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08:08:00 Die dritte Trägheit

Der Himmel ist heute wieder grau, schwacher Nieselregen fällt auf die neu erstandenen "Bäderliegen", auf denen ich in den letzten Tagen viele Stunden zubrachte. Gut so, denn so lockt es mich nicht nach draußen, weg vom Monitor. Es steht wirklich an, mal wieder konzentrierter etwas zu tun! Das sag' ich mir nun schon seit Tagen, immer morgens, doch alles, was dann wirklich zustande kommt, sind die Diary-Einträge und ein paar Mails an Listen und Freunde.
 
Aufräumen, real und virtuell, wäre ein guter Einstieg. Obwohl ich darauf achte, nicht zu viele Gegenstände in meiner Wohnung anzuhäufen - ich mag es übersichtlich, will nicht herumsuchen müssen - neigt die Ordnung immer wieder dazu, in Chaos überzugehen. Dabei tu' ich gar nichts, so kommt es mir wenigstens vor, dennoch gerät alles wie von selbst ausser Form und an den Decken sammeln sich Spinnweben, in denen sich der Staub (woher nur?) verfängt. Auf den Fenstersimsen liegen verstorbene Insekten und auf allen Ablageflächen sammeln sich Papiere, Briefe, Zeitungen, Bücher. Nicht sehr viele, es wäre alles binnen Minuten ordentlich gestapelt, doch das mach' ich nicht, obwohl der Anblick der Unordnung regelrecht schmerzt: Es soll nicht der Eindruck aufkommen, die Dinge seien in Ordnung, nur weil sie rechtwinklig aufeinander liegen.
 
Tiefdruckgebiete, wie sie seit Wochen über Gottesgabe ziehen, nehmen Energie weg. Man fühlt sich schwerer, mehr in Richtung Erde gezogen, als trage man Kleider mit kleinen eingenähten Gewichten, die nach unten ziehen. Dagegen hilft nur körperliche Bewegung, doch die Schlappheit macht nicht gerade Lust darauf. Und warum soll ich auch immer gegen etwas angehen? Gegen Chaos, Trägheit und Zerstreutheit immer wieder Ordnung, Energie und Konzentration setzen?
 
Ich weiß, es wird nichts anderes übrig bleiben und je früher ich damit anfange, desto leichter ist es. Der Berg verschobener oder ignorierter Kleinigkeiten wird mit jedem Tag größer und mit ihm wachsen die Widerstände, sich der Dinge anzunehmen. Ich weiss, ich weiss, ich weiss, aber anscheinend ist Wissen nicht genug und ich habe schon zu lange damit aufgehört, mein eigener Sklaventreiber zu sein, als dass diese Betrachtungen genügen würden, mich in Aktion zu versetzen.
 
Seit einiger Zeit lese ich das Buch: Der Mönch und der Philosoph - Buddhismus und Abendland. Es ist ein Dialog zwischen Vater und Sohn, zwischen Jean-Francois Revel (der Philosoph) und seinem Sohn Matthieu Ricard, der als habilitierter Molekularbiologe sein Leben im Westen aufgab und buddhistischer Mönch wurde. Seit langem begleitet er den Dalai Lama auf seinen Reisen. Das Gespräch der beiden fasziniert mich, sämtliche Essentials des Buddhismus werden mit der abendländischen Philosophie verglichen, doch auf eine unakademische Weise, ganz an der Frage orientiert: Was bringt's?

Vielleicht schreibe ich ein andermal mehr zu diesem wunderbaren Buch. Jetzt ist es mir nur eingefallen wegen der Definition der Trägheit im Buddhismus. Danach gibt es drei Formen der Trägheit: Die erste besteht darin, seine Zeit mit Essen und Schlafen zu verbringen. Die zweite, sich zu sagen: "Jemandem wie mir wird es nie gelingen, sich zu vervollkommnen". Die dritte Trägheit - und das ist wohl meine bevorzugte - besteht darin, sein Leben mit zweitrangigen Aufgaben zu vergeuden, ohne jemals zum Wesentlichen zu kommen. Man verbringt seine Zeit mit dem Versuch, nebensächliche Probleme zu lösen, die sich endlos aneinanderreihen wie die Kräuselungen auf der Oberfläche eines Sees. Man sagt sich: "Wenn ich dieses oder jenes Vorhaben abgeschlossen habe, werde ich mich darum kümmern, meinem Dasein einen Sinn zu geben."
 
Als Mittel gegen die dritte Trägheit wird empfohlen, zu begreifen, dass man nur dann ans Ziel seiner endlosen Vorhaben gelangen kann, wenn man sie fallen läßt und sich ohne Zögern dem zuwendet, was dem Dasein einen Sinn gibt.
 
Wenn ich so herumhänge und nicht mal aufräume, mich de facto auch allen anstehenden "zweitrangigen Aufgaben" verweigere, warte ich im Grunde auf den Impuls, auf eine Art Eingebung, auf einen neuen Kontakt zum Gefühl von SINN. Das Kind in mir läßt sich nicht mehr zum Zimmer-aufräumen überreden, wenn nicht ein Stück "blaue Blume" an irgend einem Horizont winkt. Immerhin - und darüber bin ich wirklich glücklich! - neigt es auch nicht mehr zur Selbstzerstörung aus blossem Frust, wenn mal eine Zeit lang kein heiliger Gral in Sicht ist.
 
Diese Worte sind vielleicht mißverständlich: Ich glaube nicht an einen bestimmten, vorgegebenen SINN, der ein für allemal zu finden und zu verwirklichen wäre. Und auch nicht daran, dass man diesen Sinn einfach so SETZEN kann, aus philosophischen oder anderen Überlegungen heraus. Das Sinn-hafte ist eine energievolle, klare Seinsweise, zu der man von jetzt auf gleich in Kontakt kommen, die man aber nicht VERANSTALTEN kann. Allenfalls ist es möglich - und dazu bekomme ich jetzt dann doch Lust! - das Störende und Verstopfende beiseite zu räumen, damit ein Vakuum, eine Leere entsteht, in die die Fülle strömen kann.
 
Also doch: aufräumen!
 
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© 1996-2000 Claudia Klinger
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