Claudia am 08. Februar 2012 —

RTL-Unterhaltung: Messi-Leben aufräumen – Start in ein neues Leben

„Sollen wir dein Leben aufräumen?“ fragt die „Messi-Therapeutin“ den 32-jährigen Frührentner Markus, der mit seinem Vater in einem Chaos lebt, das jeder Beschreibung spottet. Natürlich stimmt Markus zu, sonst wär‘ ja aus der neuen Folge von „Start in ein neues Leben“ nichts geworden.

Die Herkulesarbeit kann also beginnen: zuerst rückt das Entmüllungsteam an und befreit das Haus von 45 Kubikmetern Dreck und Müll, die sich dort in einem Ausmaß angesammelt und aufgetürmt haben, dass man sich als Zuschauer so richtig schön gruseln kann. Sämtliche total versifften Möbel kommen gleich mit weg. Markus hatte in der letzten Zeit nur noch auf der Wohnzimmercouch geschlafen, da er wegen der Müllberge sein Bett gar nicht mehr erreichen konnte. Es folgt die Ungezieferbekämpfung, denn überall haben sich Insekten breit gemacht. Danach das Putzen, wobei die Reinigungsdienstleisterinnen ausgiebig zu Wort kommen: so einen Dreck haben sie noch nie gesehen.

Während der Arbeiten erleidet der extrem übergewichtige Markus einen Kreislaufkollaps und kommt für zwei Tage in ein Krankenhaus, wo man ihn „gleich mal richtig durchcheckt“. Denn natürlich ist er mit seinen 220 Kilo Lebendgewicht Diabetiker, sein Blutzucker ist entgleist – eigentlich ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt!

Start in ein neues Leben

Jetzt aber wird – dank RTL! – alles anders: die Wohnung wird renoviert, mit schicken neuen Möbeln ausgestattet. Markus wird ordentlich medikamentiert und bekommt einen Ernährungs- und Fitness-Coach. Denn sein Messi-Leben wird nicht etwa nur mal oberflächlich durchgeputzt, damit man als Zuschauer eine Gaudi hat, oh nein! Auch ans Danach denkt der Sender: die Messi-Therapeutin Sabina Hankel-Hirtz wandert durchs Dorf und befragt die Anwohner über Markus, um sich ein Bild von dessen Leben abseits der Müllberge zu machen. Und oh Wunder: eigentlich mögen ihn viele, er gilt als hilfsbereit, brachte sich früher in einem Verein ein, und hat sogar eine „beste Freundin“. Nur hat er sich eben zurück gezogen, niemanden mehr ins Haus gelassen, und wer doch mal rein kam, flüchtete mit Grausen. Jetzt aber sind alle froh über den von RTL ermöglichten „Start in ein neues Leben“ und versprechen, sich künftig wieder um Markus zu kümmern.

Dann der große Moment, minutiös zelebriert: Markus und sein Vater betreten das frisch renovierte und neu ausgestattete Haus. WOW! Alles strahlt in sauberer Klarheit und sieht angenehm heimelig aus. Sogar ein paar antike, aber ebenfalls verdreckte Möbel aus der Scheune hat das „Messi-Team“ restauriert. Dem alten Herrn treten Tränen der Freude in die Augen und Markus lässt noch einige „Wows“ folgen. Vor dem Haus versammeln sich derweil die Dörfler, um die Wiederauferstehung des Markus aus dem Müll zu feiern. Als er mitsamt Vater und Therapeutin aus der Tür tritt, ist der Jubel groß: wieder eingebunden in die soziale Gemeinschaft des Dorfes, dessen Bewohner nun darauf achten werden, dass alles sauber bleibt, kann Markus einer lebenswerten Zukunft entgegen sehen. Sogar eine Putzhilfe für sechs Wochen spendet ihm der Sender noch, damit er lernen kann, wie man Müllberge vermeidet. Es ist einfach an alles gedacht!

