Claudia am 30. August 2017 —

Familiennachzug: Organisieren und integrieren statt dramatisieren!

Zugegeben, ich war auch erst erschrocken angesichts der Schlagzeilen, z.B. bei Focus: „Ab 2018 können 390.000 Syrer ihre Familien nach Deutschland holen“ – und unter dem Artikel gleich Kommentare, die den Untergang des Landes an die Wand malen und davon ausgehen, dass gleich jeder Syrer 4 bis 6 Angehörige nachholt, bzw. „seine ganze Sippe“, wie ein rechtes Hetzblatt schreibt. Als würden die alle auf einmal im Frühjahr 2018 auf der Matte stehen!

Schätzungen und „Potenziale“…

Die Daten stammen von BILD, die aus einem nicht näher bezeichneten „internen Papier“ der Bundesregierung berichtet. Das würde ich doch gerne einmal selbst lesen und bewerten! Es kursieren in Behörden viele Texte, bevor offizielle Zahlen zu irgend etwas genannt werden. Aber sei’s drum, selbst aus dem BILD-Artikel geht hervor, dass man keinesfalls weiß, wie viele Familienangehörige tatsächlich kommen werden. Es handelt sich um Schätzungen und bloße „Potenziale“!

Der Direktor des Bayerischen Gemeindetags, Franz Dirnberger, relativiert die Zahlen: Man dürfe nicht den Fehler machen, die 390 000 mit vier oder fünf potenziellen Familienangehörigen zu multiplizieren. Viele Antragsberechtigte seien schon mit ihren Frauen und Kindern gekommen, andere seien Minderjährige, die noch keine Familien haben. Schätzungen gehen von 1,3 nachkommenden Angehörigen pro Antragsberechtigtem aus (Merkur).

Selbst wenn es noch ein paar mehr werden, wie Dirnberger vermutet: Sie kommen nicht alle auf einmal, denn die Wartezeiten bis zur Genehmigung der Anträge sind lang. Es bleibt also Zeit, sich organisatorisch auf den Zuzug einzustellen, umso besser, da sich die Lage in den Aufnahmeeinrichtungen und Heimen ja bereits deutlich ENTSPANNT hat. Es gibt vielerorts sogar wieder Leerstand, wo 2015 noch Flüchtlinge beherbergt wurden.

Lasst die Kinder zu uns kommen!

Wer nun mit den Kosten argumentiert, die zweifellos in der ersten Zeit anfallen, dem halte ich entgegen: Lesen und hören wir nicht täglich, wie GUT es dem deutschen Staat geht? Noch nie sprudelten so viele Steuereinnahmen, die auch jetzt wieder die Erwartungen übertreffen. DIE WELT titelt „Die Regierung schwimmt im Geld“  und allein im ersten Halbjahr erzielte der Fiskus 18,3 Milliarden Überschuss.

Selten war die Lage wirtschaftlich so günstig, also sollte niemand glauben, wegen noch einer halben Million Angehöriger zu verarmen bzw. nichts mehr vom Kuchen abzubekommen.

Vor allem: Familiennachzug ist für eine gelingende Integration unverzichtbar! Wer ständig daran denkt, was wohl zuhause mit der Familie passiert, kann sich hier kaum voll engagiert um Spracherwerb, Ausbildung und andere „Anpassungsleistungen“ kümmern. Und wer meint, das könne uns doch egal sein, könnte ja mal überlegen: Es sind die Kinder der Flüchtlinge, die leicht integrierbar sein werden. Sie haben die besten Chancen, zu „ganz normalen Deutschen“ mit Migrationshintergrund heran zu wachsen, je früher sie kommen, umso besser!

Auf die Kinder lassen sich die üblichen Vorbehalte nicht beziehen, ganz im Gegenteil kann man aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, sie nicht diskriminieren und ihnen gute Ausbildungen ermöglichen. Später kann man dann froh sein, dass sie mitarbeiten, denn die Erwerbsbevölkerung schrumpft bekanntlich und das gefährdet mittelfristig unsere heilige Kuh, das Wirtschaftswachstum.

Warum so unkreativ?

Nun wird darüber gestritten, ob man den 120.000 nur „subsidiär“ geschützten Personen den bereits um zwei Jahre ausgesetzten Famliennachzug noch länger oder ganz verweigern sollte. Asylberechtigte haben sowieso einen unabweisbaren Anspruch (auf Nachzug des Ehepartners und unverheirateter minderjähriger Kinder, nicht etwa der „ganzen Sippe“), denn der Schutz von Ehe und Familie steht im Grundgesetz.

