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15.03.01 Weiteres per Telefon?

Mittlerweile leben zwei verschiedene Menschentypen auf diesem Planeten: solche, die hauptsächlich E-Mail zur Kommunikation nutzen und die Telefonierer. Letztere mögen durchaus eine eigene Website mit Mailto-Link ihr eigen nennen, doch irgendwie scheinen sie diese Möglichkeit nicht ganz ernst zu nehmen. Mailt man sie an, bekommt man Tage oder gar Wochen später die kurze Nachricht: Rufen Sie doch an! Ohne Angabe einer Telefonnummer, versteht sich, und natürlich ohne Mailfooter, der das Wiederfinden der Website zwecks Suche danach erleichtern könnte.
 
In den letzten zwei Wochen hatte ich mehrere solche Erlebnisse: ein Makler beschied mir, ich solle weitere Fragen zu einem angebotenen Mietobjekt doch bitte per Telefon stellen. Der Webmaster einer großen Institution teilte mit, ich solle wegen meiner Fehlermeldung (Datenbank war nicht ansprechbar!) doch die Hotline anrufen. Und ein alter Bekannter aus Berlin schrieb auf meine Frage, ob er noch die gleichen Dienstleistungen wie früher anbiete: "Hallo Claudia, danke fürs melden. Ruf doch einfach an! Am sichersten morgens 8 - 9.00 Uhr".
 
Einfach anrufen? Ich glaub, es hackt! Meine erste Reaktion auf solche Mails liegt weit im Minusbereich: Was fällt denen ein, mich zum telefonieren zwingen zu wollen? Warum soll ich Geld und Zeit für Ferngespräche ausgeben, wenn noch gar kein Grund dafür vorliegt? Womöglich "öfter versuchen", meine Arbeitsrythmen unterbrechen, morgens zwischen 8 und 9 nicht Diary schreiben, sondern die Muschel ans Ohr halten, um VIELLEICHT den anderen LIFE zu erreichen - der mir dann womöglich sagt, mit meinem konkreten Anliegen sei ich hier falsch, aber schön, mal wieder gesprochen zu haben? Noch schlimmer: In der Warteschleife einer Hotline demütig ausharren, bis ein "Zuständiger" mir sein Real-Life-Ohr leiht, dem ich dann NOCHMAL sage, dass deren Datenbank nicht funktioniert? Ist doch IHR PROBLEM - und dafür soll ICH zahlen? Und der Makler: Warum geht er online mit seinen Angeboten, wenn er per Mail keine Fragen dazu beantworten will? Man will wohl "drin sein", aber bitte nicht so richtig...
 
Ja, das ist ungerecht, ich weiß, ich weiß. Beruhige mich dann auch wieder, mache mir klar, dass die das nicht so meinen, sondern lediglich in ihren Vor-Internet-Gewohnheiten fest stecken. Und Gewohnheiten sind starke Mächte, die man nicht von heut auf morgen einfach verabschieden kann. Das Netz ist immer noch jung, viele sind neu und empfinden keinerlei Sicherheit im Umgang mit der Technik. Viele haben - bewußt oder unbewußt - eine ganze Reihe von Ängsten und Bedenken, vermeiden womöglich ganz, ihre Mailadresse auf eine Website zu stellen. Es könnt' sich ja eine unverlangte Werbemail einfinden, Horror!
 
Ein Psychologe (und Telefonierer!) würde mich jetzt locker als kommunikationsgestört diagnostizieren, von Realitätsflucht sprechen und über die zunehmende Isolation vor dem PC lamentieren: Angst vor der Stimme des Anderen? Angst vor REAL LIFE, das unmittelbare Reaktionen erfordert und nicht coole, durch die Ratio gefilterte Texte?
 
Mitnichten. Ich telefonniere gern. Mit Freunden, mit Kollegen und Verwandten - und auch mit Menschen, die ich eine Zeit lang "per Mail" kennen und schätzen gelernt habe. Dann fühle ich eine Unvollständigkeit, möchte den Anderen auch mal von Angesicht sehen, aber vorher (oder ersatzweise) am Telefon erleben. Da kommt nämlich weit mehr vom "Nonverbalen" 'rüber als per E-Mail.
 
