Claudia am 04. April 2010 —

Warum ich kein privates Tagebuch schreibe

Thinkabout hat ein paar interessante Texte rund ums Tagebuch schreiben veröffentlicht. Ich konnte und wollte das nie und weiß nicht mal genau, warum. Langeweile ist das Gefühl, das ich am meisten damit verbinde: warum sollte ich Gedanken in Sätze fassen, um sie dann in der Schublade zu lassen?

Von sich schreiben

Entdeckt hab‘ ich das selbstreflexive Schreiben in Briefen an meinen Yoga-Lehrer, die ich wöchentlich schrieb. Ich berichtete, was ich in den Yoga-Stunden erlebte und was ich zu alledem dachte, was er da so erzählte – bezog also die Lehren (Yoga, ZEN, westliche Philosophie) auf mein alltägliches und nicht-alltägliches Leben und betrachtete es durch die Brille der neuen Erkenntnisse und Erlebnisse. Es war nicht angedacht, dass er brieflich antworten sollte, doch manchmal nahm er in der Stunde einen Gedanken oder eine Frage aus meinen Briefen auf und sagte etwas dazu.
Dieses Schreiben ergänzte die auf „Erleben“ ausgerichteten Yoga-Stunden aufs Beste. Ich erlebte große Inspiration, schrieb ungemein gern diese immer mehrseitigen Briefe und schätzte es sehr, mich dabei in die Themen richtig zu vertiefen, mir selber schreibend Dinge klar zu machen… toll!

Nach ein paar Jahren – mittlerweile hatte ich das Internet entdeckt – schaute ich mal ein paar dieser Briefe daraufhin an, ob sie sich nicht auch für mein Webzine eignen würden, zumindest als Themen-Steinbruch. Und hatte ein unverhofftes AHA-Erlebnis: die Briefe waren eigentlich gar keine. Es war diesen Texten nicht anzumerken, dass sie „an jemanden“ geschrieben wurden. Sie handelten von Gott und der Welt, von allem, was mich so bewegte: die jeweils drei bis vier Seiten konnten völlig für sich stehen, ohne ein Vorwissen um den Kontext oder den Adressaten zu brauchen. Manchen merkte man nicht mal mehr an, dass sie durch die Auseinandersetzung mit Yoga inspiriert waren.

Dialoge mit Fremden

Ganz im gleichen Geiste schrieb ich in den ersten Netz-Jahren E-Mails an ferne Dialogpartner, die ich „von Angesicht“ gar nicht kannte. Ja, das war sogar besser, als sie zu kennen, denn gegenüber dem unbekannten Fremden als Repräsentant von „allen“ konnte ich völlig frei schreiben, ohne mich auf einen vermuteten Meinungs- bzw. Erfahrungshintergrund beziehen zu müssen. Dennoch BRAUCHTE ich diese fernen Fremden, brauchte die Gewissheit, dass einer liest, was ich schreibe, um überhaupt ins Schreiben zu kommen. Das vermutete Gegenüber vermittelte mir die Disziplin, mich um klare Sätze und Verständlichkeit zu bemühen – und auch, um blitzgeschwind zu wissen, was relevant ist und was nicht.

Relevant ist für mich (fast) identisch mit mitteilenswert. Das „fast“ markiert die Rücksichtnahme auf konkrete Menschen in meinem persönlichen Umfeld, über die ich nicht schreibe. Bewegt mich etwas im Kontext persönlicher Beziehungen, abstrahiere ich es soweit, dass allenfalls derjenige merkt, woher die Inspiration zum entsprechenden Artikel kommt. Irgend etwas im Detail zu berichten, danach verlangt es mich gar nicht. Vermutlich, weil ich selber ausschweifende Erzählungen von Tante Erna oder vom letzten Lebenspartner eher langweilig finde. Für mich müssen Texte thematisch verdichtet und „auf den Punkt gebracht“ werden, um zu interessieren – und das gilt für mein Schreiben insgesamt. Oder würde jetzt jemand gerne lesen, wie ich mal mit 14 versuchte, ein Tagebuch zu schreiben (weil es Klassenkameradinnen taten) und nach zwei Einträgen damit aufhörte?

