Claudia am 15. April 2004 —

Allein und undefiniert

In elektronischen Verschaltungen gibt es Zustände, die nennt man „undefiniert“: Wenn nämlich nicht vorgegeben und also auch nicht voraussehbar ist, ob sie im konkreten Einsatz nun zu „null“ oder „eins“ werden. Mich hat das verwundert, als ich es in meiner Umschulung/Weiterbildung zur EDV-Fachkraft erfuhr. Wozu ist das gut? Wofür braucht es unklare Verhältnisse in einer technischen Umgebung, die doch gerade dazu da ist, die Abläufe zu automatisieren, sie also vollständig in den Griff zu bekommen?

So richtig verstanden hab‘ ich es letztlich nicht, aber ich erinnere mich manchmal daran, wenn ich allein bin. Vom Aufstehen bis zum Ins-Bett-Gehen kein Kontakt zu irgend jemandem – je älter ich werde, desto paradiesischer erscheint mir dieses Alleinsein. Ob ich maile oder Mails lese, entscheide ich dann ganz nach Laune, fühle mich in jedem Moment frei, zu tun oder zu lassen, was mir gerade in den Sinn kommt, was für ein göttlicher Zustand! Alle meine Freunde wissen, dass ich nicht gern telefoniere, dass ich dieses fordernde Echtzeit-Medium fast nur zum Austausch wichtiger, zeitkritischer Infos benutze – und so kann ich tatsächlich das „Einsiedeln“ praktizieren, mitten im normalen Leben, zumindest am Wochenende, wenn ich nicht für Auftraggeber erreichbar sein muss.

Was ist so schön daran? Manchmal sinne ich darüber nach, während die Stunden verrinnen, Stunden, die mich immer weiter vom gesellschaftlichen Dasein entfernen, mich aus allen Verstrickungen heraus heben, von sämtlichen Erwartungen Anderer befreien. Was bin ich ohne den Mitmenschen? DAS erlebe ich dann und empfinde Glück: bin nicht mehr JEMAND, bin nicht in soziales Sollen und Wollen eingebunden, bin nichts Bestimmtes – bin undefiniert!

Die Webdesignerin, die Beraterin, die Kursleiterin, das Mitglied der Coachingrunde Berlin, die Schreibende, die Freundin, die Schwester und Tochter – all das ist weg, fällt von mir ab wie begrenzende Schalen, die mich in Formen pressen: durchaus gute und nützliche, manchmal lustvolle und bereichernde Formen – aber durchweg nicht das, was ich tatsächlich bin: undefiniert. Wenn ich alleine bin, kehre ich zu diesem formlosen Selbst zurück und genieße das spontane So-Sein, aus dem all diese Formen geboren werden, wenn ich mit Anderen in Kontakt trete.

Früher…

Es war nicht immer so, ich erinnere mich gut. Früher konnte und wollte ich nicht allein sein, langweilte mich dabei, fühlte mich unruhig und unausgefüllt, suchte ständig Kontakt zu irgend jemandem, besuchte dann Freunde, saß dort endlose Stunden herum und redete und redete: Erst im Angesicht des Anderen spürte ich mich, fühlte ich mich richtig als Mensch, halbwegs vollständig und handlungsfähig. Alleinsein war Angst-besetzt, obwohl ich das nie zugegeben hätte, nicht einmal vor mir selbst.

Dann die vielen Jahre mit M., meinem philosophischen Lebensgefährten. Wand an Wand, jederzeit konnte ich rüber gehen und plaudern, musste aber auch stets damit rechnen, dass ER herein kam (was aber eher selten geschah, er war immer schon gerne für sich). Im Grunde eine optimale Situation für jemanden, der nicht allein sein mag: In meinem Wohn-Schlaf-Arbeitszimmer war ich für mich, doch immer mit der Möglichkeit, in Kontakt zu treten. Ich war zufrieden, aber im Lauf der Zeit fiel mir doch auf, wie sehr wir uns einschränkten, um uns gegenseitig nicht zu nerven: kein Radio, TV nur zusammen, ein Leben ohne Musik, und nur sehr seltene Besuche. Anders wäre diese Nähe nicht möglich gewesen, nicht für uns beide, die wir jeder ein eigenes Leben lebten. Und – das merkte ich aber erst nach meinem Auszug – diese extrem rücksichtsvolle Form der Zweisamkeit hat mich fürs Alleinsein geöffnet.

