Claudia am 23. August 2006 —

Liebe per Email

„Das ist der stockendste Dialog meiner ganzen Netzzeit“, tippte ich in einem Anflug schlechter Laune in die Tasten. Wieder hatte mich mein neuer Bekannter frustriert: erst eine lange, interessierte und engagierte Mail, auf die ich binnen 24 Stunden in entsprechender Form geantwortet hatte – und dann wieder tagelang nichts! Dieses punktuell intensive, zeitlich unberechenbare Mailverhalten macht es mir schwer, zur Person am anderen Ende der Drähte eine klare Haltung zu finden: Ist er nun jemand, der Teil meines inneren Kosmos werden will, ein virtueller Freund, der nach einiger Zeit der Kennen-lern-Gespräche vielleicht auch mal vorbei kommt? Oder ist er nur ein sporadisch aufscheinender „Kontakt“, mit dem man sich schreibend eine nette Arbeitspause gönnt, wenn er mal auftaucht, ihn dann aber besser wieder vergisst – bis zum nächsten Mal?

Diese Unklarheit ist es wohl, die mich stört, unabhängig davon, was mich mit ihm verbindet oder auch nicht. Mein Vorwurf ist dennoch ungerecht, denn er war „vom Start weg“ nie anders und tatsächlich hab‘ ich das eigene Mail-Verhalten dem seinen längst angepasst: ich maile auch nur, wenn es mir gerade passt, und wenn mir zu einer seiner Mails nichts einfällt, warte ich ganz entspannt auf die nächste. Als mir das wieder klar wurde und meine allgemeine Stimmung sich gehoben hatte, schickte ich eine Entschuldigung hinterher. Der Arme kann ja nicht wirklich was dafür, dass ich gerade Gründe suchte, um meine Launen an jemandem auszulassen!

Mail- und Chat-Kontakte sind eines der Dauerbrenner-Themen seit es das Internet gibt. Seit einigen Jahren wird „Partnersuche“ breitflächig vermarktet, große Plakatwände locken Singles und Seitensprung-Suchende in entsprechende virtuelle Räume, wo der Märchenprinz oder die Prinzessin vielleicht auf sie wartet. Mir persönlich war diese Art expliziter „Suche“ immer fremd, ich fand Menschen, die mich interessierten und auch solche, in die ich mich verliebte, inmitten des „ganz normalen Lebens“, offline wie online. Meine Arbeit als Webdesignerin und das Betreiben eigener Projekte bringt ganz automatisch jede Menge Kontakte zu Menschen, die ich im physischen Nahraum niemals kennen gelernt hätte – und gelegentlich ist es da durchaus passiert, dass es mal richtig funkte!

Cyberlove – eine Realität?

Nach ersten intensiven Erfahrungen mit solch virtuell-amorösen Gefühlswallungen schrieb ich 1997 im Netzlexikon (Co-Autor Ralph Segert / MIDAS-Verlag) zum zeitgeistigen Stichwort „Cyberlove“:

