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04:07:00 Selbstdarstellung im Web

"Immer wenn ich auf Deine Seiten komme (gestern z.B. im Forum) und dann sehe, wie Du Dich präsentierst, sagt mein erster Reflex: Meine Güte, ein bisschen selbstdarstellerisch ist sie schon. Auf der anderen Seite: Na und? Es ist persönlich und individuell statt abstrakter Clip-Art. Ich kann dazu nur sagen, dass jede Seite meiner Domains, auf denen ich was ÜBER mich schreibe, ein Zugeständnis an die Tatsache ist, dass ICH SELBST auch gerne was vom Menschen sehe - aber wohl fühle ich mich nicht dabei".
 
Besser - und zudem so freundlich - könnte man das Spannungsfeld, in dem sich nicht nur meine Art persönlichen Webpublishings bewegt, kaum auf den Punkt bringen! Ich danke dem Schreiber für den guten Aufhänger, das Thema hat es in sich: ich sinne ihm denkend, schreibend, publizierend und experimentierend seit Jahren nach.
 
Wenn ich auf einer Website lande und irgend etwas finde, das meinen Besuch auch wert ist, suche ich sofort nach Links wie "über uns", "Impressum", "über den Autor", "über mich" oder Ähnliches, das einen Blick hinter die Kulisse verspricht. Finde ich nichts dergleichen oder nur abstrakte Firmen- und Projektnamen mit Adressen wie info@irgendwas.de bin ich leicht beleidigt und ziehe meine Schlüsse. Ich weiß, daß diese Schlüsse nicht unbedingt der "Wahrheit" entsprechen müssen:

Kann alles sein, muß aber nicht - trotzdem stehe ich zu meiner Kritik, denn ich erwarte vom Herausgeber einer Website einen bewußten Umgang mit der Möglichkeit, dass der Besucher solche Schlüsse zieht. Völlige selbstdarstellerische Askese ist also immer ein Fehler - es sei denn, der Charakter der Site fordert sie, wie z.B. eine Fake- oder Netzkunst-Seite.
 
Man möchte etwas vom anderen Menschen sehen - fühlt sich aber nicht wohl dabei, sich selber zu zeigen. So war auch mein Einstieg, mein Gefühl, als ich die ersten Projekte ins Netz stellte: hauptsächlich Gedichte und Prosatexte anderer, versammelt unter Projektnamen wie "Human Voices" und "Missing Link", - oder NÜTZLICHE Themen, optimal aufbereitet, und irgendwo versteckt, ganz bescheiden im Kleingedruckten: "Claudia Klinger". Dem entsprechend waren auch meine ersten Artikel: verallgemeindernd und abstrahierend, wenig persönlich, so, wie man sie aus Printmedien kennt: pseudo-objektiv, journalistisch. Und natürlich hatte ich keine "Homepage", sowas Furchtbares mit Foto, Hobbys, Verwandten und Freunden, Hund und Hamster, womöglich Bilder vom letzten Urlaub... schauder!!!!! Kopfschüttelnd schaute ich auf solche Seiten und fühlte mich meilenweit darüber erhaben.
 
Das aber ist eine Selbsttäuschung, der ich mich heute nicht mehr hingebe. Das freiwillige und eingendynamische Webben wirft immer wieder die Fragen auf: WAS? Warum? In welcher Form? Was hat das mit MIR zu tun? Was bringt es MIR?, und man muss schon ganz besonders ignorant sein, um nicht zu bemerken, dass auch die nützlichsten Inhalte und ehrenvollsten Projekte (sofern sie nicht dem reinen Broterwerb dienen), ihren letzten Zweck darin finden, seine Majestät, das ICH, in den Fokus der Aufmerksamkeit anderer zu bringen. Es kommt natürlich besser und vor allem BEILÄUFIG 'rüber, wenn da lobenswerte Leistungen vorgezeigt werden, als wenn man massiv die eigene Person in den Mittelpunkt stellt.
 
Als ich diese Tatsachen noch nicht sehen wollte, klebte ich mehr oder weniger am Zugriffszähler, verwandte 1996 viel Zeit und Energie darauf, die Abrufzahlen zu steigern, immer im Glauben, das hätte mit mir wenig zu tun, sondern ich wolle nur "dienen", den Autoren nämlich, die ich da ausstellte, und natürlich den INHALTEN. Welche Einfalt! Als ich bei 200 Zugriffen/Tag so langsam den Anforderungen nicht mehr nachkam - Links aktualisieren, immer nette Antworten schreiben, neue Links formulieren - fragte ich mich endlich, warum ich mir eigentlich diesen Stress machte. Und kam auf die einzig mögliche Antwort, siehe oben.
 
