zu züchten, hier und da taucht Strausensteak auf, noch ist es eine Delikatesse....). Alle kaufen und genießen das in Mode geratene Fleisch, bis die Medien das ganze Elend oft genug vorgeführt haben und "artgerechte Putenhaltung" zum Thema wird. Ein wachsender, aber insgesamt unbedeutender Teil des Marktes wird "öko" und verschafft denen, die dreimal so viel zahlen können und wollen, ein gutes Gewissen. Der Rest frisst die lebenslänglich kranke Knastpute und denkt nicht drüber nach.
 
Die "Öko-Schiene" sehe ich nicht als Lösung. Ich will im normalen Supermarkt einkaufen können und kein Aufhebens um meine Ernährung machen müssen. Zudem nützt es den Knastputen nichts, wenn es daneben noch ein paar Öko-Puten für Besser-Verdienende und Öko-Hardliner gibt. Mich regt auf, dass die Mitte fehlt: hier der Gummi-Adler, dort das 10-Quadratmeter-Huhn, sonst nichts. Eine Welt, die nur noch Auswüchse produziert, widert mich an.
 
Und ich bin unentrinnbar Teil davon. Kann nicht mehr "unschuldig" essen, trinken, Kleider kaufen und fühle mich doch nur sehr vermittelt als "Täterin" all dieser Schandtaten. Kann aber auch niemand anderen sagen: Du bist schuld! Ich weiß, dass die Bauern wirtschaftlich produzieren müssen und nicht selber bestimmen, WAS im einzelnen dazu nötig ist. Aber sie führen es aus, genau wie ich all dieses wissend immer wieder Pute esse. Und würde ich das nicht tun, wäre mein Gefühl nicht viel besser. Denn Teil einer kleinen Minderheit zu sein, mag ein gutes Gefühl der Besonderheit geben. Am ganzen Elend ändert es nichts.
 
 

17:03:00 Arbeit in der Infogesellschaft

Man kann wunderbar arbeiten als Networkerin: In aller Ruhe in Schloß Gottesgabe vor dem Monitor sitzen, dazwischen mal aus dem Fenster auf die Wiese hinaussehen, kurz die Hühner besuchen oder in den Nachbarort einkaufen fahren - nicht so sehr wegen des Einkaufens, sondern um mal was anderes zu sehen, die weiten Felder, die Wäldchen, den unendlichen Himmel. Und daneben viele Fäden im Netz spinnen, Mail-Kontakte zu den unterschiedlichsten Menschen unterhalten, Projekte organisieren, die noch vor Jahren einen großen Mitarbeiterstab und ein physisches Büro erfordert hätten - alles easy, preiswert und schnell, allein mit Maus und Monitor und einem guten Bürostuhl.
 
Allein? Natürlich nicht. Die anderen sitzen da im Irgendwo, ebenfalls vor ihren Monitoren, das Interface, das uns trennt, ist die Bedingung des Zusammenwirkens. Aus 1000 Mailkontakten konkretisieren sich 2 bis 10 Leute, mit denen ich etwas anfangen kann und dann auch tatsächlich anfange - im physischen Umfeld hätte ich sie nie gefunden. Das FINDEN der richtigen Leute ersetzt zunehmend das mühevolle Zusammenraufen fester Belegschaften, zumindest in der Netzgesellschaft. Um jede Aufgabe entsteht ein neues Netz aus Individuen, die gerade für DIESE Aufgabe gut geeignet sind und die wiederum andere beteiligen, die die notwenige Zuarbeit optimal leisten. Verändert sich die Aufgabe im Laufe der Zeit, verändert sich das Netz der Aktiven entsprechend. Und zwar NICHT indem die bereits Beteiligten von irgend jemandem weitergebildet oder gesondert motiviert werden, sondern durch Austausch: Wenn die Aufgabe mir nicht mehr gefällt, suche ich jemand anderen, der mich ersetzen kann, bzw. der die in Zukunft geforderten Qualifikationen und die entsprechende Motivation bereits hat.
 