Rettung gegen volle Transparenz

Beim Zappen durch die Kanäle bin ich gestern an dieser Sendung hängen geblieben. Anstatt in gewohnter kritischer Empörung über soviel inszenierten Voyeurismus gleich wegzuschalten, hab‘ ich mich drauf eingelassen. Mich berühren und mitnehmen lassen in die Gefühle, die diese Reality-Doku auslöst. Wohliges Entsetzen über die grusligen Lebensumstände, Spannung während der „Transformationsarbeiten“, Freude über den Erfolg, die Befreiung, die Rettung: siehe, alles wird gut!

Das Geschäft, dass da läuft, ist recht klar: „Rettung“ mit hohem Aufwand gegen die Bereitschaft des Messis, sich umfänglich zu zeigen. Und zwar mit allen degoutanten Details, mit Bergen aus Essensresten, Kakerlaken-Nestern und herum liegenden Exkrementen. Mit der eigenen Krankheit und ihrer Geschichte, sowie mit den Defiziten und Problemen noch vorhandener Beziehungen, die die Sendung mittels „therapeutischer Gespräche“ aktualisiert – etwa indem sich Markus bei seinem hilflosen Vater explizit entschuldigen muss, dass er ihn hat so im Dreck versacken lassen. Brisante emotionale Momente werden mittels audiovisueller Tricks besonders hervor gehoben, wie man es aus Casting-Shows kennt. Und wo sich von alleine nichts Zeigenswertes tut, hilft die Messi-Therapeutin nach. Schließlich sollen die Zuschauer richtig mitfühlen können und nicht einfach nur informiert werden!

Abgründige Ausbeutung oder Win-Win-Situation?

Ganz ehrlich: die wohlfeile Verurteilung dieser Sendung als bloß böse Ausbeutung der Betroffenen zu Gunsten gelangweilter, nach neuen Aufregern gierender Zuschauer fällt mir nach dem Zusehen nicht mehr so leicht. Und zwar nicht deshalb, weil ich mich nun grade selber vom Messi-Drama mitnehmen ließ, sondern mit Blick auf den Erfolg: auf den immensen Aufwand, den kein Sozialarbeiter-Einsatz unserer Behördenwelt jemals zustande brächte. Den auch in aller Regel kein Freundeskreis leisten kann, sofern es im Leben eines Messis solche noch gibt. Die Einbindung (und auch Verpflichtung!) der Dörfler, die Hilfen für die Zukunft (Coach, Putzhilfe) – alles in allem ermöglicht das doch tatsächlich diesem Markus einen echten „Start in ein neues Leben“. Einen Ruf hatte er sowieso nicht mehr zu verlieren, wie er da so isoliert in seinen Müllbergen mehr vegetierte als lebte – ist der Preis des „Outings“ da wirklich zu hoch?

Zwei Millionen Messis – wen kümmerts?

Jede Woche „rettet“ RTL2 also einen solchen Messi. Mich würde interessieren, was eine Nachschau nach einem Jahr ergäbe. Konnten die Betroffenen die Chance nutzen und das „neue Leben“ halten?

Und ich denke auch an all die anderen Messis, die „nicht genommen wurden“, weil sie vermutlich gar nicht mehr zu einer solchen Kooperation fähig wären. Und jene, die erst gar nicht entdeckt werden, weil niemand mehr ein Interesse an ihnen hat. Zwei Millionen Menschen sollen laut RTL vom Messi-Syndrom betroffen sein. Ich vermute mal, dass nicht alle in so extremen Verhältnissen leben wie Markus, doch frag‘ ich mich: was geht da eigentlich vor? Wie kommt es, dass so viele Menschen die einfachste Lebensgestaltung nicht mehr schaffen? Woran liegt es, dass Menschen so abstumpfen, dass sie im eigenen Müll versinken?