„Liebe im Cyberspace, Cyber-Liebe. Der schillernde Begriff suggeriert für viele die Hoffnung, im „neuen Land“ Digitalien nun endlich dem Märchenprinzen oder der Traumfrau zu begegnen, die das reale Leben so schnöde verweigert. In den vielen Chats, den Plaudertreffs im Internet, werden die Besucherinnen meist gefragt: „Woher kommst Du? Wie alt bist Du? Wie siehst Du aus?“ Mit Cyberlove hat das wenig zu tun. Der Frager checkt offensichtlich ganz trivial die Aussichten für einen eventuellen F2F-Kontakt, und das mit einem Minimum an sprachlichem Aufwand. Das Internet wird so lediglich als neues Medium zum Kennenlernen genutzt, als eine Form interaktiver Kontaktanzeige. Der Suchende kann dabei allerdings nie sicher sein, ob der Partner wirklich so ist, wie er zu sein vorgibt, bis es zum grundsätzlich erwünschten Treffen im realen Leben kommt. Eine richtige Cyberlove verzichtet dagegen auf das „echte Leben“, tut sie es nicht, ist sie keine mehr. Und sie trifft den Netizen aus heiterem Himmel, wie es sich für Amors Attacken gehört, seien sie auch auf modernstem technischen Niveau. Eine Cyber-Liebe ist nicht Wirklichkeit, sie ist virtuell, sie lebt im Reich der Fantasie, der Tagträume, der lebendigen Literatur. Psychologen nennen es prosaisch „Projektion“, was hier geschieht: Man verliebt sich in das, was man zwischen den Zeilen einer E-Mail zu lesen meint und erschafft sich unbewusst eine Traumgestalt – gut, schön, wahrhaftig und so rundum perfekt, wie sie im wirklichen Leben niemals existieren könnte. Ein intelligenter Cyber-Lover ist sich dessen bewußt und genießt dennoch – oder gerade deshalb – das Herzklopfen beim Abrufen der neuen Mails. Denn auch ein Märchen macht Freude, solange man nicht glaubt, es sei die Wirklichkeit.“

Wie da leicht heraus zu lesen ist, hatten mich meine Erlebnisse belehrt, dass das „virtuelle Miteinander“, das sich per Mail so intensiv und berührend entspinnen kann, nicht nahtlos aufs „reale Leben“ übertragbar ist. Zum Beispiel war ich jeweils ein paar Monate schwer auf zwei wunderbare Männer abgefahren: schreibend erlebte ich eine nie da gewesene Nähe im Geiste. Mit Herzklopfen und Schmetterlingen im Bauch erwartete ich die jeweils nächste Botschaft des fernen Geliebten, lebte wochenlang in einer Art Berauschtheit – um dann eines heftig herbei gesehnten Tages von Angesicht zu Angesicht festzustellen, dass derjenige welcher überhaupt nicht „mein Typ“ war!

Was für eine Enttäuschung! Und zwar eine von einer Gefühlsqualität, die ich bisher nicht kannte: Derjenige, der da vor mir stand, war einfach nicht der, in den ich mich verliebt hatte! Von jetzt auf gleich kam mir das Objekt der Begierde abhanden, das gleichzeitig doch eine lang etablierte wichtige Person meiner Innenwelt gewesen war. Diese innere Vorstellung vom „großen Anderen“ verschwand nicht so schnell und ich fühlte eine besonders verstörende Art Traurigkeit. Wenn jemand gestorben ist, ist es auch sehr traurig, aber eine klare Sache: Tod gehört nun mal zum Leben, für den Umgang damit gibt es Riten und Traditionen. Ganz anders die schreckliche Erkenntnis: der, den ich zu lieben meinte, hat niemals existiert!

Teilwahrheiten und Projektion

Wie kann so etwas passieren? Ich lernte, dass es nahezu natürlich und sogar recht häufig so geschieht: Per Text vermittelt sich nur ein Teil der Informationen über die andere Person – nämlich das, was diese Person von sich zeigen will und das, was so nebenher aus ihrem Kommunikationsstil zu entnehmen ist. (Auch ein Foto ändert daran nichts, denn es ist eine eingefrorene Augenblicksansicht von geringer Aussagekraft: keine Mimik und Gestik, keine Körperhaltung, kein Muskeltonus, keine Ausstrahlung, kein „echtes Leben“, sondern nur ein vielfältig interpretierbares Bild). Lücken und Leerstellen, die die Kommunikation per Email lässt, füllt das eigene Gehirn mit den allerschönsten Wunschvorstellungen: der „große Andere“ wird geboren – nicht im richtigen Leben, aber im Geiste.