Als ich dann Anfang 2003 in meine eigene Wohnung zog, zum ersten Mal seit zwölf Jahren, empfand ich dieses gänzlich neue Verhältnis zum Mit-mir-und-sonst-niemand-Sein wider Erwarten als sehr sehr angenehm: Was für eine Ruhe und Freiheit! Keinerlei „gemeinsame Gewohnheiten“ strukturieren meinen Tag, ich muss niemandem etwas erklären, wenn ich von diesen Gewohnheiten abweiche. Muss nicht sagen, wo ich hingehe und wann ich zurück komme und kann völlig verrückte Dinge tun – z.B. auch mal tagsüber schlafen, fünf mal täglich kochen oder auch gar nichts essen, laut oder still sein, Unordnung entstehen lassen und nachts um zwölf aufräumen, 15 Stunden am PC sitzen oder ihn, z.B. Samstags, gar nicht erst einschalten. Oder auch mal nichts tun, gar nichts. Niemand schaut mir zu und kommentiert, hinterfragt, fordert mich zu Erläuterungen heraus, es ist eine völlig andere Seinsweise als das ständige Miteinander – frei, entspannt, spontan, friedlich ver-rückt!

Während ich so schreibend den Freuden des Alleinseins nachspüre, merke ich, dass ich nur an der Oberfläche kratze: all das sind Äußerlichkeiten, treffen nicht den Kern. Die Routinen des Zusammenlebens hab ich schließlich sehr geschätzt, das Kochen und Essen zu bestimmten Zeiten, den Spaziergang, zu dem ich mich alleine eher schwer aufraffe – ja, in meinem Solo-Wohnen ringe ich eigentlich ständig um Selbstdisziplin und gewisse Strukturierungen meines Tages: abgesehen von den Kunden und Kursteilnehmern ist da ja nichts und niemand, was mich zwingt. Alles kommt aus mir, oder eben nicht.

Und doch: es ist gut, wie es ist. Selbst wenn ich 1000 Mal zum eigenen Ärger der Trägheit verfalle, wieder einmal nicht das schaffe, was ich mir vorgenommen habe, so weiß ich doch genau darüber Bescheid, dass ICH es bin, die nun mal so ist, im Guten wie im Schlechten. Und wenn ich morgen beschließe, jetzt ernsthaft einen Plan zu machen: eine Woche lang ausprobieren, wie sich ein anderer Rhythmus von Schlafen und Wachen, Arbeit und Freizeit, drinnen und Draußen-Sein wohl anfühlen mag – dann hindert mich nichts, das sofort in die Tat umzusetzen. Das Leben hat auf diese Weise etwas Abenteuerliches, das ich – man merkt es gewiss – schlecht in Worte fassen kann.

Vielleicht ist das Wesentliche am alleine Leben, nicht auf bestimmte Seinsweisen festgenagelt zu werden, wie es ganz automatisch geschieht, wenn ich mit jemandem sehr eng zusammen bin. Zwangsläufig entstehen Erwartungen, ich möge immer so sein, wie ich gestern war – und schon bin ich in der Situation, jedes Anders-Sein rechtfertigen und erklären zu sollen. Bedeutender noch: Ich neige dazu, das Bild, das der Andere von mir hat, einfach zu übernehmen: aha, so bin ich! Wenn ich auf ihn/auf sie so wirke, muss ich wohl SO sein. Und schon bin ich dabei, mich (durchaus unbewusst) selber einzuschränken: Jemand, der SO ist, handelt auch SO, denkt SO, und nicht etwa anders.

Nun werde ich bald fünfzig, hatte also schon genügend Gelegenheit, zu bemerken: Ich bin bei jedem/für jeden eine Andere. Jeder Dialog und jede Interaktion erschaffen mich neu, das Bild, das beim Anderen entsteht, kann mein Selbstbild bereichern und verändern, aber ich tue gut daran, nicht zu vergessen, dass es sich um bloße Bilder handelt: statische Momentaufnahmen von Aspekten des Daseins und Soseins, auf die ich mich besser nicht festnagele.

Alleinsein bedeutet vor diesem Hintergrund ein Loslassen aller Bilder und Formen, ein Bad in der Leere, ein Löschen sämtlicher Speicher. Allein bin ich nichts Bestimmtes und finde zurück zur Möglichkeit, alles zu sein – zumindest potenziell. Wie angenehm, so wunderbar „undefiniert“!

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