Dass das Schreiben für mich im wesentlichen als „intuitives Schreiben“ statt findet, also ohne Plan einen Impuls aufnehmend voran schreitet, steht der „Verdichtung“ nicht entgegen. Vielleicht ist das auch das falsche Wort: ich lasse halt schon gleich alles weg, was mir irrelevant für den Fortgang der Gedanken erscheint. Es ist eine Art Ungeduld, man könnte es auch als Nichtachtung des lebendigen Details beschreiben, doch stört mich das nicht. Ich will ja nicht „Literatur machen“, sondern aufschreiben, was ich denke.

Und die eigenen dunklen Seiten?

Dirk schrieb bei Thinkabout über seine eigenen Tagebuch-Erfahrungen:

„Mein Tagebuch ist für mich, da lasse ich alles raus, erlaube mir, ungerecht zu sein und unsympathisch. Ich schreibe da nicht für das Erinnern (fast nie lese ich es wieder), sondern zum Selbstgespräch. Aufschreibend wird mir vieles klarer. Ich tadle mich, lobe mich, entdecke Unbekanntes an mir selbst und stoße manchmal auf Möglichkeiten, die mir ohne Schreiben nicht aufgefallen wären.“

Das Anliegen, einfach mal „alles raus zu lassen“ hab‘ ich umfänglich ausexperimentiert, doch wiederum nicht privat: im „Kreativen Schreiben“ in der Gruppe, wo man oft einfach loslegt und z.B. 15 Minuten alles aufschreibt, was gerade durch den Kopf geht. Da legte ich Wert darauf, wirklich keinen degoutanten und abseitigen Gedanken auszulassen, schwelgte im Bösartigen und Lächerlichen und haute mich selbst bedenkenlos in die Pfanne, wenn es der Startimpuls oder die Folgegedanken hergaben. Was dabei heraus kam und in der Vorleserunde dann auch vorgetragen wurde, war – verglichen mit dem, was ich sonst schreibe – sehr „literarisch“ und (im Rahmen des Gruppenevents) auch oft verdammt unterhaltsam. Und doch bringe ich es nicht fertig, das für mich alleine zu machen. Die kleinen Gemeinheiten und Fehlleistungen des täglichen Lebens werfen für mich keine Fragen auf, die es mir wert wären, sie aufzuschreiben – schon gar nicht für die Schublade!

Bin ich aber ernsthaft bewegt und komme wegen eigener Probleme ins Grübeln, dann kann ich das durchaus so in Worte fassen, dass es keine Selbstentblößung darstellt, wie sie gerne von jenen gelesen wird, die sich an den Fehlleistungen anderer schadenfreudig delektieren. Ich verdichte es zur allgemeinen Fragestellung, mit der sich fast jeder identifizieren kann und handle es dann ab wie ich es mit jedem lebensphilosophischen Problem mache. Reines Jammern, Klagen und Schimpfen (über mich selbst und die böse Welt) findet gar nicht erst den Weg über die Tasten: schreibend finde ich den positiven Horizont oder ich lasse es sein.
Meistens jedenfalls. :-)

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Diskussion

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25 Kommentare zu „Warum ich kein privates Tagebuch schreibe“.

  1. Mir ist der Ansatz Deines Schreibens aus meinen eigenen Impulsen und Antrieben nur allzu vertraut! Nur leide ich manchmal geradezu auch darunter. Das geschieht immer dann, wenn ich mich verdächtige, das Thema nicht wirklich „zu verdichten“, sondern gleichsam abzuwürgen, die Bearbeitung vorschnell zu rationalsieren. Im Ergebnis ist so ein Text dann „vernünftig“, aber nicht unbedingt wirklich ehrlich, weil ich etwas gedanklich vorwegnehme, wo ich emotional bzw. in der praktischen Umsetzung noch gar nicht angekommen bin.

    Es könnte mich durchaus auch tatsächlich interessieren, wie Du als Mädchen etwas scheinbar Banales angefangen hast. Die Erzählung hat Geheimnisse, welche sich manchmal gerade an scheinbaren Nebensächlichkeiten erschliessen: Man erzählt immer auch von der eigenen Fähigkeit, zu sehen. Und wenn eine Erzählung die Augen für einen Zauber in einer scheinbaren Belanglosigkeit wecken kann, dann sind das sehr beglückende Momente.