Ist es der Preis unserer individuellen Freiheit? Die es jedem überlässt, sich selbst zu zerstören, Hauptsache, das Elend bleibt in den eigenen vier Wänden? Gibt es das Phänomen auch in anderen Ländern, anderen Kontinenten? Gibt es Hilfen abseits der TV-Spektakel – und wenn ja, welche?

So abgründig diese Serie auch ist: sie hat mich zum Nachdenken angeregt. Allerdings hilft das keinem einzigen Messi weiter – im Unterschied zur Sendung, die von vielen mit einigem Recht als unterirdischer Trash abgehakt wird. Ist doch irgendwie unbefriedigend, oder?

***

Und hier kann man sich das Ganze anschauen – hätt ich zu Beginn der Sendung rein gezappt, hätt‘ ich nicht weiter geguckt…

Es gibt auch ein Interview mit der Messi-Therapeutin Sabina Hankel-Hirtz.

Diskussion

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21 Kommentare zu „RTL-Unterhaltung: Messi-Leben aufräumen – Start in ein neues Leben“.

  1. Nach Deinen Schilderungen der Sendung schliesse ich für mich vor allem eines: Man kümmert sich nicht um den anderen. Im besten Fall labt man sich daran, daß es Aussenseiter in seinem Umfeld gibt.
    In meiner Kindheit gab es den einen oder anderen (eher -die eine oder andere), die sich um solche Leute gekümmert haben. Oft scheinen das selbst „arme“ Leute gewesen zu sein, also welche, die selbst irgendwie am Rande standen und daher Mitleid empfanden. Es kann sein, daß dieses Verhalten u.a. auch christlich motiviert war.

  2. Hi Gerhard,

    danke dir herzlich für deinen Kommentar! Auch der Artikel scheint ja nicht sonderlich zu interessieren.

    Ich wundere mich selbst, dass mich diese Sendung so berührt hat. Ein Freund von mir hat mal einen alten Mann bei der Sozialstation gemeldet, der nackt in seinem Chaos lebte, dass es bis in den Hausflur gestunken hat (wo mein Freund als Reinigungskraft arbeitete). Der war auch noch krank, konnte gar nichts mehr selber machen. Mein Freund hat ihm ab und zu was eingekauft, doch wurde das, was er zu Gesicht bekam, immer schlimmer. Die Nachbarn mussten eigentlich mitbekommen, dass da was im Argen lag, aber niemand kümmerte sich…

    Ein Elend! Im Film war das allerdings nicht Stadt, sondern Dorf. Wo man doch denkt, da sei es anders. Aber dieser Markus war ja auch noch jung und man hat halt akzeptiert, dass er sich einfach zurück zieht und niemanden mehr rein lässt.

    Krasse Welt!

  3. Danke auch für Deine Response!
    Im Dorf ist es nicht anders wie in der Stadt.
    Ich frage mich nochmal, ob es früher anders war. Ich meine, in meinen jungen Jahren „gelernt“ zu haben, daß man sich kümmern muß! Es war usus, sich zu kümmern (nicht um jeden, aber in gewissem Rahmen).
    Eine Gruppe meiner Mitschüler luden einen Aussenseiter der Klasse zu einer Party ein. Wir betrachteten es als wichtig, einen Alten zu hören, um von ihm etwas übers Leben zu erfahren. Es gab da unter uns Schülern eine gewisse Ernsthaftigkeit.
    Meine Großmutter, selbst ein ausgezehrter Mensch, war für Viele da. Sie brachte den Arbeitern etwas zu essen oder steckte ihnen ein Bier zu. Selbst in Not war sie freigiebig und aufmerksam. Sie hatte ein gutes Wort für den anderen.

    Es fällt mir schwer, heutzutage Ähnliches auszumachen. Wer Beispiele anführen kann und will, kann es ja hier tun.

