Menü + FAQ + Briefe + Foto + Statistik + Forum + Kontakt? + mehr...

Hast du eine Homepage? Oder planst Du eine?
Lust, dazu EINE FRAGE zu beantworten?
Das Neueste steht zu oberst. Ein RELOAD bringt Dir die aktuelle Version. Außenlinks öffnen ein zweites Browserfenster - manchmal, manchmal auch nicht.
Das Diary erscheint jetzt wieder (fast) täglich.

 



10.10.00 Tauschgeschäfte

Vor den Zeiten des Netzes dauerte mein längster Job gut zwei Jahre, eine kleine Ewigkeit. Per Netz arbeite ich nun seit 1996, lange voller Euphorie über die Bequemlichkeit und Effektivität, mit der ich von zuhause aus heute dieses und morgen jenes tun kann. Web-Aufträge dauern nicht lang, dazwischen passen eigene Projekte, bei denen ich tun kann, was ich will. Ein Paradies! So dachte ich lange, sehr sehr lange. Jetzt vergeht das fünfte Jahr, der dritte Computer rumpelt, der zweite Monitor strahlt 19 Zoll breit, der dritte und teuerste Bürostuhl meiner Sitz-Karriere schont meine Wirbelsäule - und seit einem guten Jahr sitze ich sogar in der gewünschten Wohnung auf dem Land. Und jetzt?
 
Soll das jetzt so weiter gehen bis ich sterbe? Morgens E-Mail abrufen, dann ein bißchen Diary schreiben, sofern mir etwas einfällt. Dann ein Blick in zwei Mailinglisten, ein paar Antworten an meine Kollegen, den SPAM im Eingangsordner löschen und schließlich der Versuch, mich einer Arbeit zuzuwenden, gar nicht so leicht, denn meistens stehen mehrere Dinge zur Wahl, liegen an, wie es so heißt. Dazwischen immer mal wieder Mail, ein Blick auf zwei, drei Webseiten: hat sich was verändert? Ob ja oder nein, es haut mich nicht mehr vom Hocker. Ich kann mich auch nicht mehr begeistern, wenn ich eingeladen werde, "fire flyer" - ein Flash-Spiel über einen kleinen Feuerkopf und seine eisigen Wiedersacher anzusehen. Die Suche nach der Literatur und Kunst des neuen Mediums ödet mich an - warum?
 
Literatur und Kunst fand ich immer schon nur insoweit interessant, als da jemand etwas zu sagen hat, etwas zum Ausdruck kommt, das aus dem Künstler oder Autor herausdrückt und dabei, sozusagen beiläufig, neue Formen gebiert. Eher verzichte ich auf neue Formen als auf einen Inhalt, der mich anspricht. Und lese dann halt Stephen King...
 
Real Life? Mehr Menschen statt Webseiten? Ach, die Texte, Bücher, Webseiten und E-Mails sind doch oft das Beste, was einer aus sich herausdestillieren kann. Wenn sie gut sind, kommen sie aus einer Distanz zur eigenen Person, die durch das Symbolisieren erst zustande kommt. Lerne nie den Autor kennen, den du bewunderst! Unterhalb des Symbolischen brodelt das Reale, und wenn man nicht gerade verliebt ist, ist es wie fauler Fisch.
 
Bin ich verliebt, bin ich selber für kurze Zeit aus dem Schneider - aber für die anderen wird der Fisch NOCH fauler. Denn meine Bedürftigkeit richtet sich dann auf nur noch EINE Person, die mir Hölle und Paradies sein kann - der arme "Rest" verliert jede Wichtigkeit, versinkt grau-in-grau in der Bedeutungslosigkeit.
 