    Das Brainstorming-Beispiel, das Du als Gegensätzlichkeit zum eher reflektiven Schreiben anführst, ist mir ebenfalls vertraut: Ich setze das bei schreibmut.twoday.net um, wenigstens von Zeit zu Zeit mal: 10 Min. über einen Begriff schreiben, was man gerade dazu denkt, ohne vorauseilende Wohlformulierung, eben spontan, die Bauchschrift sozusagen. Es ist dies die einzige Therapie, welche ich der scheinbaren Vernunft, die oft auch nur ein Hemmnis sein kann, entgegen setzen kann, von Zeit zu Zeit.
    Damit verleugne ich nicht die auch bei mir sicher stärker ausgeprägten Talente zum kontemplativen Text. Ich scheine auch nicht so sehr der Geschichten-Erzähler zu sein. Es ist mir nur persönlich sehr wichtig, dass ich auch in meinem Schreiben mich selbst riechen kann, samt Körperschweiss. Vielleicht also doch Tagebuch?

  2. […] Klinger erläutert, warum sie kein privates Tagebuch schreibt – inspiriert durch den Blog-Eintrag bei Thinkabout. Ich denke oft über das Tagebuch […]

  3. Hallo Claudia,
    ich schreibe seit 11 Jahren regelmässig Tagebuch.

    In den ersten Jahren war es sehr spannend, machte es mir doch Spaß, an den Sätzen zu feilen (um sicher zu sein, mich später verstehen zu können), auch meinen Tag anzuschauen und das für mich Wichtige an Erfahrungen und Gedanken festzuhalten. Jetzt, nach 11 Jahren dieses Tuns, fällt es mir schwer, weiterzumachen, aber ich tu’s aus Gewohnheit noch eine Weile.
    Ich empfinde jetzt oft, daß das, was ich niederschreiben könnte, belanglos sein könnte. Und wenn es belangvoll wäre, wittere ich, daß ich mir gar keine Zeit mehr lassen werde, um die besondere Empfindung, um die es dann meistens geht, vernünftig in Worte zu fassen. Ich bin mir anscheinend nicht mehr wert genug, eigenartige und teils fremde Gemütszustände festzuhalten. Als wäre die Zeit des Tagebuchschreibens vor 10, 20 Jahren eine andere gewesen: Das war offenbar eine Zeit, in der man sich sehr wohl seinen Empfindungen zuwandte und die sehr ernst nahm.

    Ich bedauere es fast, daß es nicht mehr so wie zu Anfang ist: War das eine Lust! War das Abenteuer!
    Irgendwo hoffe ich auf eine Rückkehr der Lust, deswegen schreibe ich weiter!

    Gruß
    Gerhard

  4. ich schreibe privates tagebuch (schon seit vielen jahren, mit ein paar pausen dazwischen), weil ich mich sonst an viele dinge aus meinem leben überhaupt nicht mehr erinnern würde. es hilft sehr dabei, nach jahren nachzuvollziehen, warum man diese oder jene entscheidung getroffen hat und ist außerdem wie eine zeitmaschine. auf stil achte ich dabei nicht, es ist ja nur für mich.

    und es hilft auch dabei, die gedanken zu ordnen, wenn es um entscheidungen für die zukunft geht.

  5. Hi Limone,
    das zeitliche Einordnenkönnen (etwa: ja, wir haben uns genau 5 Jahre + 1 Monat nicht mehr gesehn) per Tagebuch ist für mich eher eine Nebenfunktion. Aber das meintest Du sicherlich nicht.
    Ich hatte mir aber mal die Mühe gemacht, in 2 aufeinanderfolgenden Jahren jeweils Ende Dezember „das Jahr“ zusammenzufassen zu vielleicht jeweils 16 Seiten. Da wird man einerseits gewahr, wie ungemein „reich“ und angefüllt das Jahr war – aber auch den roten Faden nimmt man wahr, also wiederkehrende Gedanken, Ansichten, Beschwerden ect. Taucht man in zurückliegende Jahre hinab, dann stellt man oft , daß ganz anderes Gedankengut den Kopf bewohnt hat – wodurch auch immer.
    Gruß
    Gerhard