  4. Ob es früher anders war, ist schwer zu beantworten. Die Zeit hat sich verändert und damit die Menschen auch. In unserer Nachbarwohnung haben die Mieter öfter gewechselt, aber die jetzigen, junge Leute, kriegen noch nicht mal einen Gruß zustande, wenn man sich auf dem Balkon beim Blumengießen gegenüber steht. Die vorigen Mieter waren auch junge Leute und sie kommen heute noch, wenn wir in Urlaub sind, und kümmern sich um unsere Wohnung bzw. gießen die Blumen. Ich will damit sagen, daß man Sympathien nicht an alt und jung festmachen kann.
    Ich bin beim Zappen auch schon mal auf die Messie-Sendungen gestoßen, aber Gadanken habe ich mir noch nie darüber gemacht, sorry.

  5. @Helen: auch dir danke für den Kommentar!

    Ich mach mir weniger Gedanken über die Sendung als über die angeblich 2 Millionen Messis!

    Und darüber, was das eigentlich aussagt über unsere angeblich so wahnsinnig erfolgreiche Volkswirtschaft, deren Exporte gerade erstmalig die 1 Billonen-Grenze überstiegen hat…

  6. Im Rahmen meiner Berufstätigkeit habe ich täglich mit Wohnungsunternehmen zu tun. Und ausgerechnet das hiesige städtische Wohnungsunternehmen, das allgemein keinen besten Ruf genießt, muss hier lobend erwähnt werden:
    Die Hausmeister kennen „ihre“ Mieter recht gut und leiten, wenn sie merken, dass sie es mit einem Messie und entsprechender Wohnung zu tun haben, weitere Schritte ein. Beispielsweise wird in Zusammenarbeit mit einer Behörde der Mieter in ein Krankenhaus gebracht (häufig erforderlich) und während seines Aufenthaltes die Wohnung entmüllt, renoviert und allgemein instand gesetzt. Was weiter geschieht, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich nehme aber an, dass für eine wie auch immer geartete Betreuung gesorgt wird.

  7. Um die Sendung habe ich mir auch keine Gedanken gemacht, sondern wie sind diese Menschen zu Messies geworden. Als Nachbar ist es eine Gradwanderung, soll man sich einmischen oder nicht. Unsere Hausmeister kennen die Mieter hier auch und würden einschreiten, davon gehe ich mal aus.

    Die Pünktchen hinter der 1 Billion sagen mir, daß das nur bzw. zum größten Teil auf Kosten der Arbeiter geht, Niedriglohn, Leiharbeit usw. Jeder ist sich selbst der Nächste und mit sich und den Seinen beschäftigt, daß wenig Zeit oder die Sensibilität für den Nachbarn übrig bleibt.

  8. Helen,
    geht es dir jetzt primär um das Messie-Thema (1. Absatz) oder generell um das Kümmern um andere (2. Absatz)? Wenn es dir um soziale Taten geht, könnte ich sofort einige Beispiele nennen, die zeigen, dass sich *nicht* alle nur um sich selbst kümmern…
    Ich schau morgen hier wieder rein, gute Nacht.

  9. ich mach mir gedanken darüber, dass messies plötzlich so ein trendthema sind, dass gefühlt jede dritte dieser privatsender-doku-sendungen sich mit dem thema befasst. für mich ist das ein symptom zunehmender überforderung in unserer modernen gesellschaft. was in den sendungen nicht so rauskommt, ist, dass es viele fälle gibt, in denen sich das lang nicht so krass manifestiert, dass man knietief im müll watet. vorige oder vorvorige woche kam eine gute folge, wo ein mann den verlust seiner noch recht jung gestorbenen partnerin nicht verwinden konnte und es z. b. nicht schaffte, ihre 1 jahr alte kaffeetasse samt kaffeerest auch nur anzurühren. den hat die psychologin sehr behutsam begleitet. wenn die sendung ein bisschen verständnis und offene augen für die eigene umgebung mit sich bringt, hat sie schon viel erreicht.

