Claudia am 30. Dezember 2009 —

Jahresendbesinnung 2009

Wenn ich nach den Themen gehe, die per E-Mail-Spam in meine Mailboxen schwappen, so bewegte in diesem Jahr der Wunsch nach „Abnehmen“ und „mehr Stehkraft im Bett“ die Menschen wie nichts anderes. Das war nicht immer so: es gab Jahre der Penisverlängerung und solche der immer billigeren Hypothekenkredite, wobei letztere eine weltweite Wirtschaftskrise auslösten. Hätte man den Spam damals richtig interpretiert, hätte man sie voraus gesehen!

Lacan: „Das Begehren begehrt das Begehren des Anderen“

Was sagt nun dieser massive Wunsch nach einem schlankeren Körper, der zudem sexuell Olympia-fähig sein soll? Mir scheint, es geht um eine weitere Drehung der Spirale in Richtung Privatisierung und Vereinzelung der Individuen: jeder soll gefälligst sein Glück selber schmieden, sich marktförmig (jung, schlank, straff, superpotent) zurichten und so die „Nachfrage“ nach dem Produkt dieser Bemühungen steigern. Begehrt werden wäre dann die Erfüllung – solange man es schafft, die geforderte Fitness und „Beauty“ aufrecht zu erhalten.

Bezeichnend an dieser Art Glücksversprechen ist, dass man es ganz alleine schaffen kann: durch Konsum, Kasteiung und „üben, üben, üben“ soll ein supergesunder Übermensch entstehen, der keine Gemeinschaft mehr benötigt, sondern nur noch Bewunderer. Genießen wird er sein hart erarbeitetes „Glück“ allerdings nicht können: schon bald zeigt sich eine neue Falte im Gesicht, jede kleine Trainingspause lässt die hart erarbeiteten Muskeln erschlaffen. „Fit for fun“ ist eine Lüge, denn für den „Fun“ bleibt keine Zeit, man muss immer weiter „an sich arbeiten“, um nicht raus zu fallen aus dem anstrengenden Spiel.

2009 hab‘ ich drei Kilo zugenommen und eine Kleidergröße zugelegt. Komischerweise fühl ich mich gut, gefalle mir im Spiegel und kann über mangelnde „Nachfrage“ nicht klagen. Glücklich macht mich vor allem gelingender Austausch mit meinen Nächsten und den Ferneren, online und offline. Je mehr ich von mir absehe und mich für Andere und die Welt da draußen interessiere, desto unproblematischer fühlt sich das eigene Leben an. Dafür wird das Mitfühlen intensiver, manchmal auch die Wut und die Traurigkeit über all das, was die Menschheit so treibt, als gehe es darum, den Planeten möglichst schnell in die Tonne zu treten.

Bluuuuumengießen…. !

„Fern in Asien passiert ein Drama, in Velutschistan marschiert ein Heer. Doch ich geh Bluuuuumen gießen, Bluuuuumen gießen, Herz, was willst du noch mehr!“ sang einst Georg Kreisler. Mittlerweile kann ich das gut verstehen, denn nichts wirkt so ausgleichend und harmonisierend wie ein Garten, in dem man sich mit ganz irdischen Dingen beschäftigt. 2009 war mein erstes „ganze Jahr“ im neuen Garten – ich hätte nicht gedacht, dass es sogar in einer „spießigen“ Kleingartenanlage so schön sein kann. Jetzt fehlt mir nur noch das passende Netbook, dann kann ich von da aus auch gleich recherchieren und bloggen! :-)

Und überhaupt: die politische Dimension deprimiert ja nicht nur, sie ist auch sehr spannend! In diesem Jahr hat sich dank „Zensursula“ endlich mal wieder richtig was bewegt. Die dilettantischen Herangehensweisen eher netzferner Politiker haben junge (und auch ein paar ältere) Menschen motiviert, sich nicht mehr alles gefallen zu lassen. Der Auftritt der Piratenpartei auf der politischen Bühne hat weit mehr bewirkt, als die 0,9% Stimmen vermuten lassen. Mittlerweile sind viele Netzthemen auf der Agenda, die alten Mächte, denen ihre traditionellen Geschäftsmodelle wegbröckeln, entfalten ihre Kampfkraft, treffen aber auch auf breiten Widerstand. Überwachung, Datennutzung, Urheberrecht, „Kultur des Kostenlosen“ und vieles mehr werden breit diskutiert – und es ist nicht mehr ganz einfach, so „von oben“ mal eben etwas aufzuzwingen. Ich bin gespannt, wie all diese Themen sich weiter entwickeln werden, wobei ich aufs Schärfste hoffe, dass sich die Unvernunft, die das freie Verlinken und Zitieren mittels eines „Leistungsschutzrechts“ unterbinden will, NICHT durchsetzt.