Was ich dann erlebte, war der Bruch zwischen der virtuellen Person, die der andere per Mail zu sein schien, und der realen Person, die nun tatsächlich vor mir stand. Das zumindest war die erste Formulierung, die ich zur Beschreibung des Phänomens wählte: dort im Cyberspace die Welt der Täuschung, hier im physischen Miteinander das „reale Leben“. Der Tatsache, dass ich mich selber bereits mehr im virtuellen Raum aufhielt als im sogenannt „Realen“, wird diese Beschreibung allerdings nicht gerecht. Denn es ist ja meist nicht gelogen oder vorgetäuscht, was in den Sphären der Netze erlebt wird, sondern nur ein ANDERER Aspekt der einen Wirklichkeit.

Schaut man genauer auf den erlebten Bruch, wird das schnell klar: meine beiden virtuellen Märchenprinzen zeigten per text-only Eigenschaften, die mir an Männern gut gefallen: aktiv und dynamisch, fähig und kompetent in ihren Metiers, dazu von entwickeltem Selbstbewusstsein, ohne deshalb arrogant oder überheblich zu wirken. Männer, die Bescheid wissen und tun, was sie sagen, geistig souverän und gefühlsmäßig offen – so wirkten sie jedenfalls auf mich. Was fehlte, erfand ich mir dazu, ohne es auch nur zu bemerken. Leibhaftig vor mir stehend, fiel dieses einseitige Bild in sich zusammen: nichts mehr von Souveränität, Spontanität, keinerlei zupackende Eigenschaften, keine Lockerheit im Umgang miteinander. Auf der nonverbalen Ebene spürte ich sofort ihre Unsicherheit gegenüber der Frau in mir, eine gewisse Schüchternheit und Vorsicht, die sich über Körper und Ausstrahlung unmissverständlich vermittelt. Da blieb erst mal nichts übrig von der so erotischen Souveränität, die ich erwartet hatte, und die nicht unwesentliche Voraussetzung meiner Verliebtheit gewesen war.

In beiden Fällen verbrachten wir dennoch eine gute Zeit miteinander. Ich überwand die Irritation des Anfangs und lernte die reale ganze Person kennen, fand schließlich auch die Aspekte wieder, die ich per Mail so geschätzt, aber überinterpretiert hatte: die Kompetenz in ihren jeweiligen Domänen, in der sie tatsächlich geistige Autoritäten waren. Nur hatte das nahezu nichts mit ihrer zwischengeschlechtlichen „Performance“ zu tun, da waren sie eher von der schüchternen Sorte. Und ich war für die Zukunft belehrt, von virtuellen Bekanntschaften in dieser Hinsicht besser nichts zu erwarten – egal, wie wunderbar sie in ihren Texten wirken mögen.

Und alles stimmt…

Es dauerte Jahre, bis ich mich eines schönen Frühlings erneut virtuell verliebte. Diesen Kandidaten hatte ich zwar schon einmal leibhaftig gesehen, doch war er mir nicht im Gedächtnis haften geblieben, ich konnte mich nicht mal an sein Gesicht erinnern, sondern kannte ihn nur vom Foto auf seiner Website. Unsere „Cyberlove“ wurde schnell sehr heftig, gerade das Wissen, dass daraus vermutlich nichts werden würde, dass es sich nur um „erfundene Liebe“ zu beiderseitigem virtuellen Genießen handelte, machte mich frei, sehr intensiv in die Affäre einzusteigen. Ich achtete darauf, ihm meine Sicht der Dinge ständig präsent zu halten, damit auch ER die Sache nicht ernster nahm und dann ebenfalls diesen Bruch erleben würde, der mich so verstört hatte. Und doch riskierte ich, ihn nach einigen Monaten nur Text in einem Hotel zu treffen, als es während einer Reise möglich wurde, noch zwei Tage dran zu hängen. Oh, wie hab ich gebibbert! Nahezu überzeugt, dass ich ihn „real“ nicht erotisch finden würde, war ich dennoch voll des Verlangens, in das wir uns mit unserem ziemlich heißen Mailwechsel hinein geschrieben hatten. Alles kann, nichts muss – klar hatten wir uns auf die zeitgemäße Kontaktformel geeinigt, aber ob die Gefühle das so locker mitmachen würden??