    was bei uns wohl noch nicht so bekannt ist, aber in den usa ein thema, sind die „hoarder“, die sachen nur kaufen, aber nicht mal mehr auspacken, sondern irgendwo, manchmal sogar in lagerräumen, stapeln und lagern, da geht es nur noch ums kaufen, nicht mal mehr ums besitzen. das ist doch irgendwie eine konsequente entwicklung einer konsumgesteuerten welt. die extremfälle, die in der serie vorgeführt werden, haben ja meistens mehr schwerwiegende probleme als nur dieses eine, die vermüllung ist meist die reaktion auf ein trauma, wie z. b. den verlust geliebter menschen und den verlust jeglicher struktur im leben.

    und müll loswerden ist heutzutage gar nicht so einfach, das weiß jeder, der schon mal einen keller entrümpeln musste und auf dem wertstoffhof auf widerstand stieß. das kostet zunächst einmal geld, und bereits das haben viele der betroffenen schon nicht.

  10. Na, das freut mich jetzt aber, dass es doch ein paar Leute kümmert! :-)

    Hausmeister, die ein wenig drauf achten, was mit den Mietern lost ist, gibt es ja leider nicht mehr überall. Unserer hier würde vermutlich gar nichts merken…

    @Limone: Messis ein Trend-Thema? Das wusste ich nicht! Es gibt natürlich auch verschiedene Formen: solche, die SAMMELN und sich nicht trennen können – und die viel krasseren Fälle, die ihr Müllproblem nicht in den Griff bekommen.

    Von wegen Müll loswerden: hier in BErlin hat man wohl einmal im Jahr das Recht, per BSR abholen zu lassen – aber eben nur ganz bestimmten Müll. Entsorgt man selbst, kostet es auf den Recyclinghöfen nur dann, wenn Sondermüll oder Bauschutt dabei ist. Für einen Messi ist das sicher nicht einfach organisierbar!

    Als Hoarder hätten sie uns wohl gern alle: Konsum un des bloßen Kaufens willen – wow, wie das die Wirtschaft stützt!

  11. Zuerst einmal, diese Sendung war nicht neu, sie wurde bereits ausgestrahlt wie alle anderen zuvor auch.

    Auf meinem Blog hatte ich bereits schon einmal etwas dazu geschrieben. „Lasse deine Wohnung vermüllen, rufe RTL an und schon wird sie renoviert“.

    Ich sehe diese Sendungen sehr skeptisch und vermute sogar, dass es sich um eine reine Inszenierung handelt. So nach dem Motto, man suche sich eine Requisite, haut die voll mit Müll, dann den passenden Probanten dazu und schon kommt eine Sendung zustande. Ich will damit in keiner Weise sagen, dass es den Messie nicht gibt, aber ich finde diese wie so viele andere Sendungen diesen Formates recht fragwürdig und an der Realität vorbei.

  12. @ThommyHB:

    dass die Sendung nicht NEU ist, tut so gut wie gar nichts zur Sache. Ich hab sie mir jedenfalls zum ersten Mal ausgiebig angetan und über Gefühle und Gedanken gebloggt – und NICHT NUR das wiederholt, was „man“ in aller Regel über so eine Sendung schreibt: der übliche Spott von oben herab, Privat-TV und „Unterschichten-Fernseh“-Bashing… nö, sowas motiviert mich nicht, ist tausendmal gesagt und bedarf keiner Wiederholung.

    Dass es KEIN Fake ist, kann jeder leicht erkennen, der sich die Sendung ein wenig länger anschaut. So eine Vermüllung inkl. der ganzen Ungeziefer-Nester gibts NUR über Jahre organisch gewachsen – das kann man nicht eben mal so hin türken. Zudem wäre das lange bekannt, wie es ja auch bzgl. der (deutlich übleren) Scripted Reality-Sendungen bekannt ist. Die Therapeutin tritt im übrigen mit ihrem eigenen Namen auf (siehe Interview-Link) und ist auch im normalen Leben Therapeutin (http://www.mind-wind.de/), die für ihre Auftritte im Voyeurismus-TV vom SPIEGEL auch ordentlich verhackstückt wird: Wäre alles nur erfunden, würde das in solchen Artikeln auch gesagt!