Die „große Politik“ erscheint im übrigen mehr und mehr als seltsames, den realen Problemen kaum mehr zugewandtes Schauspiel: eine Koalition, deren erstes Gesetz (das mit den Steuersenkungen inmitten katastrophaler Haushaltslage) nur deshalb noch durchgewunken bzw. erkauft werden muss, damit sie nicht „das Gesicht verliert“, macht einen verdammt unfähigen Eindruck! Die von Merkel so oft zitierte „schwäbische Hausfrau“ kann da nur mit dem Kopf schütteln – sofern sie nicht Hotel-Managerin ist und von der neuen Subvention profitiert. Und wenn der Klimagipfel (Floppenhagen) etwas gezeigt hat, dann dass die Regierenden der Welt nicht im Stande sind, über ihren nationalen Horizont hinaus zu schauen -wohl wissend, dass Erde und Himmel, Atmosphäre und Klima keine solchen Grenzen kennen.

Jahr 2 der Finanz- und Wirtschaftkrise

Aber wir haben ja sowieso „Krise“. Als deren Wirkung ist das Wachstum und die gesamte Produktion Ende 2008 mal eben um 20 bis 25 Prozent gekappt worden. Anstatt diesen in vieler Hinsicht positiven „Dämpfer“ aber 2009 zu nachhaltigen Umstrukturierungen zu nutzen (z.B. Abbau von Überkapazitäten, Verteilung der verbliebenen Arbeit, Beschränkung spekulativer Finanzgeschäfte), müht sich unsere Regierung, mittels immer höherer Verschuldung ein „wieder so“ und „weiter so“ zu gewährleisten. Wenn irgend etwas mit Fug und Recht PERVERS genannt werden darf, dann ist es ein solches Vorgehen!

WER ist es aber, der das so will? Schließlich kann man Politikern nicht vorwerfen, zu tun, was das Volk mehrheitlich wünscht. Was aber wird tatsächlich gewünscht? Einerseits demonstrierten viele mit den bedrohten Opel-Arbeitern, andrerseits wurde ein bis dahin unbekannter Minister zu Guttenberg in den politischen Himmel gehoben, weil er dem Unmut über die Stützung eines Mega-Konzerns deutlich Ausdruck verlieh. Je mehr die Wirkungen der Krise am eigenen Leib und Lebensstil spürbar werden, desto mehr Einverständnis gibt es offenbar mit der Verschuldungspolitik.

Vielleicht wäre das anders, zumindest ansatzweise, wenn es eine echte Diskussion über Alternativen gäbe – nicht nur in kleinen Blogger-Gemeinden und sektenartigen Randgrüppchen, sondern getragen von den gewählten Politikern und den Mainstreammedien. Bei den letzteren konnte man ja in der heißen Phase der Krise tatsächlich Artikel lesen, die allen Ernstes die Systemfrage stellten – eine Anwandlung, die allerdings schnell wieder im Business as usual versackte.

2009 war insgesamt ein sehr bewegtes Jahr, das uns in mancher Hinsicht die Grenzen unseres aktuellen Lebensstils aufgezeigt hat. Ob und wie wir den verändern, ob wir das können bzw. überhaupt „wollen können“, wird 2010 zeigen. (Auf „grünen Strom“ bin ich immerhin schon umgestiegen… aber reichen wird das bei weitem nicht!).

Ich wünsche allen einen guten Rutsch!

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Diskussion

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11 Kommentare zu „Jahresendbesinnung 2009“.

  1. Auch Dir wünsche ich ein gutes neues Jahr.

    Ich gebe nicht sehr viel auf Weitsichtigkeit, höchstens auf ein geschicktes Verkoppeln von Normalsichtigkeit (i.e. was kommt bloß als Nächstes auf mich zu?) mit nachhaltigeren Kausalketten (gekaufte Umweltzerstörungsrechte wären dummerweise ein Beispiel). Leider sehe ich uns alle eher als Publikum in einem brennenden Saal mit nur wenigen Notausgängen. Wir kämen womöglich alle hinaus, würden wir nur füreinander denken. Denken wir aber jeder nur an sich, wird kaum einer von uns entkommen. Und draußen wird auf die wenigen Glücklichen nicht unbedingt das warten, was sie drinnen sich so hoffnungsvoll noch einbildeten.