In Berlin hatte ich eine Freundin, die seit über 20 Jahren allein gelebt hat. Wir trafen uns oft und hatten Freude aneinander. Kurz nach meinem Wegzug rief ich sie an, konnte sie aber nicht erreichen. Technisch schon, doch wimmelte sie mich recht kurz ab unter Hinweis auf eine neue Beziehung, die sie ganz in Anspruch nehme. Ein paar Wochen später versuchte ich es wieder, noch immer war sie wie ver-rückt, hin- und weg, wie man so sagt, nicht mehr ansprechbar. Als ich sie jetzt zufällig während meines Berlin-Besuchs traf, war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst, wirkte krank und grau, schwer leidend. Sie bemerkte mich immerhin, teilte kurz mit, ihr ginge es schlecht, jetzt müsse sie aber weiter, keine Zeit. Auf meine Frage nach der neuen Beziehung meinte sie, diese bestimme ihr ganzes Sein. Ja, das war nicht zu übersehen!
 
Früher wäre ich einfach nur sauer gewesen, weil mir ihre Beachtung abhanden gekommen ist, hätte vielleicht ein bißchen Stress gemacht, an ihre Moral, an die FREUNDSCHAFT appelliert. Heute verlangt es mich nicht mehr danach, es stimmt mich nur traurig, dass es ihr so schlecht geht und sie gleichzeitig völlig unansprechbar ist. Ich kenne das ja, hab' selber oft genug alle Energie daran gesetzt, an einem Unglück festzuhalten, insbesondere in Beziehungen. Von aussen kann man da nichts ändern.
 
Alleinstehende sind vergleichsweise umgänglich und offen. Ihre Energie ist nicht von einer Person absorbiert, ihre emotionale Bedürftigkeit flottiert frei durch einen Freundeskreis oder verwandelt sich in Kunst- und andere Werke. Auch Paare, die über den Beziehungs-Clich hinausgekommen sind, sind wieder zwei einzelne Personen und als solche ansprechbar. Das ist dann "Normalität". Diese Normalität ist allerdings nicht von anderer Qualität, sondern nur eine andere Verteilung derselben menschlichen Bedürftigkeiten, die einfach nur gesättigt sein wollen, mehr nicht. Zwischenmenschliche Kontakte sehe ich mehr und mehr in ihrem Charakter als Tauschgeschäfte: Dienst du meinem Ego, diene ich deinem. Automaten gehen mit Automaten um.
 
Mich stimmt das melancholisch und das ist ein gutes Zeichen. Denn ich bin ja nicht anders als andere und wenn ich mir etwas wünsche, was jenseits dieser Mechanismen steht, dann ist das ein allgemein menschlicher Wunsch, mit dem ich nicht alleine bin, zumindest im Geiste. Nach dem Miteinander im Leben verlangt es mich immer weniger. Bin schon zufrieden, im Supermarkt, im Wartezimmer des Zahnarztes oder in der Sauna Menschen zu sehen - einfach nur zu sehen, maximal ein kleiner Smalltalk, ein Lächeln, ein wacher Blick (welch ein Wunder!). Jedes MEHR würde sofort in die Welt der Tauschgeschäfte führen und kippt im schlechten Fall in Krieg um.
 
Ob nun Krieg, Markt oder Tausch: Wer darin immer erfolglos ist, wird vielleicht unglücklich sein, sich aber nicht langweilen. Sondern immer weiter strampeln und kämpfen, koste es, was es wolle. Erst eine Reihe Gewinne und Siege bringt die Erfahrung, dass auf diese Weise absolut nichts zu erreichen ist, was den Einsatz lohnt. Es ist, wie ein Fünf-Mark-Stück in den Schlitz des Zigarettenautomaten werfen: Wow, die Packung kommt 'raus! Einen Tag später ist sie dann leer, du brauchst eine neue, es kostet Geld und schadet der Gesundheit.
 
Schade, dass das nur eine Analogie ist. Jetzt hol' ich mir den nächsten Kaffee und steck' mir eine an.
 
+ Diesen Beitrag kommentieren?
 
 


© 1996-2000 Claudia Klinger
Digital Diary - www.claudia-klinger.de/digidiary/