Ist das hart? Oder paradiesisch? Das kommt darauf an, woher jemand kommt, welche Art Arbeitsbedingungen er gewohnt ist. Wer das Thema Weiterbildung als etwas erlebt, das "von oben" kommt, kann in dieser Welt schlecht bestehen, denn es gibt in diesem Sinne kein "oben" mehr. Als die Sklaverei abgeschafft wurde, haben sich die ehemaligen Sklavenhalter mit der neuen Lage angefreundet, indem sie auf die Vorteile sahen: ein Arbeiter oder Angestellter muß nicht ernährt werden, man braucht auch keine Hütten für ihn bauen. Der Lohn genügt, damit organisiert der Ex-Sklave dann alles selber. Man kann sich gut vorstellen, daß nicht alle Ex-Sklaven die neue Freiheit begrüßten!
 
Was jetzt stattfindet, ist ein weiterer Schritt auf diesem Weg. Nur die Leistung, das Werk, der Erfolg zählt und wird bezahlt - die individuellen Bedingungen für das Zustandekommen von Erfolg muß das Individuum selber organisieren. Lebenslang lernen ist ein Muß, doch immerhin auch ein Spaß! Ich habe schon bei den ersten Einblicken in die Arbeitswelt (damals, Mitte der 70er) gespürt,. daß ich nie nie niemals eine Arbeit annehmen werde, die es erfordert, über Jahre dasselbe zu tun. Und ich glaube, daß dieser Widerwille in den allermeisten Menschen lebt, daß es nur eine feste und unausweichlich scheinende Tradition war, diese Last des Immerselben als Reich der Notwendigkeit zu akzeptieren. Die wirtschaftlich-technischen Bedingungen der Industriegesellschaft erforderten es eben - und der Einzelne fand sich damit ab, daß Arbeit eben eine schweißtreibende oder zutiefst langweilige Sache ist, die zwischen 9 bis 5 erledigt werden muß. Danach war dann die FREIZEIT, in der das EIGENTLICHE LEBEN stattfand. Da muß dann ABWECHSLUNG und ZERSTREUUNG her, und zwar nicht zu knapp, um das Defizit der öden Tage auszugleichen.
 
Und jetzt? Die Bereiche ARBEIT und FREIZEIT verschwimmen. Wenn ich mir ein paar Stunden Zeit nehme, um Dreamweaver zu lernen, tu ich das anhand von eigenen, nonkommerziellen Webseiten. Es macht Spaß, ich lerne und erzeuge vorzeigbare Ergebnisse, über meine Privatseiten trete ich in Kontakt mit der Welt, entlang an ganz eigenen Interessen.... Oder ich spiele mit Fotoshop, probiere Schriften und Filter aus - und schon ist das wieder eine "Vorarbeit", die mir, bzw. einem Auftraggeber, beim nächsten Logo zugute kommt, obwohl es mir, während ich es tue, als FREIZEIT vorkommt.
 
Oder: Wenn gerade etwas 'brennt', arbeite ich auch für Aufträge durchaus mal spät abends, Samstags sowieso. Und hier zeigt sich denn auch die neue Kampfzone: Ich KANN mein Leben nicht ausschließlich vor dem Monitor verbringen, ich MUSS den Sonntag zu retten und mir als Gegenleistung für das, was einmal Freizeit war und jetzt unverzichtbare Weiterbildung ist, einen Ausgleich schaffen. Also auch z.B. mittwochs mal einen halben Tag im Garten zubringen und mit Pfeil und Bogen auf eine Strohscheibe zielen....
 
KAMPFZONE, genau! Die Kämpfe der neuen Arbeitswelt werden die alten sein, doch nicht mehr im Bereich "Nebenleistungen" (Urlaub, Weihnachtsgeld etc.) stattfinden und auch keinen Bezug zu Arbeitsstunden-Berechnungen mehr haben. Die "Aufgaben", hinter denen ja oft Geldgeber mit hohen Kapitalrendite-Erwartungen stehen, werden dazu neigen, die Auftragnehmer mit Haut und Haar aufzufressen: junge, voll-flexible Menschen, die Tag und Nacht 100%-engagiert arbeiten, sind die idealen Arbeitnehmer. Und wenn es davon hierzulande nicht genug gibt, müssen sie eben importiert werden.
 