    Dein Statement finde ich seltsam denn du schreibst im selben Absatz

    „…und vermute sogar, dass es sich um eine reine Inszenierung handelt.“

    in dem du dann weiter schreibst:

    „ich will damit in keiner Weise sagen, dass es den Messie nicht gibt..“

    Ja was denn nun? Und inwiefern „an der Realität vorbei“, wenn doch ganz offensichtlich die Lebensrealität dieses 32-jährigen Frührentners sehr drastisch verbessert wurde?

    Klar wird hier ein „Problemfall“ zu Unterhaltungszwecken zur Schau gestellt – ABER: er hat ja wirklich was davon – und gar nicht wenig!

  13. Ohne den Film gesehen zu haben: Das Messie-Thema ist *nicht* neu:
    Ich erinnere mich an einen Jungen, der während seiner gesamten Pubertät sich in seinem Zimmer wie ein Messie verhielt, zwei Mal im Jahr von seiner Familie gezwungen wurde, aufzuräumen und sauber zu machen, als junger Mann mit eigenem Haushalt sich schließlich als total normal erwies und seit zehn Jahren erweist.
    Ich erinnere mich an die Aussage eines gestandenen Mannes, er sei eigentlich ein Messie, aber da er dieses nicht sein wolle, würde er einen jungen Mann dafür entlohnen, der ein Mal pro Woche bei ihm aufräumen und für Ordnung sorgen würde (Hut ab!)
    Seit fast 15 Jahren berichten hin und wieder Kollegen von Messie-Wohnungen, deren Mieter sie dann bitten, einen Termin zu vereinbaren, wenn der Weg von der Haustür bis zum Schadensort (Bad, Küche, whatever) freigeräumt sei.
    Untergruppe „Hoarder“: Jemand erzählte mir von einer älteren Dame, die seit zwanzig (?) Jahren aus sämtlichen Klatschzeitschriften Artikel über Königshäuser ausschneidet und sammelt, ganze Schrankwände sollen damit gefüllt sein.
    Im Netz gibt es eine ganze Anzahl von Selbsthilfeforen… und zu guter Letzt: http://www.messiemother.com/ – Der Film ist sehenswert und erschütternd zugleich.

  14. Klar gibt es (im Netz) eine ganze Anzahl von Selbsthilfeforen – der Messi oder wer hier wohl EHER von Claudia angesprochen ist, der Eremit, der wird von sich aus keine Foren aufsuchen. Er ist in die Emigration gegangen, nicht um sich dann vehement um Foren zu bemühen.
    Es bedarf hier Hilfe von aussen, um den Weg wieder rauszufinden. Der Eremit wird sich meist wehren und sich den Argumenten verschliessen – das macht es wohl schwer, sich zu kümmern und dann auch bleibend zu kümmern.

  15. Mit meiner Firma, der ADS-Parco GmbH, die es schon seit über 10 Jahren nicht mehr gibt, haben wir die ersten Messi Wohnungen um 1987 gemacht.

    Die Mitarbeiter haben immer gefragt, mein Gott, wie kann man nur in diesem Müll leben? Ja – gefragt haben sie, aber nach einer Antwort haben sie nicht wirklich gesucht.

    Es hat mich immer sehr bedrückt, wenn ich in diese Wohnungen kam. Schon allein deshalb bin ich froh, das ich das nicht mehr machen muss. Furchtbare Einsamkeit schlug mir aus diesen Wohnungen entgegen. Es erschien mir als eine Einsamkeit, aus der die Menschen selbst nicht mehr herauskommen können. Nicht im Gefühl einer psyschichen Krankheit, mehr als eine verlorene Freude am Leben – einer unwiederfindbaren verlorener Freude.

