Claudia am 30. Oktober 2008 —

Schamlose Gier

In seinem appellatorisch überschriebenen Artikel Gemeinsam agieren statt allein reagieren reflektiert „Thinkabout“ über die Gier nach MEHR als Phänomen in jedem Einzelnen, die sich in den letzten 15 Jahren zum beherrschenden gesellschaftlichen Trend etabliert hat: weniger Solidarität, weniger Gemeinschaft, dafür mehr individuelle Freiheit und Selbstverwirklichung – und alle (bzw. die allermeisten) waren damit einverstanden. Denn der Maßlosigkeit der Mächtigen, sagt Thinkabout, entspräche im Gefühl der Individuen „dass es auch für einen selbst ein bisschen mehr sein darf”, und führt dann eine Reihe von Beispielen an, denen kaum zu widersprechen ist.

Das Motiv solcher Reflexionen stellt der Autor dem Artikel gleich voran: „Vielleicht komme ich ja auch nur darauf, weil mir alles zutiefst zuwider ist, was mir das Gefühl gibt, bloss Spielball fremder Mächte und Interessen zu sein. Da frage ich lieber danach, was scheinbare Automatismen, denen ich mich plötzlich ausgesetzt sehe, eben doch auch mit mir zu tun haben.“

Ja, das verstehe ich gut, allermeist geht es mir genauso und in diesem Diary gibt es viele Artikel, die solche Reflexionen der eigenen dunklen Seiten enthalten. Zu „schlichten Feindbildern“ sei ich nicht mehr fähig, schrieb ich noch letztens im Beitrag „Annäherung an persönliche Verantwortung“, doch was ich in diesen Tagen so alles mitbekomme, stellt diese Selbstbescheidung tatsächlich wieder in Frage.

Denn auch im Bewusstsein der eigenen „Gier nach mehr“, die ja auch weniger auffällige, immaterielle Formen annehmen kann, war und ist diese Wahrnehmung für mich immer auch mit einem Gefühl der Scham verknüpft. Eine Scham, die dazu führt, es „nicht zu doll zu treiben“ und diese Seite im Ausleben weitestmöglich zu begrenzen – und natürlich wünsche ich mir, dass meine Mitmenschen möglichst gar nichts davon mitbekommen! Wer will schon als egoistische, vordringlich dem eigenen Wohlleben und Fortkommen verpflichtete Person wahrgenommen werden?

Hauptsache, die Kohle stimmt

Umso mehr staune ich, dass es solche Menschen tatsächlich gibt! Gestern zappte ich kurz mitten in eine Rede des Finanzministers, der sich darüber empörte, dass die Banker von ihm nun auch noch „Anreizsysteme“ verlangten, die es für sie lukrativ machen sollen, den „Rettungsfond“ für ihre Banken in Anspruch zu nehmen. Tja, wer will schon eine Rettung, die derart drastisch die persönlichen Bezüge kürzt? Statt Millionen nur noch 500.000 – das ist ja Zwangsverarmung! Da lässt man doch lieber die Wirtschaft den Bach runter gehen und die Banken in die Insolvenz – Hauptsache bis zum Schluss stimmt die Kohle!

Keinerlei Scham scheinen auch die Autobauer zu empfinden, wenn sie sich nun staatlich finanzieren lassen wollen, was sei seit Jahren mutwillig und entgegen dem allgemeinen Trend verweigert haben: die Entwicklung umweltfreundlicherer Autos. Statt dessen vermarkteten sie mit allen Mitteln ihre Protzkarossen, drückten sie mit billigen Leasingverträgen in den Markt und schmissen mit Vollfinanzierungen und Rabatten nur so um sich, um nur ja nicht von ihrem Kurs ablassen zu müssen, der da hieß: größer, schneller, teurer, mehr!

Dass der in seinem Job gewiss nicht schlecht bezahlte Bahn-Chef Mehdorn sich und seinen Co-Managern für den Börsengang (=Verschleuderung) der Bahn mal eben noch „Boni“ in Millionenhöhe genehmigen ließ, hat jetzt einen Staatsekretär die Stellung gekostet – zu verhindern ist es offenbar nicht.

Ein lieber Freund, mit dem ich gestern über all diese Vorkommnisse sprach, meinte recht treffend, diese Leute seien wie süchtige, oft jugendliche Online-Spieler, die nicht mehr vom Monitor loskommen, weil sie ja immer „noch einen Feind besiegen“ müssen. Da helfe letztlich nur, ihnen den Stecker zu ziehen.

Tja, aber WER sollte das machen und WIE? Wohl kaum diejenigen, die mit einer „Altersversorgung“ durch ein Aufsichtsratmandat bei einer Bank, einer Versicherung oder bei der Bahn rechnen.

***
Siehe auch:
* Protestkundgebung vor dem Finanzministerium
* Gedicht zur Lage (nicht von Tucholsky, aber trotzdem gut)
* € 500.000.000.000 (2) ( = warum es doch am System liegt…)

Diskussion

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5 Kommentare zu „Schamlose Gier“.