    All die Diskussionen etwa der Bloggerszene aber deprimieren mich eher. Wie die hermetisch glänzenden Dialoge in einem aufrüttelnden Film, weil jeder glaubt, es gäbe nach wie vor die gewohnte Welt danach, was immer auf der Leinwand auch grauslich herum flimmerte.

    Trotz alledem alles Gute für 2010. Das Wünschen kann uns keiner nehmen, also nehmen wir es uns und tun so als ob! That’s being virtual, isn’t it.

    Dazu vielleicht dieser alte Song:

    Should Old Acquaintance be forgot,
    and never thought upon;
    The flames of Love extinguished,
    and fully past and gone:
    Is thy sweet Heart now grown so cold,
    that loving Breast of thine;
    That thou canst never once reflect
    on Old long syne.

    My Heart is ravisht with delight,
    when thee I think upon;
    All Grief and Sorrow takes the flight,
    and speedily is gone;
    The bright resemblance of thy Face,
    so fills this, Heart of mine;
    That Force nor Fate can me displease,
    for Old long syne.

    Since thoughts of thee doth banish grief,
    when from thee I am gone;
    will not thy presence yield relief,
    to this sad Heart of mine:
    Why doth thy presence me defeat,
    with excellence divine?
    Especially when I reflect
    on Old long syne

    Oh, then, Clorinda, prove more kind,
    be not ungratefull still:
    Since that my Heart ye have so ty’d,
    why shoud ye then it kill:
    Sure, Faith and Hope depend on thee,
    kill me not with disdain:
    Or else I swear I’ll still reflect
    on Old long syne.

    Since you have rob’d me of my Heart;
    It`s reason I have yours;
    Which Madam Nature doth impart,
    to your black Eyes and Browes:
    With honour it doth not consist,
    to hold thy Slave in pain:
    Pray let thy rigour then resist,
    for Old long syne.

    It is my freedom I do crave,
    by depracating pain;
    Since libertie ye will not give,
    who glories in his Chain:
    But yet I wish the gods to move
    that noble Heart of thine;
    To pity since ye cannot love,
    for Old long syne.

    But since that nothing can prevail
    and all hopes are in vain;
    From these rejected Eyes of mine,
    still showers of Tears Shall rain:
    Though thou wast Rebel to the King
    and beat with Wind therein,
    Assure thy self of welcome Love,
    for Old long syne.

    CHORUS:

    For Old long syne my Jo,
    for Old long syne,
    Assure thy self of welcome Love,
    for Old long syne

    Alles Gute
    Susanne

  2. ich wünsche ein gutes und friedliches neues jahr. möge es für uns alle besser werden, als das alte. auf jeden fall finde ich es klasse, dass ich es fertig gebracht habe, selber eine webseite zu bauen. ich hoffe mein elan lässt dieses jahr nicht nach.

  3. Liebe Claudia,
    nachträglich auch von mir ein Gesundes Jahr 2010.

    Deine Aussagen gefallen mir gut, nur die Änderungsmöglichkeit bezweifle ich. Wenn Du gläubig bist, dann sind wir das Beste was IHM möglich war – andernfalls sind wir das Beste was ( bis jetzt ) evolutionär möglich war.

    Zu Deine Frage:“WER ist es aber, der das so will?“ erlaube ich mir
    zwei LINKs zu kopieren:
    http://www.heise.de/tp/r4/artikel/31/31762/1.html
    und Teil 2: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/31/31763/1.html
    ein ungewöhnliches Interview, welches meine persönliche Kenntnis in diesen Fragen bestätigt.

    Anderseits, der Mensch verfügt über eine „unendliche Ressource“, seinen Geist – und der hat letztendlich immer geholfen, leider auch unter unendlichen Opfern.

    Ich halte diesen Zusammenhang für nicht änderbar – Entwicklungen verlaufen entlang von Potentialgefällen ( sagt der Naturwissenschaftler ) und das scheint mir in der Soziologie genau so zu sein. Will sagen, ohne NOT ändert sich nichts und die ist ( zumindest bei uns ) noch lange nicht groß genug.

    Und dann bleibt noch die Frage: Was kommt Besseres?

    Ich kann mir nicht erklären, warum so viele Menschen glauben zu wissen, was für andere das Beste ist.

    Allerdings habe ich gelernt, daß Verlierer immer nach der „Änderung der Regeln“ rufen, sie sind zu faul oder aber unfähig die Regeln, nach denen die Menschheit nun mal spielt zu lernen, um dann auch mal gewinnen zu können.

    In diesem Sinne, danke für Deinen Blog – Gruß Hanskarl

  4. @Hanskarl, der schreibt: „Ich kann mir nicht erklären, warum so viele Menschen glauben zu wissen, was für andere das Beste ist.“

    Mit dieser Deiner Erklärungsnot reihst Du Dich in eine prominente Linie, die von keinem Geringeren als Shakespeare selbst angeführt wird.