Die Gewerkschaften, einst entstanden als Verteidigungsstruktur für die Arbeitnehmer der Industriegesellschaften, können und wollen sich auf die neuen Kampfzonen nicht einlassen. Ihnen ist der Info-Arbeiter ein Selbständiger und damit schon (fast) auf der "anderen Seite". Zudem ist es garnicht SO leicht auszudenken, wie das neue Arbeiten so verregelt werden könnte, daß es NACHHALTIG für die Individuen lebbar ist. Im Gegenteil, es scheint noch jede Menge Entregelung nötig zu sein, damit wirklich VIELE in der Infogesellschaft ihr Auskommen finden können. Und: So etwas wie "Streikposten" wird es niemals wieder geben - wie denn auch, im virtuellen Raum?
 
Wir selbst werden es letztlich leisten müssen, uns zu verteidigen und unsere Arbeitsweise nachhaltig zu gestalten. Mit den Mitteln des Netzes werden die Nachteile des Networking angegangen werden müssen und ich habe Hoffnung, daß das auch möglich sein wird. Derzeit expandiert die neue Wirtschaft noch so stark, daß das Auskommen, bzw. das Einkommen der neuen Infoarbeiter nicht schlecht ist: wer etwas leisten kann, das gefragt ist, verdient auch entsprechend gut, wenn auch bei verminderter Sicherheit und hohem Einsatz. Diese Rahmenbedingungen bleiben jedoch nicht immer so - laßt uns das zumindest im Auge behalten!
 
 

15:03:00 Morgens um 7

Es ist 7.14 Uhr, in einer Stunde werde ich hier den Abflug machen. Noch genieße ich die morgendliche Ruhe, diese ausgeschlafene Frische im Kopf, noch völlig frei von den üblichen 1000 Gedanken, die mich gewöhnlich - wenn auch mit begrenzter Macht - durch den Tag treiben.
 
Begrenzt ist die Macht der 1000 Dinge dadurch, daß das Bauchgrimmen seit Jahren verschwunden ist. Nichts von dem, was ich tue, hält mich derart gefangen, daß ich meine, die Welt gehe unter, wenn es nicht klappt. Das war natürlich auch früher schon ein idiotischer Gedanke, doch vermutlich ist das Leben sowieso nichts als der Prozeß, sich von eigenen und gesellschaftlichen Vorstellungen zu befreien. Und natürlich hat alles zwei Seiten: Kein Bauchgrimmen mehr, aber auch nicht das Gefühl, zu den Sternen zu fliegen. Ob ich einen Tanker manövriere, oder mit einem Tretroller unterwegs bin, "motivationstechnisch" ist es dasselbe.
 
Ein seltsamer Zustand, eine gewisse Leere, wo früher gnadenloser Ehrgeiz (natürlich in verkleideter Form!), die Angst, zu versagen und das Bedürfnis nach immer MEHR den Kern der Antriebskraft ausmachte. Es fehlt etwas, vielleicht so, wie Zigaretten dem ehemaligen Raucher fehlen, selbst dann noch, wenn die Sucht vorbei ist.
 
Bei Manufactum hab' ich mir Pfeil und Bogen gekauft, ein alter Kinderwunsch, mal sehen, ob es mir Spaß macht. Das letzte Spielzeug, das ich anschaffte, war ein Keyboard - doch die Erkenntnis, daß ich dabei ja auch nur Tasten drücke und meine mangelnden musikalischen Fähigkeiten ließen es bald schon verstauben.
 
Es ist gar nicht leicht, mit Geld etwas Sinnvolles anzufangen, etwas, das das Leben bereichert und wirklich mehr Freude bringt. Man kann zum Beispiel immer nur eine bestimmte Menge essen und man schmeckt nun mal nur 4 - 5 Geschmacksrichtungen (sauer, bitter, süß....). Als ich neulich im Berliner KaDeWe die "beste Lebensmittelabteilung Europas" besuchte, sah ich Leute stehen, die irgendwelche Brotaufstriche für 39,- pro 100 Gramm kauften. Und ich wußte genau: es ist völlig egal, ob ich auf einem Niveau von 3.90 oder 39,- Brotaufstrich einkaufe: mehr als schmecken kann es nicht. Dann probierte ich irgend so ein Gourmet-Häppchen für 16.80 aus und es war nicht mal gut! Kalbsleberwurst hätte mir besser geschmeckt.
 
