Claudia am 03. April 2003 —

Vater UND Mutter ehren

Viele Lehren hat mir mein Vater mit auf den Weg gegeben. Zumindest hat er sich nach Kräften bemüht, mir etwas aus seiner Lebenserfahrung zu vermitteln, manchmal regelrecht einzutrichtern. Aus dem Stand fallen mir jede Menge Sprüche ein:

  • Kind, denk an deine Rente!
  • Schlag doch zurück, wenn du angegriffen wirst!
  • Männer sind Schweine und wollen immer nur das eine.
  • Vergiss den Gummi nicht!
  • Geld regiert die Welt.
  • Wer sich für andere engagiert, wird ausgenutzt.
  • Lass dir nichts gefallen!
  • Beschwer dich an der richtigen Stelle!
  • Um sein Recht muss man kämpfen!
  • Nichts ist umsonst!

„Niemals Aktien! Wenn, dann nur festverzinsliche Wertpapiere“, sagte er noch auf dem Sterbebett, als ich mir gerade überlegte, vielleicht doch ein paar Internet-Werte zu erstehen.

Bald war ich froh, es nicht getan zu haben. Nicht, weil ER das gesagt hatte, sondern weil mir Geldspekulationen zutiefst fremd sind. Diese Fremdheit ist allerdings auch schon eine Folge seiner „Geld-regiert-die-Welt“-Indoktrination. Diese, wie auch die meisten seiner anderen „Weisheiten“, hab‘ ich nie geglaubt, sondern immer auf Verdacht erst mal das Gegenteil für wahr gehalten. So ein Idiot konnte einfach nicht recht haben: Als cholerischer Quartalsalkoholiker war er in meiner Kindheit und Jugend der Terrorist der Familie, der Hass-Gegner schlechthin. Mein erstes Ziel im Leben war, aus seinem Machtbereich endlich zu entkommen und ich setzte es sofort um, sobald die Gesetzeslage es gestattete.

Wie sehr ich da bereits „Vatertochter“ war, wie weit mein Innenleben und meine Haltung zur Welt durch ihn, bzw. den Widerstand gegen ihn geformt worden war, realisierte ich erst viel später. Aber das ist eine andere Geschichte. Entgegen allen Erwartungen eine mit Happy End: Noch bevor er starb, liebte ich ihn. In aller Freiheit. Und half ihm per Telefon, seine „Beschwerden an den Bundeskanzler“ auf seiner Festplatte wieder zu finden, von deren Dasein und Struktur er keinerlei Vorstellung hatte.

Ohne viele Worte

Meine Mutter sagte nicht viel. Wie auch, ER redete ja immer und erzählte, wie es in der Welt zugeht und was man davon zu halten hat. Sie tat ihr bestes, um uns drei Schwestern vor seinen hässlichsten Seiten zu beschützen. Allerdings war ihre Macht beschränkt: War er besoffen genug, dass es ihm egal war, was sie von ihm dachte, weckte er uns nachts um drei auf, wollte uns mit halben Brathähnchen beglücken und gemeinsam noch einen drauf machen. Er wurde dann stinksauer, wenn das nicht so abging, wie er es sich wünschte – und wir zitterten vor Angst angesichts seiner Unberechenbarkeit. Auch, wenn er uns nicht aus den Betten holte, sondern nur durch die Wohnung polterte, laut singend: „Auf auf Matrosen, streckt eure müden Leiber! Die ganze Pier steht voller nackter Weiber!“, grübelten wir nicht über den Sinn dieses uns unverständlichen Liedes, sondern hofften nur inständig, er möge nicht ins Kinderzimmer kommen, nicht schon wieder.

Meine Mutter sagte also nicht viel. Ich liebte sie (und liebe sie heute noch), ohne Frage. Sie wirkte nicht durch Worte, sondern durch ihr Handeln, ihr Da-Sein und So-Sein. „Als Frau“ konnte sie mir allerdings kein Vorbild sein: So einen Kotzbrocken wie meinen Vater jahrzehntelang ertragen? Ich konnte es nicht verstehen und war mir ganz sicher, so etwas nie, nie, niemals im Leben auch nur ansatzweise in Betracht zu ziehen. Neben der Liebe war da also ein Vorwurf, einer der mir als „Vorwurf“ gar nicht bewusst wurde. Dass es damals in den 50ern und frühen 60gern noch keine „allein erziehenden Mütter“ gab und sie einfach keine Alternative für sich und uns sah, konnte ich als Kind nicht begreifen. Ich sah nur ihre Machtlosigkeit, manchmal auch ihre Verachtung, wenn ER gerade mal wieder „neben dran“ war. Eine schweigende Verachtung ohne für mich sichtbare Konsequenzen. Meine Welt war nicht in Ordnung.

