Claudia am 18. September 2004 —

Im Griff des Virus – droht „sozusagen“ das Ende der Kommunikation?

Ich habe schon gar keine Lust mehr, mit meinen Mitmenschen in Sprechkontakt zu treten: spätestens im zweiten Satz werde ich erwischt, sozusagen aufgestört durch den ekelhaften Sprachvirus, von dem die deutschsprachige Bevölkerung befallen, sozusagen restlos infiziert ist. Sagt tatsächlich mal jemand einen ganzen Satz ohne das UNWORT, kann ich sozusagen sicher sein, dass es im nächsten dann gleich zwei oder sogar dreimal vorkommt. Niemand scheint es zu stören, dass die Rede mit sozusagen affenartiger Geschwindigkeit zum Radebrechen und Stottern verkommt. Ja, ich wage, es tatsächlich zu sagen, es ist eine Krankheit, sozusagen eine Epidemie!

Nachdem die neue Rechtschreibung das intuitive richtig Schreiben sozusagen „wegrasiert“ hat und niemand mehr sicher weiß, was groß und klein, auseinander und zusammen geschrieben wird, greift der neue Virus nun die Lautsprache an, die bisher noch problemlos funktioniert hat.

Woher er kommt? Ich weiß es nicht, aber wenn ich den Fernseher anschalte, was ich aus sozusagen guten Gründen selten tue, springt mich der Virus sofort aus allen Kanälen an. Sobald jemand nicht direkt vom Blatt oder Lauftext abliest, ist alles zu spät. Moderatoren und Gäste, Politiker und empörte Montagsdemonstranten, Interviewer und Befragte – sie alle wollen etwas sagen, wollen es SO sagen, aber nicht wirklich (auch so eine Krampf-Wendung!) darauf festgenagelt werden. Selbst Menschen, die ein gutes Sprachgefühl haben und komplett überflüssige Füllwörter nicht über die Lippen bringen, entgehen der Krankheit nicht. Sie verwenden das Unwort KORREKT, aber inflationär, spicken ihre Rede mit Vergleichen und Metaphern, als gelte es, einen Lyrik-Preis zu gewinnen, doch in Wahrheit hält nur der Virus sie fest im Griff. Es gibt keine Rettung vor Ansteckung, auch nicht für den, der sich „der Gesellschaft“ weitgehend entzieht oder sie in Grund und Boden kritisiert. Vielleicht haben Gehörlose eine echte Chance, ich beneide sie!

*

Ein Virus kann nur einen Wirtskörper befallen, dessen Immunsystem es nicht mehr schafft, den Eindringling abzuwehren. Erschreckend, dass sich praktisch niemand mehr als immun erweist! Vom Harz-Opfer bis zum Top-Manager, vom C4-Professor bis zum Parkbank-Penner: alle sind infiziert, wagen es nicht mehr, frischfröhlich etwas zu meinen und auch zu sagen, müssen trotzdem etwas sagen und tun es sozusagen „als ob“. Der kommunikative Stress der Informationsgesellschaft hat uns geschwächt und ausgelaugt: stets informiert sein (=mal googeln…), stets im Stande sein, zu allem und jedem „Stellung zu nehmen“, immer am Ball, immer auf Draht. Der real existierende Mitmensch wird zum Angstgegner: steht er doch einfach so da und fordert Antwort, will meine „Sicht der Dinge“, aber die Dinge sind derart viele geworden, dass ich mit dem Meinen gar nicht mehr nach komme.

Was folgt, ist ein innerer Zusammenbruch. Das Individuum muss erkennen, dass das traditionelle Denken nicht mehr funktioniert: Eine Sache von allen Seiten betrachten, sie analysieren, bewerten und Schlüsse ziehen, die orientierend wirken in Rede und Handlung – wer hätte denn dafür noch Zeit! Besonders betroffen sind Politiker, die man bereits früh um sechs aus den Federn reißt, damit sie Äußerungen anderer kommentieren, die es noch zeitiger erwischt hat. Das ist halt die Kehrseite der Macht, mögen wir meinen und uns auf der sicheren Seite wähnen: Irrtum, wir werden fortwährend kommunikativ angegriffen! Der Mann an der Wohnungstür, der niemals gleich zugibt, für die Firma ARCOR unterwegs zu sein, will meine Telefonrechnungen sehen und prüfen, ob ich nicht zuviel bezahle. Meine Zahnärztin schaut mit gerunzelter Stirn auf den Abdruck, den sie gerade genommen hat und meint: „Da werden Sie sich aber von einigen Zähnen trennen müssen. Wir wollen doch eine langfristige Lösung!“. Die Süddeutsche Klassenlotterie ruft an und fragt, ob ich Günther Jauch kenne, und die Süddeutsche Zeitung will nach zwei Wochen Geschenk-Abo wissen, wie ich das Blatt finde. „Zu dick“, sage ich, „nicht zu schaffen. Aber gut, dass es sie gibt!“

Um in der Welt zu bestehen, muss ich Bescheid wissen, die Kasse im Auge des Anderen klingeln sehen, muss wissen, was droht, und darf mich nicht bequatschen lassen, jetzt „noch mehr zu sparen“. Wenn ich nebenbei noch Wert darauf lege, zu den Guten zu gehören, bin ich zehntausendfach in der Pflicht, das Richtige zu meinen und auch zu sagen: Rechtzeitig zu sagen, nicht erst dann, wenn alles zu spät ist, wie die neuen Kämpfer für die alte Schreibung.