Man kann das auf praktisch jedem Gebiet genau SO beobachten und es ist nichts als fortgeschrittener Wahnsinn, daß Geld, möglichst VIEL GELD so vielen Menschen als Motivation ausreicht, ihr konkretes Leben, die Freude am Augenblick dafür in den Wind zu schreiben.
 
 

14:03:00 Vom Wanderzirkus

Herzlichen Dank an die Leser, die mir wegen meiner Ausschaltprobleme Tips geschickt haben! Ja, ich habe so ein neues PC-Gehäuse, doch es tut nicht ganz, wie es eigentlich soll - aber das ist ja praktisch normal, wer vom Gerät Perfektion erwartet, sitzt einem Mythos auf: dem Mythos, wir wären in der Lage, etwas besseres zu schaffen, als uns selbst. Geschenkt!
 
Es regnet und regnet und regnet immer weiter. Unsere Hühner werden naß, weil sie das Scharren und Herumlaufen nicht lassen mögen, dabei stehen sie keineswegs auf Wasser! Ich besuche die Hühner manchmal, schaue ihnen zu, wie sie das Laub umwühlen und denke mir: es ist ihnen nie langweilig und Streß haben sie auch nicht. Doch ihre Hackordnung ist unübersehbar: immer gibt es mindestens einen Underdog, ganz wie bei den Menschen.
 
Morgen fahre ich nach Essen, übermorgen zurück. Eine Arbeitsbesprechung, manchmal reicht E-Mail einfach nicht. Ich reise ungern, scheue den Aufwand, doch dann ist es jedesmal sehr inspirierend, andere Networker zu treffen und gemeinsam etwas auszuspinnen. Alleine vor dem Monitor treffe ich letztlich immer nur auf mich selbst, trotz der vielen Kontakte. Ich lese E-Mails und verstehe sie im Rahmen meiner Erwartungen und Lebenserfahrung, sehe WebSites und beurteile sie nach bereits vorhandenen Kritierien. Und meine Motivationen sind ebenfalls allesamt "hausgemacht", abhängig vom Wetter, von der körperlichen Befindlichkeit, der "Laune", die daraus resultiert und recht wenig vom Input durch andere. Geht ja auch nicht anders angesichts des gewaltigen Inputs, den mensch durch das Netz erfährt, es ist wie eine übermächtige zentrifugale Kraft, die mich in alle Windrichtungen zerstreut, wenn ich mich nicht konzentriere.
 
Wieder bin ich eingeladen, irgendwohin zu reisen, um ein bißchen zu reden. Diesmal Frankfurt, nicht Tokyo, es kann gut sein, daß ich zusage, es ist erst im November und Frankfurt liegt bei Wiesbaden, wo meine Family (Schwestern, Mutter) lebt. Auf Tagungen und Symposien Reden halten ist etwas, vor dem ich mich fürchte. Gerade deshalb sag' ich manchmal zu, schließlich treffen wir keine Löwen mehr in der Umgebung, zu Katastrophen neigt dieses Land auch nicht. Irgendwas muß ja mal sein, was es zu überwinden, zu bestehen gilt, sonst roste ich ein.
 
Die Scheu, vor fremden Gruppen zu reden, kenne ich mein Leben lang. Zur Aufführung des Weihnachtsmärchens in der Schule bekam ich 41 Fieber, um nicht auftreten zu müssen! Auf das mündliche Abitur hab' ich verzichtet. Doch mit 26 verschlug es mich in die Berliner Hausbesetzerbewegung und auf einmal klappte es. Ich WOLLTE etwas und es war kein Problem mehr, das auch einer beliebig großen Gruppe zu sagen, ja, es machte sogar Spaß! Wenn ich bei dieser Leitlinie bleibe, bestehe ich jede Veranstaltung: nicht daran denken, was die wohl von mir erwarten, sondern daran, was ich IHNEN gerne mitteilen will. Im Grunde ist es eine tolle Sache, dafür, daß man sagt, was man denkt, auch noch Honorar zu bekommen! Und das in einer Zeit, in der Aufmerksamkeit das kostbarste Gut ist und eigentlich die Leser, die Zuhörer und Zuschauer bezahlt werden müßten.
 