    In seinem „Kaufmann von Venedig“ (falls ich mich richtig erinnere) soll der folgende kluge Zweizeiler (sinngemäß) zu lesen sein:

    „Wenn alles Tun so einfach wäre, wie das Wissen darum, was zu tun sei, dann wären die Kapellen (außer der Sixtinischen natürlich) Kathedralen und die Hütten armer Leute wären Paläste von Prinzen.“

    Eine wertvolle Erkenntnis für jeden kritischen Schreiber und Egos aller Art, wie ich meine.

    nun denn – machen „wir“ etwas draus,
    wenn „wir“ es wollen.

    gesegnetes 2010

    yours, h

  5. Werter Hermann, danke für das Zitat, das mir nicht bekannt war.

    Sicher ist eine Veränderung der bestehenden Verhältnisse zum Besseren denkbar – aber bitte ohne Blutbad, wie bisher meistens in der Historie.

    Gruß Hanskarl

  6. Liebe Alle

    etwas Utopie zum neuen Jahr: Meine Utopie beruht NICHT auf Veränderungen, sie setzt NICHT beim Hergebrachten an, sondern im Herzen. Mich interessiert, was von Herzen wünschbar ist, es muss nicht besser und nicht für alle anderen sein. Ich wünsche mir im 2010 von Euch zu hören, was Ihr gerne hättet. Und Euch wünsche ich Mut und Gelassenheit, die es möchlich machen, Utopien zu erzählen, also ein wahrhaft gesegnetes Jahr

    Herzlich
    Rolf

  7. Hallo alle!

    wieder aufgetaucht aus meiner Jahreswechsel-Auszeit bedanke ich mich bei allen für die guten Wünsche und Inspirationen, die auch DIESE Kommentare wieder beinhalten!

    Noch bin ich ein bisschen faul, um diese Zeit darf das sein.. :-) deshalb jetzt nur in aller Kürze: ich wünsch Euch viel Freude, Kraft und Glück für 2010 – und ich hoffe natürlich aufs Schärfste, dass uns allen der Himmel nicht auf den Kopf fällt!

    Liebe Grüße
    Claudia

  8. Hallo allerseits.
    Zurück aus einer Auszeit, möchte auch ich moch einen Wunsch ansagen: Aufrichtigkeit allerorten.
    Einen Freimut wie hier. Darum danke Claudia, auf daß „wir“ auch weiter die Herdfeuer der Herzen spüren können.
    Matthias

  9. Hallo ihr Lieben,

    mein Jahr ist rund und hat weder Anfang noch Ende, wie der Kreis. Aber Besinnung kann ja nie schaden und gute Wünsche auch nicht. Also: Alles Gute!

    Claudia sagte: „Mir scheint, es geht um eine weitere Drehung der Spirale in Richtung Privatisierung und Vereinzelung der Individuen: jeder soll gefälligst sein Glück selber schmieden, sich marktförmig (jung, schlank, straff, superpotent) zurichten und so die “Nachfrage” nach dem Produkt dieser Bemühungen steigern.“

    Ich finde allerdings auch, jeder soll gefälligst sein Glück selber schmieden, wer sonst sollte es machen? Ob Markterfolg und hohe Nachfrage zum Glück beitragen, ist aber eine andere Frage. Und eine weitere Frage ist es, ob so ein gestählter Körper wirklich den Markterfolg erhöht. Vereinzelung dagegen, ist sicher keine zwingende Folge davon, das Glück selbst zu schmieden. Im Gegenteil: Die Gesellschaft glücklicher Selbstschmiede ist bei mir zumindest viel gefragter, als die Gesellschaft von Leuten, die darauf warten, daß andere ihr Glück schmieden. Die Verdächtigung, jemand wolle Planeten in Tonnen treten ist m.E. nicht glücksfördernd. :)

  10. Naja, Claudia, 3kg mehr ist tatsächlich relativ. Man fühlt sich gut so, auch das andere Geschlecht meint es gut mit einem, aber dann beginnnen plötzlich die Knie zu knarzen an und der Hosenbund hindert einen, an die Funktionstasten der Tastatur bequem heranzureichen.
    Mein Vorsatz für dieses Jahr ist zumindest, ein wenig mehr…an Sport zu denken!

    Gruß
    Gerhard

  11. Den Artikel finde ich echt lustig geschrieben – Toll das es Menschen gibt die sich kritisch gegen das aufgezwängte Idealbild äußern.
    Danke
    Helmut Rossmann