  6. @thinkabout: indem ich dieses Thema in mir bewege, bekomme ich durchaus einen Anflug von Lust, diesem „anderen Schreiben“ Platz einzuräumen: Szenen, Geschichten, Gedichte, Text-Experimente… also eher „spielerische“ Texte, die allenfalls zufällig und nebenbei noch eine „Aussage“ haben oder auch nicht…

    Das gedankliche Vorwegnehmen einer positiven Lösung, von dem du schreibst, bei der man aber emotional bzw. höchstselbst und tatsächlich noch gar nicht angekommen ist, kenne ich als „Falle“ auch. Aber ich hab dann ein viel zu schlechtes Gewissen, als dass ich das SO durchlaufen lassen würde – irgendwie bring ich dann doch rüber, dass ich selber auch immer noch „bei den Bösen“ bin. (Und es reicht nicht, dieses „wir“ zu verwenden, über das wir schon öfter diskutiert haben).

    @Gerhard: dein Beitrag ist mir zum ersten Mal seit langem ein Anreiz, mal wieder über einen neuen Schreibimpulse-Kurs nachzudenken. Diese Kurse (siehe schreibimpulse.de) hab ich 6 Jahre gerne veranstaltet, aber seit einiger Zeit ist die Luft raus. Ich kann sowas nicht nur deshalb machen, weil man damit ein bisschen Geld einnimmt – es muss mich persönlich reizen! Und genau für deine „Schreiblangeweile“ hab ich Rezepte – verwende sie nur nicht für mich alleine… Danke für die Inspiration!

    @limone: interessant! Für mich ist das „Erinnern“ an sich kein Wert. Ich hatte im Lauf des Lebens immer eher die Sorge, mal so ’ne tüttelige Alte zu werden, die anderen ständig alte Fotos zeigt und dauernd ungefragt erzählt, was sie 50 Jahre früher erlebt hat (und damit die Leute vertreibt, die höflich das Gähnen unterdrücken).

    Zwar schreib ich seit ’99 Diary, doch schau ich nur allerseltenst mal einen alten Beitrag an, also nur mit einem konkreten Anlass. Und offline hab ich jede Menge alte „Werke“ und Fotos weggeworfen – ich will einfach nicht, dass ich später mal wehmütig in diese Spuren versinke und mich gefühlig darin ergehe, „wie es früher war“…

  7. @gerhard: richtig, so meinte ich es nicht – bzw. man muss aufpassen, dass man nicht anderen plötzlich jahreszahlen um die ohren haut und sie damit entweder verwirrt oder sogar verärgert. ;-)

    @claudia: das öffnet die türen für ein neues thema, nämlich die frage, was das selbst ist, und ob bzw. inwieweit erinnerungen eine rolle dabei spielen. man soll ja im hier und jetzt leben und nicht (nur) in der vergangenheit und zukunft, aber wurzeln wir nicht doch in der vergangenheit?

    ich habe mal gelesen, dass der mensch dazu neigt, sich eher an positives als an negatives zu erinnern (aus selbstschutz) und wir daher so gern die vergangenheit verklären. ein tagebuch hilft, ein vollständiges bild mit allen farben zu behalten und daher eben nicht gefahr zu laufen, die vergangenheit im nachhinein zu verklären, eben weil man nachlesen kann, dass früher auch nicht alles besser war. und durch das schreiben allein memoriert man schon viel besser, als wenn man sich nicht mit dem erlebten auseinandersetzen würde. da ist es dann schon gar nicht mehr so relevant, ob man wirklich später noch darin liest oder es nur als hilfe fürs bessere erinnen nutzte.

    mit der geschichte (im sinne von historie) befassen wir uns ja auch, um die gegenwart besser zu verstehen.

    wobei ich absolut verstehen kann, wenn man sich nicht mit der eigenen vergangenheit belasten will, weil die einem unbeschwerten erleben des jetzt durchaus im weg stehen kann.

    das erinnern ist mir aber allein deshalb schon ein wert, weil ansonsten andere sich für mich erinnern und geschichten erzählen, die sich angeblich so oder so in meinem leben abgespielt haben, auch wenn es so gar nicht war – ohne tagebuch wüsste ich das aber unter umständen gar nicht oder könnte mir zumindest nicht sicher sein, selbst wenn mir die geschichte komisch vorkommt.