Nun, er kam, sah und siegte! Schloss mich in die Arme, küsste mich heftig und binnen 20 Minuten landeten wir auf dem Hotelbett – das ganze „zuvor“ hatten wir ja schon monatelang per Mail abgehandelt. Was fehlte, war die körperliche Erfüllung, die wir uns dann auch zwei Tage lang ausgiebig gönnten. Es war einfach himmlisch! In diesem Fall gab es keinen Bruch: mein neuer Liebster war genau SO, wie ich ihn per Mail erlebt hatte – das gibt es also auch! Ich war hin und weg und lernte, dass nichts sicher ist und keine Erfahrung wirklich alle Zukunft erfassen kann.

Online und offline – zwei Fenster zur ganzen Wirklichkeit

Mein derzeitiger Liebster ist einer, den ich NICHT direkt per Internet kennen lernte, sondern über einen Netzfreund, der mich in Berlin besuchte. Zwar hat er einen Computer, doch nutzt er das Internet nur als Info-Quelle und nicht dazu, Menschen kennen zu lernen und mit ihnen zu plaudern. Das mailen musste ich ihm erst nahe bringen und so richtig sein Ding ist es bis heute nicht. Dennoch meinte er neulich, nachdem sein PC ein paar Wochen kaputt war, dass ihm meine Botschaften fehlen würden – und das, obwohl wir uns mindestens zweimal die Woche leibhaftig begegnen und ausführlich genießen.

Er hat also gemerkt, dass die virtuelle Dimension ihren eigenen Wert und eigenen Reiz hat: mit mir alleine schreibe ich ihm anders, als wenn ich mit ihm spreche, ich schöpfe aus der Gesamtheit meines geistigen Horizonts und aus dem ganzen Potenzial meiner Gefühle – er steht ja nicht vor mir und beeinflusst mich in jedem Augenblick durch seine nonverbalen und verbalen Reaktionen. Was dann rüber kommt, ist nicht dasselbe wie „von Angesicht“ – und dennoch genauso wahr und real existierend wie das, was wir im physischen Miteinander austauschen.

„Real Life ist auch nur ein Fenster unter mehreren“ hieß einmal ein geflügelter Spruch, der durch die Netze kursierte. Er trifft es auf den Punkt: Das virtuelle und das physische Miteinander sind beides interessante und ergiebige Dimensionen der Wirklichkeit. Probleme damit bekommt man nur, wenn man von einer auf die andere schließt und diesen Erwartungen entsprechend handelt. Der feurige Liebhaber in den Netzen kann „real“ eher schüchtern und zurückhaltend sein – und umgekehrt. Erst beides zusammen zeigt die ganze Person, die ja aus ihrer eigenen Innenwelt und dem, was sich nach außen zeigt, besteht.

Das Innenleben schreibt sich für nicht wenige besser per Mail – ob sie jemals auch von Angesicht ausdrücken werden, was in ihren Köpfen und Herzen lebt, ist zumindest ungewiss.

Diesem Blog per E-Mail folgen…

Diskussion

Kommentare abonnieren (RSS)
18 Kommentare zu „Liebe per Email“.