Dieses "Mehr", diese Fähigkeit & Möglichkeit zu ganzheitlich-menschlichen Kontakten, die Mail, Telefon und Face-to-Face umfassen, ist nun aber eine begrenzte Ressource: zeitlich gesehen und auch psychisch. Vor zehn Jahren, vor den Zeiten des Netzes, hatte ich vielleicht Kontakte zu ein paar hundert Leuten: ein paar Freunde, die jeweiligen Arbeitskollegen, die Mitglieder meiner Yoga-Gruppe und Leute aus den Creative-Writing-Kursen. Flüchtig begegnete ich Kneipenwirten und Gästen, Händlern, Sachbearbeitern, Nachbarn aus dem Haus. Das "Organisatorische" (Behörden etc.) erledigte ich alle Monate in ein paar langweiligen Stunden am Schreibtisch. Alles recht überschaubar, locker per Real Life, Telefon und Schneckenpost zu organisieren.
 
Die Netzplosion
 
Wenn ich den damaligen Zustand nun mit heute vergleiche, fallen mir gar keine passenden Metaphern mehr ein für die explosive Vervielfachung der Kontakte, Themen, Arbeits- und Interessengebiete. Und alle erfordern Beteiligung und Kommunikation! Gleich geblieben und nur wenig verändert hat sich die Zahl der "Nahestehenden" - mit dem Unterschied, dass etliche davon nun nicht mehr um die Ecke wohnen, sondern am anderen Ende der Republik. Aber vervieltausendfacht haben sich die "organisatorischen" und "informatorischen" Kontakte, der beiläufige Austausch mit Leuten, die ich aufgrund ihrer Websites anspreche, weil ich etwas suche oder wissen will. Dazu die Mitgliedschaft in etlichen Mailinglisten zu Themen wie Webdesign, Netzliteratur, Netzpolitik etc., die Besuche verschiedener Foren, die Kontakte mit Menschen, die MICH aufgrund von Veröffentlichungen anmailen und schliesslich die vielen rein technisch-organisatorischen Angelegenheiten (Provider, Newsletter, Shops & Dienstleister...) - wenn ich es so hinschreibe, wundere ich mich selbst, dass das alles möglich ist!
 
Doch ich fühle mich keineswegs "verloren" im Cyberspace oder ohnmächtig & hilflos angesichts der unendlichen Möglichkeiten und Angebote - nein, die Fähigkeiten, da locker durchzufinden, sind im Lauf der Jahre mit dem Netz gewachsen. Es ist kein Problem, an den eigenen Interessen entlang zu navigieren und großen Nutzen daraus zu ziehen: Wissen, was läuft, mitmachen, wo man Lust hat, neue Dinge selbst erfinden und realisieren.
 
Ein Auszug aus meinem völlig chaotischen Bookmark-File zeigt zum Beispiel 64 Links: 30 davon stehen für Ziele, wo ich nicht nur hingeguckt, sondern auch Kontakt aufgenommen, Mails gewechselt oder etwas reingeschrieben habe. Das geschieht ganz nebenbei, gelegentlich einer "Kurzreise" unter der Überschrift "Papageien" oder "Brandenburg", meist während einer Arbeitspause. Und wenn dann auf eine schlichte Info-Anfrage Antworten kommen wie "Rufen Sie doch an", dann ist das, als würde ich dem Bauer hier drüben, der mit seinem Mähdrescher an einem Vormittag seine paar Quadratkilometer Weizenfeld aberntet (und drischt, in Ballen presst und das geballte Stroh wieder absetzt), locker zurufen: Nehmen Sie doch den Rasenmäher!
 
Dieser Text ist den Telefonierern gewidmet, ein Versuch, zu erklären, wie das Leben in der Netzwelt sein kann und warum es ganz unmöglich ist, all diese Dinge noch per Telefon zu erledigen. Und Telefon ist ja auch nicht mehr das, was es mal war: Es klingelt und der Andere ist dran! Nein, man landet beim Anrufbeantworter, in der Warteschleife oder beim Unzuständigen, bekommt Bürozeiten mitgeteilt oder Handy-Nummern, die man "in dringenden Fällen" anrufen soll. Und es wirkt immer unhöflicher, jemanden ohne Vorwarnung aus dem herauszureißen, worauf er sich gerade konzentriert - denn Konzentration ist gar nicht so leicht beizubehalten in alledem, worauf der "flexible Mensch" heute acht geben muss.
 
Das Netz ist ein Filter. Mit den Mitteln des Netzes, Email und Webseiten, finden sich unter Millionen die Menschen zusammen, die aktuell etwas miteinander zu tun haben wollen: persönlich, geschäftlich, organisatorisch, politisch, just for fun. Wenn der Blick auf die Website und der folgende Mailvorlauf ergeben hat "ja, das ist so einer", dann telefoniere ich gern. Mit manchen sogar fast ausschließlich.
 


 
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© 1996-2001 Claudia Klinger
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