  8. Tagebuch schreiben ist erst einmal etwas jugendliches, man muss also nicht bedauern, dass das irgendwann aufhört. Im Gegenteil – es ist ein Zeichen der Reife, wenn man mit der Nabelschau aufhört und seinen Horizont erweitert. Erst dann wird man in die Lage versetzt auch andere in den eigenen Problemhorizont ernsthaft einzubeziehen. An Gerhard: Vorsicht also, wenn die Lust also zurück kommen sollte. Das wäre Retardation. Alle Tagebuch schreibenden Dichter und Schriftsteller scheinen mir das nur zu bestätigen.

    Die Übergänge zwischen Tagebuch und allen Arten des „öffentlichen“ Schreibens sind natürlich fließend.

    Tagebuch als Therapie kann jedoch auch funktionieren, zur gesteigerten Selbstwahrnehmung und somit als Schritt zum bewussten Umgang mit sich selbst und dem Welterleben.

    Lustigerweise habe ich meine eigenen adoleszenten Tagebücher (über 8 Jahre lang in MS Word geschrieben) per Passwort geschützt. Das Passwort habe ich vergessen und kann nun meine Tagebücher nicht mehr lesen…

  9. @Gilbert: was für den einen Reife ist, kann für den Anderen Rückschritt und Verlust bedeuten! Da sollten wir uns gegenseitig nicht in die Suppe spucken, sonst macht der Austausch über so nahe gehende Themen keine Freude mehr.
    Die Sache mit dem Passwort find ich spannend: ich würde vermutlich alles dran setzen, es zu knacken, bzw. nach Wegen suchen, es zu umgehen (siehe z.B. http://www.elcomsoft.com/ – manche meinen auch, man könne das Doc einfach in OpenOffice importieren und neu als doc abspeichern).

    @Limone: mit meiner Vergangenheit bin ich komplett im reinen – da gibt es nichts, was noch irgendwie „problembesetzt“ oder emotional erregend wäre. „Die eigene Geschichte erfinden wir jeden Tag neu“ ist ein Satz, den ich aus Kreativ-Schreiben-Kursen rund um Autobiografisches kenne und für ziemlich wahr halte. Auch die neuere Gehirnforschung bestätigt, dass jedes „erinnern“ die Dinge auch wieder neu codiert „abspeichert“. Eine „wahre Vergangenheit“ ist uns also gar nicht zugänglich.
    Aber gewiss ist es manchmal interessant, zu schauen, wie sich die eigenen Deutungen verändern. Bezüglich der wesentlichen Erfahrungen merke ich das auch ohne nochmal nachzulesen.

  10. Gilbert, wenn Du zurückkehrst:
    Ich weiß nicht, ob Tagebuchschreiben etwas adoliszenzhaftes hat. Sicher hat man als Jugendlicher (ICH nicht) gerne Tagebücher geschrieben. Aber ich begann damit inmitten einer schweren Krise, als reichlich Erwavchsener: Es diente mir als Spiegel meiner Ängste, es war ein Rettungsversuch und als Adressat benutzte ich mich selber. Das Tagebuch dokumentierte dann nach der Krise den zurückgekehrten Reichtum und die zurückgekehrte Liebe zu mir.
    Jetzt scheine ich mir kaum mehr was sagen zu wollen – und das bedauere ich eigentlich schon.

    Was Du etwas nebulös mit „Erst dann wird man in die Lage versetzt auch andere in den eigenen Problemhorizont ernsthaft einzubeziehen“ schreibst, ist mir ein Rätsel. Wieso sollte der Innenschauhaltende denn nicht in der Lage sein, andere mental, geistig und emotional miteinzubeziehen?

    Gruß
    Gerhard

  11. Meine letzten Gedanken des Tages habe ich aufgrund dieses Beitrages und auch bei Thinkabout einem gedachten Tagebuch gewidmet „Was würde ich heute in mein Tagebuch schreiben?“

    Das war nicht unbedingt alles toll. Ich denke wohl einerseits verstärkt an die Menschen, die ich lieb habe und das Geflecht darum, andererseits aber auch an die Möglichkeiten, die ich an diesem Tag hatte und die, die ich wirklich genutzt habe. Da musste ich erstmal, ohne weiter darüber nachzuhacken, an Ressourcen-Verschwendung denken und wie oft sich diese Tage, sie mögen in ihrem Ablauf noch so unterschiedlich sein, inhaltlich alle gleich sind.