  1. Du schreibst:

    (ZA) Ich lernte, dass es nahezu natürlich und sogar recht häufig so geschieht: Per Text vermittelt sich nur ein Teil der Informationen über die andere Person – nämlich das, was diese Person von sich zeigen will und das, was so nebenher aus ihrem Kommunikationsstil zu entnehmen ist. …. Lücken und Leerstellen, die die Kommunikation per Email lässt, füllt das eigene Gehirn mit den allerschönsten Wunschvorstellungen: der “große Andere” wird geboren – nicht im richtigen Leben, aber im Geiste. (ZE)

    Es leuchtet mir nicht ein, warum dies ein Spezifikum der Kommunikation via E-Mail/Brief usw. sein sollte, scheint es mir doch auf jede Form der (bewußten) Kommunikation zuzutreffen. Wir tun doch schon immer „dazu“, füllen, ergänzen, erhoffen und erschaffen uns den Anderen. Letztlich, denke und befürchte ich, sind sprachliche/textliche Äußerungen uns immer vor allem „Anlaß“ für die eigene Gedankenproduktion, mal willkommen, mal sehr hilfreich, mal schwierig und widrig und auch sich sträubend. Aber immer deutlich passiv.

    Kleiner Verdacht am Rande: Reden wir bloß nur zu gerne mit uns selbst, weil es so viel beruhigender ist? Reichlich wenig „Realität“ in unserer „Wirklichkeit“? Nun ja..

  2. Natürlich tun wir immer dazu, aber: Per Text vermittelt sich ein ANDERER Teil von Informationen als von Angesicht – es werden also auch ANDERE Aspekte projiziert / vom eigenen Gehirn dazu gedichtet. Schriftlich zeigen sich eher geistige Gemeinsamkeiten, im physischen Nah-Kontakt vermittelt sich deutlicher, ob der andere auch erotisch in Frage kommt.
    Von ersterem auf letzteres zu schließen, ist ein häufiger Fehlschluss.

  3. hallo hans, hallo claudia,

    “ der “große Andere” wird geboren – nicht
    im richtigen Leben, aber im Geiste. (ZE)“

    “ Es leuchtet mir nicht ein, warum dies ein
    Spezifikum der Kommunikation via E-Mail/Brief
    usw. sein sollte, scheint es mir doch auf
    jede Form der (bewußten) Kommunikation
    zuzutreffen. Wir tun doch schon immer “dazu”,
    füllen, ergänzen, erhoffen und erschaffen
    uns den Anderen.“

    je weniger „Fleisch“(*) bei einem informationstausch
    vorhanden ist, umso eher sind wir in der Lage,
    unsere eigene Wirklichkeitsvorstellung mit der
    in der Kommunikation enthaltenen Informationsfülle
    anzureichern.

    Der Wunsch als Vater/Mutter aller Gedanken,
    schwupps: jedwede Information ohne „Fleisch“
    wird zum Köder für den eignen Geist, die information
    passiert unsere sonstigen Filter aus dem Alltagsleben,
    ohne Abstriche, nur die Idee als solche breitet sich
    in unserem Verständnis aus und der „ANDERE“ als
    Informationspartner in einem gemeinsamen Wirklich-
    keitsspiel ist ebenbürtiger Mitdenker einer
    virtuellen Wirklichkeit.

    Bei Email-kontakten ohne die Fleischbeilage bleibt
    unserm Denken kaum eine andere Möglichkeit, die
    eigene Wirklichkeitswahrnehmung auf die des
    Gesprächspartners auszudehnen, Gemeinsamkeiten zu
    unterstellen, die in „echtzeit“ in keinster Weise
    vorhanden sein muessen. Die (unbewusste) Wirkung der
    Koerpersprache entfällt voellig bei email.

    Unser „Dazutun“ bei emails mit koerperlich unbekannten
    ist im Unterschied zu Telefon/Gesprächskontakten
    f2f voellig unseren eigenen Weltbebilderungen
    unterstellt; kein Pickel, keine schmächtigen Schultern
    kein Sprachfehler schaltet einen Filter.
    Je mehr der „virtuelle Andere“ an selbstgestrickter
    Persoenlichkeit (mit Werten, Bedeutungen, teilbaren
    Gefühlen) inunserer Vorstellung gewinnt, umso weniger
    achten wir auf die tatsaechlich vorhandene Welt.
    Unsere Phantasiebegabung verlangt geradezu nach
    einem Bild, zu dem die rein virtuellen Informations
    happen im ver-Lauf einer (längeren) email bekanntschaft
    nahtlos zusammenpassen, wir sind es nicht gewohnt,
    zwischen reiner (koerperloser) informationsmenge
    und körperlicher Kommunikation auf laengere Zeit zu
    unterscheiden. Ergo „erschaffen“ wir uns einen
    „Märchenprinzen“, perfekt auf unsere Wuensche und
    Verlangen in unzähligen Einzelaspekten abgestimmt.