Wenn immer wieder das Wohnraumproblem als Grund genannt wird, warum man nicht „noch mehr aufnehmen“ könne, stellt sich die Frage, warum eigentlich alle auf die gleiche Weise dasselbe System durchlaufen müssen (Erstaufnahme -> Flüchtlingsunterkunft -> Wohnung, falls sich jemals was findet). Man hätte doch auch mal Experimente machen können, z.B. in Gegenden, die unter der Landflucht leiden. Eine neue Stadt gründen für Flüchtlinge, Migranten und Menschen, die gerne etwas Neues wagen und auf vielerlei Weise an so einem Vorhaben mitwirken wollen. Natürlich nicht als Form des „Abschiebens ins Nirgendwo“, sondern als Leuchtturmprojekt, um das sich Bund, Land und Gemeinde kümmern. Neue Infrastruktur, Biolandwirtschaft, Kleinunternehmen, Tourismus, eine „Volks-Uni für den internationalen Frieden“ – ja, ja, das wäre natürlich nicht unproblematisch, klingt nach naiver Träumerei – aber mich wundert schon, dass so gar nichts Neues versucht wird, wenn es um den Umgang mit Migration geht.

Und jetzt noch was:

Solange es ist, wie es nun mal ist, muss man halt klein klein voran kommen und helfen, wo es geht. Das von mir 2013 mitgegründete Projekt „Formulare verstehbar machen“ hilft Flüchtlingen und Migranten, besser mit dem deutschen Amtsdschungel zurecht zu kommen. Damit es über den Jahreswechsel hinaus weiter läuft, brauchen wir dringend Spenden – lies doch mal die letzte News, den aktuellen Spendenaufruf mit Infos zur Lage. Seit ich den verfasst habe, ist ein wichtiger Dauerspender abgesprungen, dessen Haus von einem Orkan massiv betroffen wurde. Ein schlimmes Drama für ihn – und richtig Pech für unser Projekt!

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Diskussion

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5 Kommentare zu „Familiennachzug: Organisieren und integrieren statt dramatisieren!“.

  1. Hallo Claudia,
    kann es nicht sein, dass die zahlreichen Minderjährigen ihre Eltern und Geschwister „nachholen“? Ich glaube nicht, dass von dieser Personengruppe kein Nachzug zu erwarten ist.

    Ich finde es mutig, dass du dich dem Thema mit konstruktiven Vorschlägen näherst und nicht „nur“ Haltung zeigst. Leider wird das aber niemanden davon abhalten, die üblichen „Bedenken“ zu äußern.

    Ich glaube, dass die nächste Regierung (GroKo) den subsidiären Schutz für Flüchtlinge verweigern wird. Alle Maßnahmen, die bisher von der Merkel – Regierung ergriffen wurden, deuten in meinen Augen auf eine restriktive Handhabung aller mit der Migration verbundenen Probleme hin. Dazu gehört natürlich auch der Familiennachzug.

    Ich finde deine Argumente richtig. Wir werden weitere Probleme schaffen, wenn wir den Familiennachzug unterbinden. Für die Integration wäre es wichtig, dass möglichst viele Personen sich in einem familiären Umfeld bewegen können. Nur – erzähl das mal einem, der unser Land schon jetzt an der Grenze seiner Möglichkeiten sieht.

    Die Idee mit „der neuen Stadt“ klingt tatsächlich etwas nach Ausgrenzung, deren Konsequenzen wir in Form der Ghettobildung zum Nachteil aller zu spüren bekommen haben. Aber wir müssen angesichts der vielen Menschen ganz neu denken. Deshalb wäre das vielleicht ein Weg. Keine Ahnung, was es bedeuten würde, wenn neben dem Kampf um die notwendigen Beschlüsse die Fragen treten, wie man die nötige Infrastruktur schafft und wie hoch die Risiken – nicht nur die finanziellen – dafür einzuschätzen sind. Was ist mit Arbeitsplätzen? Wie auch immer. Die Themen um Migration müssen neu gedacht werden.

    Wir konzentrieren uns aber (gesellschaftlich gewollt) auf die reine Abwehr von Migranten. Erst wenn dieser Konflikt halbwegs abgeräumt würde, könnte man sich effizient an die nötigen Überlegungen heranwagen. Wir stehen vor dem Problem, dass es aus meiner Sicht für die Aufnahme einer weiteren Million Menschen im Land keine Mehrheit gibt. Ganz im Gegenteil.

  2. @Horst: Danke für deinen differenzierten Kommentar! Freut mich, dass noch jemand sich traut, was dazu zu schreiben!
    Zum Familiennachzug: Wurde nicht vielfach kritisiert, dass es sich mehrheitlich um junge Männer gehandelt hat? Das gäbe Probleme und Unfrieden… konsequenterweise müsste man dann den Familiennachzug befürworten!
    Ob es möglich ist, subsidiären Schutz zu verweigern, weiß ich nicht. Dachte, da gibt es internationale Vereinbarungen, an die DE gebunden ist?