  1. Der Verweis auf eine „Sucht“ ist recht zutreffend. Unsere Gesellschaft ist mittlerweile darauf aufgebaut. Wenn von Jugendlichen in Befragungen bei Hobbys „Shoppen gehen“ angegeben wird, wird einiges klarer.
    Es muß ja eine Sucht erzeugt werden, damit Menschen, die eigentlich fast alles haben, was sie brauchen, immer weiter haben wollen.
    Zur Heilung wäre vielleicht ein Totalzusammenbruch in folge der Finanzkrise angebracht. Aber es würde auch die „Gesunden“ treffen. Ob es lange anhält, ist auch zu bezweifeln. Ist ja nicht die erste Krise und die Wirkung derartiger Krisen erstreckt sich meist nur über max. zwei Generationen.

  2. Thema „Schamlose Gier“
    Welche Frage ich mir seit geraumer Zeit stelle:
    „Warum lassen die Menschen in dieser Gesellschaft das mit sich machen?“ Warum gibt es zu dem Thema keine „Montagsdemos“?

    In Leserbriefen und Internetforen wird sich empört, keine sonstige Demo weit und breit. Worauf warten die Menschen lethargisch?
    Ich frage mich, ob drastische Dinge wie Hyperinflation oder Währungsreform die Menschen wachrütteln und zu einer anderen Verhaltensweise dem Geld- und Wirtschaftsleben gegenüber führen würde?
    Die jetzt angedachten „Kontrollen“ und Beschränkungen von dubiosen Finanz-Casino-Spielchen verändern ja nicht wirklich was (sollen auch nicht wirklich was verändern, sondern dem Volk dokumentiren das man was tut).
    Es steht eigentlich an, das gesamte Geld- und Finanzwesen, das Wirtschaftsleben und die Frage des gesellschaftlichen Zusammenlebens völlig neu zu definieren.
    Ich schätze  das ca. 30 % der Bevölkerung dafür auch aufgeschlossen wäre.  Aber wie es aussieht, bleibt alles wie es war, keine neue Partei in Sicht (deren Möglichkeit im derzeitigen Lobby-Parlamentarismus ja auch beschränkt wäre).
    Ich denke, das die wenigen Global-Player (Strippenzieher) die Krise nutzen um unliebsame Konkurrenten loszuwerden und nach der Krise
    noch machtvoller und rücksichtsloser agieren zu können.
    Klingt jetzt irgendwie frustig.
    schön‘ Gruß aus Hamburg

  3. Ich nehme an, dass das Mittel „Straßen-Demo“ in Zeiten des virtuellen Online-Daseins mehr und mehr verschwindet. Fast alle relevanten wirtschaftsbezogenen Schandtaten werden per PC begangen – aber das Volk soll zu Latschdemos erscheinen, damit die Presse ein paar Bilder machen kann? Also mich wundert nicht, dass das immer seltener passiert. Zur Demo am Finanzministerium sind nach Veranstalterangaben (!) grade mal 400 Leute erschienen!

  4. Man muß da schon ein wenig aufpassen.
    Wenn man sich über gierige Manager aufregt und nicht verstehen kann, daß für Harz IV-Empfänger kein Geld da ist, während den Banken gleich Milliarden in den Rachen geschoben werden, findet man sich letztlich  mit denen in schönster Einigkeit wieder, die von „Auswüchsen“ des Systems sprechen, und nach allerlei Reparaturarbeiten am liebsten morgen schon weitermachen würden wie bisher (mehr hier).
    Ernst Lohoff hat dazu die Hintergründe geliefert.

  5. Die „Gier“ ist nur eine Spielart des überdimensionierten Ichs, das gewöhnlich auch in anderer Weise die Kritiker ihr eigen nennen; denn wer kritisieren kann, der weiß es ja besser und ist moralisch erhabener. Die Manager sollen also an der kurzen Leine geführt werden, kontrolliert, überwacht – also doch wohl gemanagt werden. Die Bedeutung des Managments – Risk Controlling, Tracking, Guidelines usw. –  und auf mittlere Sicht auch die dazugehörigen Gehälter werden weiter steigen, für Manager, die so tough sind wie ihre Kritiker, und die verhindern sollen, dass deren hart verdientes Geld verzockt wird; denn nur darum geht es, um die Furcht derer, die meinen, etwas zu verlieren haben, und auf nichts und niemandem aus ihrer eigenen Cleverness mehr vertrauen; am allerwenigsten geht es um Sozialismus, Solidarität oder Menschenliebe. Die globale Welt schreitet voran, das ist alles, und zu der gehört der Leviathan so notwendig, wie auf den Zirkus und den Blogger, der seine kritisch-freihändige Meinung für wert hält, der ganzen Welt gepostet zu werden. Solches Chaos braucht eben nun mal – Management. Am meisten dann, wenn gerade das Chaos triumphiert. Auch dann triumphiert insgeheim nur – das System. LOL