Meine Konsequenz war, nicht mehr soviel von anderen zu bringen, sondern - wenn schon, denn schon - MEINE Inhalte zu verwebben. Für den Zähler arbeitete ich nicht mehr, denn ich hatte gelernt, dass es nur eine Sache geschickter und beharrlicher PR ist, viele Zugriffe zu bekommen - was soll ich damit? Es sagt ja nichts weiter aus, als dass ich gut PR machen kann - und DAS ist es nun nicht, weshalb ich "angeklickt" werden will. Warum aber dann?
 
Jetzt treten sie auf, die bekannten Allgemeinplätze wie "Jeder will geliebt werden" oder "Mensch ist Mensch nur unter Menschen" bis hin zu psychologischen Erklärungen, Erziehung, Kindheit, Konkurrenzgesellschaft, Individualisierung, etc.. Befriedigt mich alles nicht, eine Antwort auf die Frage hätte ich erst, wenn das Begehren, das mich treibt, gestillt ist - dann könnte ich sehen, was die Ursache war. Vor allem wäre auch die absurde Tatsache aufzuklären, dass ich mich zwar ausdrücken und bemerkt werden will - aber es wirklich nicht schätze, im "Real Life" auf irgend ein Podium zu treten. Auch dann nicht, wenn der Auftritt erfolgreich abläuft. Allgemein mag ich keine Menschenansammlungen und Leute, die - in welcher Hinsicht auch immer - hinter mir her sind, treiben mich eher in die Flucht, als dass ich daran Freude hätte.
 
Inhalt & Ich
 
Da ich nun schon bereit war, anzuerkennen, dass ich "mich" zeigen wollte, stellte sich doch deutlicher die Frage: Was ist das Ich? Zu welchen "Inhalten" kann ich sagen: Das ist meins, das bin ich, das stell' ich aus auf der Domain www.claudia-klinger.de? Dass diese Domain überhaupt existiert, ist schon die Folge der Einsicht, dass es KEINE Inhalte gibt, mit denen ich mich absolut identifiziere. Vorher hatte ich alle drei Monate ein neues Projekt, immer mit voller Begeisterung: DAS IST ES JETZT! Und wenig später begann es, mich zu langweilen: warum sollte ich immerzu die selbst geschaffenen Schubladen meiner Vergangenheit bedienen?
 
Das Webdiary als formlose Form des Publishing hatte ich in einer Phase kennengelernt, als ich mir das Rauchen abgewöhnen wollte (3 Monate hat's gedauert) und dazu täglich ein Nichtraucher-Diary schrieb, um daraus Kraft und Stabilität für das Gift-freie Dasein zu ziehen. Kurz nachdem ich das Thema Rauchen totgeschrieben und das Diary beendet hatte, qualmte ich wieder wie ein Schlot - und startete das "Digital Diary": Endlich eine Bühne, deren Kulissen ich nicht dauernd verschieben muss, ein Theaterstück, dass nicht alle paar Wochen einen neuen Namen braucht, weil meine Interessen und Vorlieben sich wieder einmal verändert haben.
 
INHALT des Diarys ist - wie Ihr wißt - alles und nichts. Mehr noch: wenn ich mal zurücklese, kann ich leicht sehen, dass zu vielen Themen die Gedanken und Gefühle wechseln wie das Wetter - manchmal auch MIT dem Wetter. Allein die Tatsache, dass all dieser Wust aus mir heraus auf Webseiten quillt, dass ich mich also schreibend als AUTORIN (auto: griech: "Selbst") generiere, das blosse "Ursache sein" scheint zu genügen. Doch halt, nicht ganz: das jeweils in die Welt Ausgegossene muss möglichst dicht dran sein an der "Wahrheit", wie ich sie im Augenblick als meine Wahrheit erlebe - immerhin! Aber was heisst das schon, wenn ich doch keinen Tag diesselbe bin? Und mich nicht mal anstrenge, das zu verbergen, um wenigstens einen "stringenten Eindruck" zu machen?
 
Warum um Himmels Willen wünsche ich also, dass etwas bemerkt wird, von dem ich selber nicht weiss, was es ist?
 
Lacan sagte: "Das Begehren begehrt das Begehren des Anderen". Eine schöne Formulierung, die das Rätsel auf den Punkt bringt, aber nicht aufklärt. Begehre mich - aber bleib mir vom Leib, jede Konkretisierung wäre eine Lüge und würde zur Fessel werden.
 
Ich werde weiter experimentieren. Warum sollte nicht auch Webdesign & Publishing ein Weg zur Selbst- und Welterkenntnis sein?

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© 1996-2000 Claudia Klinger
Digital Diary - www.claudia-klinger.de/digidiary/