    Das diese art Wirklichkeitsbestimmung (normierung)
    beim ersten realen Kontakt beider Kommunikationspartner
    zum Ruin der Vorstellung (vor allem, so beide über eine
    überbordende Phantasiebegabung verfügen) führen kann,
    ist für mich selbstverständlich geworden.

    gruesse,
    m.e.

    (*)
    Fleisch meint das Wissen um das tatsaechliche
    Aussehen und Wirken, menschliche Huelle,
    rezipierbare Echtzeitpersoenlichkeit,
    anfassbare Realzeitperson.

  4. Hallo Claudia und martin,

    das, was ihr sagt, verstehe ich so, daß unser – sehr verständliche – Wunsch nach Konstruktion (hier: eines idealen Anderen) in hinreichend stark abstrahierter Kommunikation ein wunderbares Betätigungsfeld findet: je weniger wir „erfahren“, desto mehr erfinden wir hinzu.

    Das fällt dann doch recht heftig (und ein wenig peinlich) auf uns als „ach-so-bewußte“ Individuen zurück. Was eure Aussage nicht falsch macht. Nur etwas unangenehm.

    Und wenn ich es einmal etwas bösartig auf Informationsbeschaffung (z.Bsp. via Internet) ausdehne: erweitern wir damit nun wirklich unsere Horizonte, oder laufen wir lediglich in die bequeme Falle einer Selbst-Bestätigung?

    Ist vielleicht ein wenig an den Haaren herbei gezogen. Aber so etwas macht (mir) ja auch Spaß.

  5. hallo nochmal,

    „das, was ihr sagt, verstehe ich so,…
    je weniger wir „erfahren“, desto mehr
    erfinden wir hinzu.“

    ist denn ncht die ganze wirklichkeit um uns herum
    eine „erfindung“? das koennte jetzt zu weit
    führen, die henne und das ei erneut in die pfanne
    zu hauen, andererseits: sieh dir an, wie das Internet
    in den letzten 15 jahren gewachsen ist.

    eine information ist immer nur information,
    wie ein brotmesser ein brotmesser, ein tisch
    ein tisch, eine welt eine welt ist.

    wir machen jede erfahrung solange erneut,
    bis wir gelernt haben, was für uns wirklich
    wichtig ist, uns voran bringt, unser reales
    leben erleichtert, verbessert, verlängert,–
    was auch immer wir unter persoenlicher entwicklung
    verstehen.

    eine welt am draht ist fuer mich die versuchung
    schlechthin gewesen. ueberall in sekundenbruchteilen,
    sag mir wo du surfst und ich weiss wer du bist.

    nur: aus diesem traum entwickelt sich im lauf der zeit
    eine vorstellung der permanenten unwirklichkeit, so
    kein wirkliches, reales, greifbares ETWAS die Bruecke
    zurueck zur persoenlichen wirklichkeit bildet,
    immer nur mit highspeed um den globus bringt neben
    der unermesslichen freiheit eben auch die unermessliche
    unwirklichkeit und -so ganz nebenher- steigende
    kosten fuer notwendige (lebensnotwendige?) hard/soft
    ware, ohne die eine teilnahme an der weltweiten
    illusion nur mangelhaft gewährleistet werden kann.

    verkaufe einer landratte ein boot und du verdienst einmal;
    zeige ihm die unermessliche sehnsucht nach dem meer
    und du hast einen treuen abonnenten auf dauer.