Vaters Sprüche, selbst wenn ich sie mir mal anhörte, waren leider wenig hilfreich in Situationen, in denen es mir richtig dreckig ging. Die Angst vor der Kinderbande im Hof, später die Schwierigkeiten, in den pubertären Peer-Groups akzeptiert zu werden, bei alledem konnte er mir mit seinen Wehr-dich-doch-Sprüchen nicht helfen, ja, er machte es noch schlimmer, denn ich fühlte mich einmal mehr als unfähige Versagerin: ängstlich, schwach, und doch so begierig, dazu zu gehören.

Einsamkeit

Es gab niemanden, an dem ich mich wirklich orientieren konnte, von dem ich hätte lernen können, wie man sich in der Welt zu Recht findet. Wie ich es anstellen muss, dass „die Anderen“ mich mögen; wie ich mich verhalten sollte, wenn mein Vater besoffen auf mich einredete oder ausrastete, weil ich eine Mathe-Aufgabe nicht erklären konnte (ich war GUT in der Schule, aber für ihn reichte es nie). Was tun, wenn mich die Jungs auf dem Hof in ein Gebüsch schleppten und abtasteten? Was darüber denken? Da ich mit niemandem wirklich reden konnte, versuchte ich es bereitwillig sogar mit „Gott“, der mir als Ansprechpartner im Kommunionsunterricht anempfohlen wurde – ohne Erfolg. Gott antwortete nicht, obwohl ich ihn dringend gebraucht hätte, also gab ich den Glauben auf.

Meine einzige Zuflucht waren Bücher. Über Pipi Langstrumpf, griechische Heldensagen, nordische Märchen, englische Krimis, Karl Mai und andere Abenteuerschinken: ich verschlang die halbe Bibliothek und niemand redete mir rein, was ich da lesen durfte und was nicht. Ich orientierte mich an der „kleinen Dot“ und an Winnetou, liebte Tierbücher über alles, und in der beginnenden Pubertät las ich Geschichten von Mädchen, die nicht ausgehen und sich nicht schminken durften – genau wie ich.

So einsam wie als Kind war ich später niemals mehr. Im nachhinein kann ich sehen, dass mich das in gewisser Weise stark machte: Wenn man das Schlimmste schon hinter sich hat, ist man nicht mehr so sehr erpressbar. Auch, dass mein erwachendes Denkvermögen letztlich ganz allein auf sich selbst gestellt blieb, weil die sich üblicherweise anbietenden Erziehergestalten (Eltern, Großeltern, Lehrer, Pfarrer, „Freunde“) mir kein Vertrauen einflößten oder machtlos waren, hat mich ganz gut auf eine Welt vorbereitet, in der nichts sicher ist.

Wenn ich all das so erzähle, wundert es mich selbst, dass dieser Kindheit ein spannendes Leben folgte, in dem ich mich immer besser zu Recht fand. In dem ich es schaffte, mich niemals lange zu verbiegen, weder in einer Beziehung, noch in einer Arbeit, noch zugunsten einer Religion, einer politischen oder spirituellen Lehre. Natürlich heiratete ich nicht – kein Wunder bei dem Beispiel! Ich probierte alles aus, worauf ich Lust hatte, und ich ging, wenn es nur noch Leiden und Elend war. Klar, ich hatte auch meine selbst geschaffenen Sackgassen, in denen ich recht lange Zeit brauchte, um endlich die Kurve zu kriegen – aber das war schon zu einer Zeit, wo man für sein Gesicht selbst verantwortlich ist.

Wechsel der Blickrichtung

Eine positive Kraft trägt mich durch alle Tiefen. Niemand kann mich „im Kern“ wirklich beschädigen. Woher kommt das? Wem danke ich das? Ich will jetzt nicht darauf hinaus, dass es diesen „Kern“ gar nicht gibt, dass da „nichts“ ist, wenn man die Zwiebel des „Ich“ immer weiter schält und immer neu erkennt: auch diese Schale bin nicht ICH. Diese Erkenntnis selbst ist ja, psychologisch gesehen, auch erstmal eine „Tiefe“. Das verkraften zu können, muss jemand angelegt haben – wie komme ich dazu? Warum fühle ich „innen“ keine Angst?