    Ich will es mal so sagen:
    Wenn ich in eine Kirche gehe, spüre ich eine gewisse Aura, Energie, eine Sphäre. Das hat auch eine Messi-Wohnung, ihre eigene Sphäre, die nicht zu beschreiben sondern mehr nur zu fühlen ist – die furchtbar traurig macht.

    Ich glaube, diese Menschen brauchen ganz, ganz viel Zeit und Zuneigung von Mitmenschen, um wieder in ein geordnetes Leben zu finden. ZEIT – ein höchst kostbares Gut, das wir als Mitmenschen wahrscheinlich gar nicht in der Lage sind, einem Messi zu geben. Und dieser verlorene Posten, auf dem der Messi steht – das macht micht traurig.

    Wir hatten in der hessichen Landeshauptstadt eine Wohnung in einem 5-Parteien Haus, in der ein älterer Mann eine Fixerin aufgenommen hatte. Als sie in der Küche seiner Wohnung starb, kaufte er jeden Tag Geruchsüberdecker-Spraydosen. Über ein halbes Jahr hatte sie tod in seiner Küche gelegen, umgeben von hunderten dieser Spraydosen, in einer furchtbaren Wohnung, als wir gerufen wurden.
    Er hatte sie einfach nicht wieder hergeben wollen.
    Die Tote war das Einzigste, was er noch hatte – und auch die wurde ihm genommen.

  16. Ja, das macht betroffen!
    Danke, Menachem!

  17. Danke Menachem! Ist wirklich sehr bedrückend…

  18. @Gudrun
    Ich komme erst heute wieder ins Programm. Meine Antwort auf Deine Frage ist: Jede Medaille hat 2 Seiten, und diese beiden Seiten sind verschieden. Auf der einen Seite sieht man das Problem „Messie“, auf der anderen Seite berührt mich die Frage, wie kommt ein Mencsh in diese Lage. Gut, es gibt Sammler, die können alles jetzt oder später gebrauchen. Die beiden Herren, von denen Claudia schrieb, sind Rentner. Wer wenig Geld hat, kann sich vieles nicht mehr leisten, z.B. Kinobesuch oder Restaurant. Dann fehlt die Kommunikation mit anderen Leuten und schließlich hat man dann nur noch seine 4 Wände. Irgendwann hat man keine Kraft mehr sich um den Alltag zu kümmern und dann beginnt man sich in diesen 4 Wänden zu verstecken.
    Eine andere Sache ist, warum werden die Leute nicht vorher entdeckt. Bei uns werden jährlich Heizung und Warmwasser abgelesen, d.h. es kommt immer jemand in die Wohnung. Wenn dem Kollegen die Tür nicht geöffnet, bzw. er gar nicht an die Geräte kommt, würde er es doch dem Vermieter bzw. Eigentümer melden.

  19. Tja. Heizung und Warmwasser wird bei uns inzwischen per Funk abgelesen. Dafür kommt keiner mehr in die Wohnung. Das wird sich auch anderswo immer mehr verbreiten.

    @Menachem: sehr eindringliche Beschreibung, das muss ein harter Job gewesen sein…

  20. Ja, warum werden sie nicht entdeckt? Meine Antwort: Weil sie es nicht möchten! Ursachen und Gründe sind vielfältig, häufig Ausdruck psychischer Erkrankungen (wie z.B. Depressionen) oder Unfähigkeit, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen, Faulheit oder Gleichgültigkeit,wie es in den eigenen vier Wänden aussieht (diejenigen gehen sehr wohl raus – meist überaus sauber und auch schick gekleidet), es wird dann einfach niemand in die Wohnung hinein gelassen. Nicht alles lässt sich auf „die Menschen, die sich nicht um den Nächsten kümmern“ abwälzen, denn die Betroffenen sind oft nicht gewillt, sich helfen zu lassen, immerhin bedeutet dies auch eine gewisse Bevormundung.

  21. Na ja, es gibt eben sonne und solche. Der Anstoß, etwas zu ändern, kann aber nur von außen kommen.
    Aber ich habe keinen Einblick in eine solche Situation.