    fuer mich ist die zeit der brotmesser als brotmesser
    angebrochen, zerstoben der traum, bares ist wares.
    es dauert lange, bis man diese fundamentale, im grunde
    einfache botschaft verinnerlicht hat:, nicht von zynismus
    sondern von realem fuer und wider gepraegtem denken
    ist (fuer mich zumindest) ein kreis geschlossen und ein neuer,
    ach so alter wieder angebrochen.
    du haelst das grosse rad nicht an,
    du bist bestenfalls fuer kurze zeit
    ein kleiner teil davon.

    genuss lässt sich auf viele arten definieren,
    jeder sollte soviel davon erhalten, wie er /sie
    sich vorstellen kann.
    und: manchmal ein wenig darueber hinaus:;)

    gruss
    m.e.

  6. Hallo martin,

    jetzt fühle ich mich doch ein wenig an die Wand gedrückt, na, tröste ich mich halt mit einem Zitat:

    I’ll let you be in my dreams if I can be in yours (R.Zimmermann)

  7. a chamber without walls

    :)

  8. War verzückt von dieser Geschichte.Wir projezieren in unser gegenüber unsere Träume und Vorstellungen .Und wenn wir ihm dann begegnen, dem Gegenüber ,dann MUß er einfach den Illusionen nicht genügen.Das geht gar nicht, denn unsere Träume sind dergestalt aus früheren Tagen ,als wir als Kinder uns wünschten eine Prinzessin zu sein…..ich zumindest wünschte mir das immer.Und natürlich passend dazu den Zauberprinzen.

    Märchen gibt es nur im Kopf .Das Leben ist knallharte Realität, wenngleich die Geschichte im Hotel nach dem Treffen, dass zumindest für 3 Tage eine Illusion sich erfüllen möge, mich strahlen läßt-bis in die Tiefen meienr Seele.

    Dieses Gefühl der Hoffnung werde ich ein wenig auskosten.
    Lg Angelika

  9. „Dieses Gefühl der Hoffnung werde ich
    ein wenig auskosten.
    Lg Angelika“

    :)
    In einem Raum ohne Wände,
    In einem Haus ohne Dach
    In einer Welt voller Hände
    ist Hoffnung das Fach

    das Fach das wir lernen
    als ziel immer galt
    lieben zu lernen
    so werden wir alt

    staunend und stumm
    welt um uns herum
    welt ohne wände
    welt ohne ende

  10. Ich habe deinen Blogg gerade gelesen und mir geht es im Mom. auch so…habe im Web einen Menschen kennengelernt, der mir die Sinne raubt…lach…das reale Treffen wird in 3 Wochen stattfinden und ich hoffe, deine Zeilen helfen mir mit einer eventuellen Enttäuschung klarzukommen. Die Vision und die Realität sehen wie jeder „normale“ Mensch weiß, oft anders aus. Drück mir die Daumen!
    einen lieben Gruß schickt Ragnhild

  11. Ich hoffe das Beste für Dich – toi toi toi! Wär‘ schön, wenn Du berichtest, ob der Funke auch „real“ übergesprungen ist.

  12. Sollte vorher unbedingt Daniel Glattauers Mail-Roman „Gut gegen Nordwind“ lesen :-)

  13. Ich habe einen netten Mann in Spanien kennengerlernt, wir verbrachten dort zwei wunderbare Tage miteinander.
    Als ich in die Schweiz zurückging hatten wir e mail Kontakt und chatten oft. Einen monat später trafen wir uns in Deutschalnd, wir verbrrachten einen wunderbaren Tag dort.
    Jetzt mailen wir uns schon seit September, aber es scheint wie stehengeblieben zu sein.Es ist unmöglich diese Liebe jemals richtig auszuleben weil die Distanz zu gross ist.
    Schade das ich diesen Mann gerade im Ausland kennengelernt habe.