Was die Welt da „draußen“ angeht, hat mein Vater mich geformt, im Schlechten wie im Guten – ob ich nun seine Lehren ablehnte oder annahm. Und je besser ich mich in der Welt (trotzdem, gegen ihn, anders!) zu Recht fand, desto friedlicher wurde unser Verhältnis – bis ich sehen konnte, was ihm in seinem Leben durch sein So-und-nicht-anders-Sein alles entgangen war. Geld regiert die Welt? Er war lebenslänglich unglücklich, nicht genug zu haben, raffte sich andrerseits aber auch niemals auf, seinen ÖÖffentlichen-Dienst-Job an den Nagel zu hängen, um welches zu verdienen. BAT 4b, der Karrieregipfel. Man darf niemandem vertrauen? Er hatte keine wirklichen Freunde. Ebenso verhielt es sich mit seinen anderen Weisheiten: er zementierte damit sein eigenes Unglück, seine Mangelsituationen, seine Unzufriedenheit. Auf einmal spürte ich Mitgefühl, freute mich, dass es ihm in seinen letzten Jahren nicht schlecht ging, als er mit dem Wohnmobil und seiner zweiten und dann dritten Frau durch Europa kurvte. Ja, auf einmal konnte ich auch sehen, was ich alles von ihm gelernt hatte – weder waren es nur Worte, noch war alles nur Schrott. Das „Lass dir nichts gefallen, beschwer dich an der richtigen Stelle! Um sein Recht muss man kämpfen!“ hab ich auf meine Weise schon gebrauchen können – und manches mehr.

All das ist jedoch nur „außen“. Um mit dem Außen konstruktiv umzugehen, muss etwas von innen dazu kommen. Etwas, das bleibt, wenn die ganze Welt in 1000 Stücke zerspringt. Es ist mir unmöglich, dafür Worte zu finden, ich glaube, es ist nicht „sagbar“, man kann es nur fühlen.

Um es fühlen zu können, braucht es aber einen Hinweis. Jemanden, der die Aufmerksamkeit in die richtige Richtung lenkt: nach innen. Und das möglichst nicht erst mit 40 in der Selbsterfahrungsgruppe oder beim Meditationskurs, sondern früher. Sehr viel früher.

Spät, aber nicht zu spät

Erst jetzt kann die Vatertochter, die ich immer gewesen bin, sehen, dass DAS von meiner Mutter kommt. Sie, die Machtlose, hat nicht viel gesagt. Sie war liebevolle Zuflucht, konnte aber „da draußen“ nicht helfen. Und doch: ETWAS hat sie gesagt, immer, wenn es mir dreckig ging, wenn ich Angst vor den Anderen hatte und wenn ich nicht wusste, was tun: „Kümmer‘ dich nicht um die Anderen, mach, was du für richtig hältst!“. Egal, um was es ging, niemals hat sie versucht, mir etwas vorzugeben, sondern mich immer darauf hingewiesen, ich solle „nach mir selber gehen“. Für sie war es kein Problem, dass ich das Jura-Studium abbrach – vielleicht machte sie sich Sorgen, sicher. Aber nie hätte sie mir gesagt, es sei falsch! Ich war ja „nach mir selber“ gegangen.

So komme ich erst spät dazu, meiner Mutter zu danken. Sie hat darauf verzichtet, mir konkrete Vorstellungen über das richtige Leben einzupflanzen und statt dessen dem „ich selbst“ eine Chance gegeben. Hat so einen Samen in meine Kinderseele gesät für die Zeit, wenn „die Welt“ und die Kämpfe da draußen nicht mehr das spannendste Thema sind. Und mir doch auch Vertrauen vermittelt, in diesen Kämpfen nicht zu verzweifeln.

Das ist keine Leistung, mag man vielleicht denken. SO hat sie vermutlich nicht groß darüber nachgedacht, es war kein wohl kalkuliertes „Erziehungshandeln“. Sie war einfach selber so, sie kannte es nicht anders.

So ist das Vater-Denken: Nur bewusste Leistung zählt, für das bloße Dasein und So-Sein darf man keine Liebe erwarten. Dieses Denken treibt die Liebe aus der Welt aus und ersetzt sie durch Bonuspunkte.

Ich bin froh, dass ich es heute besser weiß. Dass ich auch anders fühlen kann. Eben dank meiner Mutter, der ich diesen Beitrag aus ganzem Herzen widme.

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Ein Kommentar zu „Vater UND Mutter ehren“.

  1. […] Ich wurde – als Kleinste, Jüngste, Zugereiste – von einer Kinderbande gemobbt und war so einsam und verzweifelt, wie man nur sein kann. Damals lernte ich, dass all die Geschichten von Jesus und Gott nicht […]