Mach ein paar Jahre etwas und rede davon - auf einmal gehörst du zum Wanderzirkus! Keine Videokonferenz wird das je ersetzen, vermute ich mal. Immer wieder versammeln sich Menschen an verschiedenen Orten, vordergründig zu honorigen Zwecken, zu interessanten Themen und wichtigen Zukunftsfragen. Im Grunde aber ist es nicht das Thema, sondern das Ereignis: ein Energieaustausch, den kein Medium ersetzen kann. Gut so, es zeigt: wir sind noch keine Maschinen.
 
 

11:03:00 Mein technoider Alltag.

Wieder mal ist der PC abgestürzt. Nichts besonderes eigentlich, aber das "Zusammenwirken" zwischen Ausschaltknopf und System scheint schon seit dem Kauf dieses Geräts nicht in Ordnung: Ich muß tatsächlich DEN STECKER ZIEHEN, Ausschaltknopf bleibt ohne Wirkung. Auch das normale "Herunterfahren" funktioniert nicht, entweder es bleibt ein schwarzer Bildschirm mit blinkendem Curser als "Endzustand" übrig oder der Screen "Computer wird heruntergefahren" findet sich ein und dann geschieht nichts mehr.
 
Während ich noch hinter dem Schreibtisch an den Steckerleisten herumwürge, kommt mein Lebensgefährte die Treppe herauf. Mit finsterer Miene greift er zum Telefon, um von hier aus seinen Anschluß zu testen: der Anrufbeantworter geht nicht und das Durchlesen der umfangreichen Gebrauchsanleitung kann einem schon den Tag verderben! "Ich will mit der Technik nichts mehr zu tun haben", murmelt er wütend und verschwindet wieder.
 
Wenig später erscheint der 11-jährige Nachbahrssohn und braucht dringend DIE NUMMER von Corel Draw, wir suchen herum und finden sie tatsächlich, ein Glück. Jetzt braucht er noch einen Bildschirmtreiber... Als erste Großtat an seinem kürzlich geschenkten PC hat er erstmal locker-flockig Windows '98 installiert - auf einen alten Pentium 100, den ich mit Rücksicht auf die beschränkten Kapazitäten mit einem frischen Win95 versehen hatte! Aber was will man machen: Die JUGEND muß eben eigene Erfahrungen sammeln....
 
Nun will ich mal in die Liste Netzliteratur reinlesen und rufe Mail ab - nix da, der Server ist "down", nix Mail, nix Web, nur Stille. Was soll's, ich kann auch ein bißchen ohne (hab' ja mehrere Server!), nur blöd, daß da auch einige Kunden drauf sind. Da ruft Michael an: "Schon gemerkt? Der Server ist down..." Ich bestätige und Michael klärt mich auf, der Server habe einen Routing-Loop: 2 IPs verweisen aufeinander, ach die Armen! Hilfswillig rufe ich beim Provider an, der ja vermutlich unsere Mails nicht empfangen kann: "Hey, du hast einen Routing-Loop, schon gemerkt?" "Nein," sagt er, "die Festplatte ist heute nacht abgefackelt, wird gerade ersetzt, keine Panik! Die Kundendaten sind nicht betroffen!"
 
Na, das ist immerhin tröstlich. Ich frag' mich öfter, wie diese Welt es bloß schafft, mit all dieser Tecnik von Tag zu Tag den Eindruck zu erwecken, alles funktioniere und man habe die Dinge im Griff. Das IST NICHT SO, aber vielleicht sollte ich besser den Mund halten. Solange alle GLAUBEN, es funktioniere, obwohl sie täglich das Gegenteil feststellen, geht alles seinen geregelten Gang. Wohin, das ist eine andere Frage.
 
Zum Schluß ein Surftipp, kostet Euch nur 1 Minute: der finale Kommentar zum "Bigbrother"!
 
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© 1996-2000 Claudia Klinger
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