Aber was ist richtig? Was ist GUT? In Thailand ist es der Regierung endlich gelungen, das großflächige Abholzen der Wälder zu stoppen: Natur wird geschützt und die Arbeitselefanten müssen nicht mehr schuften. Gut so? Was die Umweltschützerin und den Tierfreund freut, belastet das soziale Gewissen: Hunderttausende sind arbeitslos, auch die Elefanten. Die ziehen jetzt mit ihren Besitzern bettelnd durchs nächtliche Bangkok, von niemandem gefordert, geschweige denn gefördert – gut so?

Ich weiß, dass ich nichts weiß – griechische Philosophen konnten mit solchen Weisheiten noch punkten, wir dagegen wissen, dass wir wissen könnten und sollten (…mal googeln), aber nie genug Zeit haben werden, einer Sache auf den Grund zu gehen. Schlimmer noch: es gibt gar keinen Grund, belehren uns Denker und Weise unserer Zeit. Der Beobachter verändert das Beobachtete, nach meinem Glauben wird mir geschehen, das Ding an sich ist sowieso unerkennbar, Überzeugungen schaffen Erfahrungen – und wie bitte soll ich mich noch trauen, etwas zu sagen, wenn jemand fragt?

„Sie kennen doch Günther Jauch?“ So eine Frage will mich mit dem guten Gefühl ködern, das entsteht, wenn ich einfach mal „ja“ sagen kann, ein schlichtes JA ohne wenn und aber. Aber es funktioniert nicht, die Absicht ist zu offenkundig und überhaupt: KENNE ich denn Günther Jauch? Ich kenne ihn sozusagen nur aus dem Fernsehen und zappe dann immer gleich weiter. Gilt das?

*

Gibt es Rettung? Eine Heilung des Immunsystems, auf dass es dem Virus sozusagen den Garaus mache? Ich zucke jedes Mal zusammen, wenn ich mich dabei erwische, wie mir das schreckliche Füllsel über die Lippen kommt, sich sozusagen den Raum erzwingt, den ich ihm freiwillig nicht geben will. Wiederstand scheint zwecklos: ich werde assimiliert. Heute morgen fand ich im Artikel eines Autors, den ich wegen seiner ansonsten glasklaren genauen Sprache schätze, viermal „sozusagen“! Es greift also schon auf Geschriebenes über – was können wir tun?

Vielleicht hat ja Thomas Gottschalk mit seinem „Ich will es gar nicht wissen, sondern nur weitersagen!“ hellsichtig den Weg aus der Krankheit gewiesen. Denken, verstehen wollen, einen Sinn sehen und diesen verwirklichen – weg damit auf den Müllhaufen der Geschichte! Wer diesen Ballast des Humanen, diese Ausschwitzung einer hypertrophierten Großhirnrinde restlos entsorgt hat, kann aufatmen und locker auf Knopfdruck sprechen. Der kann ALLES sagen, kann Mitmensch und Medien bis zum Abwinken mit klaren Antworten beliefern, gerade so, wie sie in den Kopf einfallen. Wer wird denn Ordnung schaffen wollen, wo das Chaos regiert? Ich gebe zu, diese Lösung gefällt mir nicht. Zu sehr bin ich dem alten Denken verhaftet, das unverdrossen an der Suche nach dem Guten, Wahren und Schönen klebt. Doch die andere Möglichkeit, dem Virus den Boden zu entziehen, ist fast noch verstörender: wir könnten schweigen, einfach nichts mehr sagen, sämtliche Meinungs- und Kommunikationsfronten dauerhaft bestreiken. Still sein, in die Sonne blinzeln, ein paar Schritte gehen…

Eine furchtbare Vision, nicht? Egal – ich probier das jetzt einfach mal aus, halte den Mund, verlasse die Tastatur und geh‘ in die Sauna: gemeinsam schweigen ist besser als alleine, da bin ich mir sozusagen fast sicher.

Diskussion

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4 Kommentare zu „Im Griff des Virus – droht „sozusagen“ das Ende der Kommunikation?“.

  1. ENDLICH !!!! Ich dachte, ich wäre ganz alleine mit meiner Meinung! Endlich ist mir bzgl. dieses Gehirnfrei-Unwortes „sozusagen“ von der Seele geschrieben worden! Vielen Dank!

  2. Eigentlich, im Grunde genommen, irgendwie, ein bisschen, irgendwo ein Stückweit auch, ich sag mal so, wenn man so will, ich würde sagen, sozusagen nicht ganz von der Hand zu weisen.

  3. Wow, was konnte ich doch früher noch spritzig-flüssige „Rants“ schreiben! Leider hat sich das geändert, seit Gender und Sprache so ein heftiges Thema ist.
    Damals – 2004! – hab ich an sowas wie „generisches Maskulinum“ noch gar nicht gedacht.

  4. ingo dichtete..
    bei seinem Kumpel auf
    https://www.youtube.com/watch?v=eycpOuZ3r6U

    there is much more than „less“ in ur ballade:)
    i just listened and, ..
    at the part from 2:59 i suddenly see a great gang of wild dolphins,
    playing their games in the rough wide ocean:)

    they jump an laugh with unrestrained humor
    and let me know that life is a tale.

    a tale told by wind and rain
    sometimes sunshine,
    Mostly it is loss which teaches us
    about the worth of things.

    so i listen,
    see the clouds
    and tearless memories
    gain my soul.

    thx
    for the ballade:)