  14. Ich bin seit etwa zwei Monaten bei einer Partneragentur gemeldet und habe dadurch zahlreiche (an die 30!) Email-Kontakte, die bisher nur in zwei RL-Kontakten gemündet sind, in dieser Woche kommt das dritte Rendezvous. Dabei wäre ich am liebsten schon alle wieder los, denn verliebt hab ich mich in RL ohne diese Agentur.
    In den Mailkontakten, die ich irgendwie nur schwer abbrechen kann – selbst dadurch nicht, indem ich von meiner Liebesbeziehung im RL erzähle! -, gibt es so eine seltsame Mischung aus Vertrautheit und Distanz, mit der man auf die Dauer nicht zurechtkommt, oder besser, ich komme langsam nicht mehr zurecht. Außerdem ist es sehr zeitaufwändig und wäre in RL nicht zu bewerkstelligen. So bin ich hin- und hergerissen zwischen verschiedenen Mailexistenzen und versuche sie allmählich, durch RL-Kontakte nacheinander zu entzaubern – im RL wird man Beziehungen offensichtlich leichter los als in der Emailwelt. Aber vermutlich bin ich noch nicht lange genug dabei!

  15. Ach Sophie … meine grosse Liebe war damals in den USA, ich in der Schweiz, getroffen haben wir uns dort oder dann in meinem Land. Und so manche Wochenende verbrachten wir in London, weil das so etwa in der Mitte lag. Distanz 6000 km (und es gab damals nicht mal Internet und das Telefon war sauteuer!), heute eine Streicheleinheit neben mir. Ich glaub, dass Herzen weder Distanzen noch Hindernisse kennen

  16. Genau diese Probleme kennen doch wohl die meisten, die im Web-Zeitalter aufgewachsen sind. Ich kratze mit meinem Alter gerade mal so an dieser Marke, und kenne sehr wohl noch den Unterschied zwischen gelebter Virtualität und Real Life.
    Wenn ich mir aber heutzutage so die Jugend anschaue, da ist es ja fast schon normal dass man seine/n Angetraute/n in irgendeiner Form im Netz kennengelernt hat.
    Ich ziehe mittlerweile meinen Hut vor Beziehungen, die tatsächlich im virtuellen Leben begonnen haben.
    Manchmal stelle ich mir die Frage wo das ganze noch hinführen soll.
    Dankeschön für diesen herzlich geschriebenen Beitrag!

  17. […] Banal aber wahr erscheint mir der Grundsatz: Je mehr Alltagsnähe, desto größer das Streitpotenzial. Nicht zuletzt deshalb sind heutzutage “Fernbeziehungen” übers Netz so verbreitet, die im wesentlichen vom Austausch von Texten leben. Mit den direkten emotionalen Reaktionen des Gegenübers ist man dabei nicht “in Echtzeit” konfrontiert, sondern kann jede Botschaft und jede Antwort gut überlegen. Es gibt viel Raum für wortreiche Erklärungen des eigenen So-Seins, die das Gegenüber wiederum als Zeichen großer “Nähe” auffassen kann. Zudem projiziert man unweigerlich alles Gute und Ersehnte aufs Gegenüber, so lange da nichts kommt, was der geliebten Illusion widerspricht. Immer wieder lese ich in anderen Blogs, wie tief und nahe und berührend solche Beziehungen erlebt werden und selbst erlebt hab’ ich das natürlich auch. Allerdings wurde mir dann doch irgendwann klar, dass es sich hier mehr um “gelebte Literatur” als geliebte Realität handelt – aber das ist eine andere Geschichte. […]

  18. […] und betrügen, sich selbst und andere, aber davon abgesehen, jeder wie er will. ich hab jetzt LIEBE PER EMAIL gefunden und es ist sehr interessant zu lesen. Ich kann doch niemanden lieben mit dem ich nur mails […]