    Auch wenn ich dadurch noch kein Tagebuchschreiber werde, ist diese Wahrnehmung das Thema unbedingt wert gewesen, genauso wie, das ich für Anderes das mir durch den Kof geht, den Spiegel und Dialog brauche, weil ich sonst in verschiedenen Themen festfahre.

  12. Hallo Menachem,
    das Nutzen der Möglichkeiten! Ja, wenn Du sie tatsächlich alle genutzt hättest und es Dir noch weitere Tage gelingen würde, dann wärest Du Superman oder ein Roboter oder…ein Ausbeuter. Allesamt nicht erstrebenswert.
    Wenn ich Stunden damit verbringe, einen PC flott zu kriegen und es mir nicht gelingt, dann könnte ich mich schelten: Wieso habe ich nicht nach 2 Stunden einen Spaziergang gemacht oder wieso habe ich nicht einen Freund konsultiert, der sich damit auskennt, aber erst nächste Woche Zeit hat? Ich denke, in dem Fall habe ich mich POSITIV zäh mit der Materie auseinandergesetzt und habe zumindest erfahren, was ich kann oder was es all für Hindernisse gibt.

    Kurzer Rede langer Sinn: Ich gebe nicht soviel auf die „Optimierung“ des Tages.

    Gruß
    Gerhard

  13. Gerhard, hallo, ich glaube, wir sind da letztlich überhaupt nicht voneinander entfernt. Unter Ressourcen verstehe ich die Quelle, aus der sprudeld, was ich als lebenswert empfinde und das ist, so wie du schon schreibst, z.B. spazieren geh`n.

  14. Menachem, ich sah grad, Du bist 2 Jahre älter als ich…irgendwie schön, in der gleichen Altersklasse unterwegs zu sein.
    Gruß
    Gerhard

  15. @Gerhard: gibts denn auch von dir / über dich irgendwo mehr zu lesen?

  16. Wie schön Gerhard, das, vielleicht gerade die kleinen zwischenmenschlichen Freundlichkeiten, zu einer unserer positivsten Ressourcenquellen gehört. Was vielleicht eine Frage des Alters sein kann, ist, wie man Ressourcen definiert und da scheinen 2 Jahre manchmal keinen Unterschied mehr zu machen :)

  17. Danke der Nachfrage, Claudia!
    Witzigerweise hast Du mich das schon mal gefragt, aber eigentlich einen anderen damit gemeint ;-)
    Nein, einen eigenen Blog besitze ich (noch) nicht. Ich beschränke mich zur Zeit vornehmlich aufs Kommentieren. Tat dies bei Sumuze, bei Dir, bei Wolf Schneiders Forum, bei Schlagloch und einigen Musikblogs.

    Gruß
    Gerhard

  18. Die Diskussion hier bringt mich auf einen Gedanken, den ich z.B. in Hape Kerkelings Pilgerbericht „ich bin dann mal weg“ schön umgesetzt fand: Er hat seine täglichen Rapporte mit einer „Erkenntnis des Tages“ abgeschlossen. Würde man das für sich selbst versuchen, schriebe man kein Tagebuch, aber man nützte einen grundsätzlich positiven Aspekt dieses Tuns: Reflektieren was war – und sich damit frei und bereit für die Gegenwart machen – mit dem wahren Potenzial zur Veränderung.

  19. Das Spezifische des Schreibens eines Tagebuches entgleitet mir, denke ich darüber nach.

    Ich sehe es so: wenn möglich, abends (vor dem Einschlafen) oder morgens (nach dem Aufwachen) sich hinzusetzen und niederzuschreiben (das Medium ist vermutlich keine Diskriminante, wie die Tageszeit wohl auch nicht), welche Gedanken und Ereignisse diesem einen Tag (das wäre ein Spezifikum) innewohnten und die nun beim Schreiben sprachliche Form finden. Aus eigener Erfahrung weiß ich jedoch, daß es kaum möglich ist, dieses immer zeitnah zu tun, und auch nicht, sich – den Gegenständen des Schreibens nach – auf genau den einen Tag zu beschränken.