    Klar, die Migrantenstadt wäre ein vielschichtiges, aufwändiges Projekt mit einigem Problempotenzial. Jetzige „Parallelgesellschaften“ sind damit aber nicht zu vergleichen, denn es wäre die erste kreativ GESTEUERTE Gemeinde dieser Art. Mit Verwaltung und allem, mit zunehmendem Knowhow der Migranten selbst verwaltet – wäre für manche aus diktatorischen Ländern auch eine „Schule der Demokratie“.

    Gegenüber Argumenten von links wie „das ist nur eine Art Abschiebung“ oder „keine Residenzpflicht nie und nirgends“ muss man dann halt auch mal Kante zeigen und sagen: Immer noch besser als draußen bleiben, oder etwa nicht? Ich denke übrigens nicht daran, Flüchtlinge einfach dahin zwangszuverschicken, es muss ein reizvolles ANGEBOT mit Entwicklungspotenzial für die Leute sein!

    Ausbildung und Arbeit könnte man durchaus organisieren, sowohl in neuen Bio-Betrieben (Berlin fragt z.B. viel mehr Bio-Gemüse nach als Brandenburg erzeugt!), in der Selbstverwaltung, in Gastronomie- und Handwerksbetrieben, im Tourismus (den man, je nachdem was es für eine Gegend ist, natürlich entwickeln müsste…) und schließlich auch ONLINE.

    Aber ich weiß natürlich: sowas bleibt hierzulande Utopie, zu sperrig, bürokratisch und ideologisch festgefahren sind hierzulande die Strukturen und potenzielle Akteure.
    Fakt ist aber: abgesehen von den 120.000 „Subsidiären“: die anderen sind anerkannte Asylbewerber, die ihre Familien nachholen. Man wird sich also was einfallen lassen müssen!

  3. Mit dem Thema verdient man sich in diesen Zeiten keine Meriten. Die Haltung von immer mehr Menschen ist in Sachen Migration (würde ich meinen) klar ablehnend. Nach meinem Eindruck besteht folgerichtig auch immer weniger Lust, überhaupt noch darüber zu diskutieren.

    Aber die Migration wird uns als Aufgabenstellung lange erhalten bleiben. Rechte Gruppen verkürzen die Diskussion gern, in dem sie die Leute zu Wirtschaftsflüchtlingen machen bzw. ihnen grundsätzlich das Recht absprechen, überhaupt hier zu sein. Dabei übersehen sie in meinen Augen, was wir mit unserer (europäischen) Politik insbesondere in Afrika anrichten. Dazu kommen die wirtschaftlichen Folgen der Klimaveränderungen. Ich sehe schlimme Zeiten auf uns zukommen. Aber weniger durch die Menschen, die nach Norden wollen, sondern durch die, die glauben, an diesem Tatbestand durch Grenzen und Vereinbarungen mit barbarischen Regimen etwas ändern zu können.

  4. Dabei übersehen sie in meinen Augen, was wir mit unserer (europäischen) Politik insbesondere in Afrika anrichten.

    Das möchte ich aufgreifen, weil mir das erst vor wenigen Tagen durch den Kopf ging.

    Das Thema: Welche Mitverantwortung haben die westlichen Industrienationen (wir) für Armut und Elend in den Herkunftsländern?

    Mir fällt auf: das Thema findet nicht statt. Warum nicht?

    Das konservative Lager sagt: Fluchtursachen bekämpfen. Das ernst zu nehmen hieße aber, dass das Thema Mitschuld der Industrienationen benannt werden müsste, und damit würden die Konservativen ihre Klientel verprellen.

    Es wäre Sache der politischen Linken, das zu thematisieren! Warum tut die es nicht?
    Das Thema zu benennen, hieße zu fordern: Lebensbedingungen in den Herkunftsländern verbessern, Fluchtursachen bekämpfen. Das zu tun würde aber dazu führen, dass weniger Menschen nach Europa kämen! Und das für erstrebenswert zu halten, wäre nach linkem Verständnis – Rassismus.

  5. @Arnd: also ich finde schon, dass das Thema „Mitschuld“ (ich würde es lieber Mitverantwortung nennen) stattfindet – es ist doch geradezu das TYPISCHE linke Argument! Dass es nicht von den Konservativen kommt, ist verständlich, aber eben nicht zu erwarten.
    Die brauchen es aber auch nicht, denn allein das Ziel „Flüchtlinge vermeiden“ reicht doch aus dieser Sicht als Grund aus, um „die Ursachen bekämpfen“ zu wollen.

    Wie das aber im Einzelnen stattfinden soll, ist ja angesichts der komplexen Ursachen nicht klar und alles andere als einfach. Schließlich ist nicht nur „der Westen“ mit seinem Freihandel verantwortlich, sondern ebenso lokale Despoten, Kriege, archaische Stammesstrukturen, das rasante Bevölkerungswachstum und der Klimawandel.