    Weswegen ich in einem Tagebuchtext prinzipiell nichts anderes sehe als in anderen Texten, die mit Absicht und Ernst (was Lachen einschließt) verfaßt werden und aufs eigene Erleben zielen.

    Für ein privates Schreiben, sei es mit kathartischer Absicht, mit dem Motiv der Selbst-Klärung oder -Therapie oder einfach nur mit dem Spaß am Schreiben, sehe ich den Tagesbezug nicht als eine prominent hilfreiche Besonderheit. Hier ist mir der Zwang zur Präzision (den u.a. die Verständlichkeit eines Textes impliziert) viel wichtiger. Ich bezweifele sogar, daß sich ein ‚rein‘ privates Schreiben (außer in der Vermeidung von Lesern durch Verschluß oder Vernichtung des materiellen Trägers) wesentlich von anderem Schreiben unterscheidet. Sprache richtet sich immer auf Zuhörer, ob die nur bloß vorgestellt sind oder tatsächlich vor mir sitzen.

    Sicherlich fällt es mir leichter, meine ‚dunklen‘ Seiten auszusprechen, wenn ich weiß, daß das keiner je mit bekommen wird. Doch nur, wenn ich mir Gedanken darum mache, ob, falls aus einem dummen Zufall doch alles heraus kommt, jemand das überhaupt verstünde, was ich da gerade beichte, und sprachlich verbessernd daran herum doktere, hat die sprachliche Form meiner Geständnisse doch einen vom bloßen Nachdenken über mich selbst abtrennbaren Sinn. Täte ich das – die sprachliche Arbeit, die den verallgemeinerten Anderen ins Boot holt – nicht, könnte ich auch einfach nur denken, was für ein schlechter (oder guter, was auf’s Selbe hinaus läuft) Mensch ich bin, statt es mir aufzuschreiben.

    Damit meine ich jetzt nicht das Getue um eine spätere Veröffentlichung, hat der Verfasser irgendwie sich einen Namen gemacht, so daß diese sich lohnen könnte. Das Gezerre um das Soll-man/Soll-man-nicht halte ich in der Regel für albern oder lediglich Publicity-trächtig. Mir fiel obendrein bei mancher solcher Veröffentlichung, die ich las, sofort das alte ’sic tacuisses‘ ein.

    Wer ernsthaft nicht will, daß sein Geschreibsel von anderen Menschen gelesen wird, vernichtet es. Wer das nicht tut, schielt mit mindestens einem Augen danach oder nimmt es zumindest billigend in Kauf. Die mit den Augen auf den späteren Leser verfaßten Tagebücher (wie die Briefe an XYZ, die dann später die Nachwelt zu lesen bekommen soll) wären allerdings sicherlich einen eigenen Gattungsnamen wert – allein schon wegen der Exzesse an peinlicher Eitelkeit und Selbstbeweihräucherung, die hier gern fröhliche Urstände feiern.

  20. @thinkabout: Jeden Tag mit einer Erkenntnis abschliessen können?! Wow! Das wäre ja reinste Goldgräberei!
    Ich tue mir schwer mit: A) ist passiert, weil B).

    Beispiel: Vor 3 Tagen hatte ich eine wunderbare Nacht, mit guten, nährenden Träumen. So schien es mir zumindest. Vielleicht war ja auch ein erotisches Fragment des Traumgeschehens Schuld an dieser Bewertung.
    Nun überlegte ich mir, wieso ich diese reiche Nacht erleben durfte? Es schien damit zusammenzuhängen, daß ich mit der Renovierung eines Zimmers angefangen hatte. Das allein ist ja noch nicht Abenteuer genug, so meine ich. Vielleicht fand ich es einfach erfrischend, daß ich alle Einrichtungsgegenstände des Zimmers gut im daneben liegenden Zimmer unterbringen konnte. Auf eine Weise, die nichts mit Zumüllen zu tun hatte. Ich hatte mich also auf einen Weg begeben, ohne einen Saustall anrichten zu müssen. Eine gute Meisterung der Situation. Manches der Befürchtung im Vorfeld war so ausgeräumt. Vielleicht daher die Brise eines guten Schlafs.
    Während des Morgens, noch im Bewusstsein der Träume, hielt ich aber auch für denkbar, daß die Träume aus rein vegetativen Gründen sich so ausgebildet hatten.

    Ich plädiere daher eher für „Vermutung des Tages“.

    Gruß
    Gerhard

  21. @Gerhard, @Thinkabout: Goldgräberei wäre die „Erkenntnis des Tages“ nicht unbedingt – ich denke eher, dass man sich da auf der Suche nach etwas „Bedeutendem“ Stress macht.

    Mein heutiges Tages-Fazit nach morgendlichem Eigen- und Honorar-Bloggen, Augenarztbesuch, überlanger Fahrradfahrt zum Garten (wg. weiträumiger Absperrung aufgrund eines Bomben-Funds) und etlichen Stunden „Erd-Arbeiten“ würde einfach lauten: wenn ich mich viel bewege, vergeht die Zeit wie im Flug. Banal, aber wahr.

    @Susanne: ja, alles was du über „privates“ Schreiben sagst, sehe ich genauso. Ich könnte mich nicht „auf den Tag“ beschränken und „Beichten mit mir selber“ erscheint mir schriftlich nicht reizvoller als bloßes Nachdenken – es sei denn, es bleibt eben nicht privat, indem ich versuche, es doch in eine für mich öffentlich schreibbare Form zu bringen. Gerade dieser Prozess ist ja evtl. sehr erhellend.

    @Gerhard nochmal: eine Profilseite irgendwo wäre auch ok. Du hast dich z.B. grade gefreut, als du Menachems ähnliches Alter (vermutlich auf seinem Blog) erfahren hast. Umgekehrt sind solche kleinen Freuden nicht drin, wenn wir nur einen Vornamen kennen. Ich weiß ganz gern ein paar Basis-Infos über Menschen, mit denen ich rede – „von Angesicht“ wüsste man die auch sehr bald!
    Ob ich sowas wie „Leserseiten“ hier einführen soll? Da könnten sich Leser vorstellen, die kein eigenes Blog haben.

  22. @Claudia,
    Das stimmt schon – ein bloßer Vorname ist so etwas wie ein Schutzschild.
    Aber: Von Su kenn ich z.B. nur ein halbes Gesicht, von Dir zwar ein paar Gesichter, die aber sicher nicht ausreichen, Dich auf der Straße wiedererkennen zu können.
    Von nicht vielen gibt es eine Reihe von Informationen auf ihrer Web-Seite, die meisten verstecken sich aber in anonymen „Bildern“ und Beschreibungen.
    Wenn Dir damit gedient ist, schicke ich Dir per Mail gerne ein Foto. Im Moment ist das mitgeschickte Foto nur sehr groß -das musst Du im Vorfeld entschuldigen.

    Gruß
    Gerhard

  23. @Gerhard: hier sind z.B. Bilder, allerdings über 5 Jahre alt
    https://www.claudia-klinger.de/digidiary/24_07_04.shtml – musst ein paar Falten dazu rechnen.. :-)

    Um die Gesicherter gehts mir nicht vordringlich (obwohl nett), sondern eher um die Infos: ist ja ein Unterschied, ob einer 30 oder 7o ist, Gärtner oder Programmierer, wenn er z.B. was über Natur schreibt.. mal so als Beispiel.

    Aber schick mir das Bild, schon damit ich es dir verkleinern kann zur besseren Nutzung für solche Zwecke! :-)

  24. Huch, jetzt bin ich nach über einem Jahr hier wieder drüber gestolpert… Ich wollte ja niemanden verletzen, sondern nur meine Meinung sagen wollen. Jugendlich, adoleszent und retardierend sind ja allesamt auch keine Schimpfwörter, sondern – wie Claudia sagt – von jedem als Abschnitte im Leben anders bewertet. Da sollte man auch nicht zu empfindlich sein, wenn man sich über so etwas austauscht. Gerhard gestand sich ja diese Krise ein, warum dann nicht auch eine Rückkehr zu etwas, das im Kern eben doch egozentrisch (auch kein Schimpfwort) und damit einer bestimmten – meist jugendlichen – Lebensphase zugeordnet werden kann. Alles menschlich und: what ever works, works!

    Wie ging es eigentlich weiter? Ist die Kraft zum Tagebuchschreiben zurückgekehrt?

    Viele Grüße