Claudia am 26. Februar 2003 —

Nach dem GAU

Wer glaubt, ich sei vom Erdboden verschwunden, weil mir allzu langes Fasten nicht bekommen wäre, irrt: der gemeine Computer-Gau hat mich ereilt, und zwar am Dienstag, den 18.Februar. Ich schaltete morgens wie immer das Gerät an, nichts Böses vermutend, denn am Vorabend war ja noch alles ok gewesen. Doch ein längerer Blick auf den schwarzen Screen bringt das kalte Grausen: Schutzverletzung!!! Starten im „abgesicherten Modus“ wird empfohlen, und noch während ich überlegte, ob ich das Angebot annehmen soll, versuchte Windows, sich zu laden und brach erneut ab: Schutzverletzung am Modul GDI.EXE. Starten Sie neu!

Tja, der PC ließ sich aber gar nicht normal ausschalten, ich musste ihm echt den Strom abwürgen, um es aufs Neue zu versuchen. Wieder und wieder schaltete ich ihn ein, und ebenso gleichmäßig landete ich in derselben Katastrophe. Nur die Adressen der Schutzverletzungen, die angeblich irgendwie kaputten Dateien und Module, änderten sich ständig. Sah gar nicht gut aus!

Ich rief einen lieben Freund zu Hilfe, ein ausgesprochen kundiger Windows-Experte mit viel Erfahrung in Anwenderschulung, Diagnose und Betreuung ganzer Netzwerke. Zwar stand er gerade selber im Stress und musste EIGENTLICH einen eng terminierten Textauftrag abarbeiten, kam aber zu meiner großen Erleichterung trotzdem nachmittags vorbei, startete den PC, landete bei der Schutzverletzung, wählte „schrittweise Eingabe“ und erlebte selber, wie Windows sich beim Starten immer wieder aufhängte. Mehr noch: Er fand per DOS-Befehl (=alter Betriebssystemkern aus der Vor-Windows-Zeit) auch eine Festplatte mehr als vorher, es gab jetzt C, D UND F!

Aha! Mir war jetzt klar, dass es nicht nur um eine kurze, mit ein paar Mausklicks behebbare Störung ging, sondern um eine großkalibrige Nerverei. die sich zu Stunden und Tagen dehnen würde: in den Monitor starren, immer wieder „etwas Neues probieren“, mit CDs und Disketten herumfuhrwerken – natürlich ohne Netzanschluß, also darauf angewiesen, alles Nötige physisch am Ort zu haben: die Mega-Katastrophe!

Andrerseits: D. war wieder mal da und wir hatten uns viel zu erzählen. Als erstes berichtete er mir, dass er nur dann Zeit habe, diesen Schlamassel zu bereinigen, wenn ich dafür Teile seiner Text-Arbeit übernähme. Aber sicher doch, mal was anderes! Schließlich sollte er wegen mir keine Einkommensverluste erleiden, wenn er schon so lieb war, mein renitentes Gerät wieder befrieden zu wollen. Also textete ich in den nächsten drei Tagen unterhaltsame Quizfragen zum Thema „Männer & Frauen“, und zwar nicht mit Winword, sondern ich schrieb sie mit der Hand auf Papier. Eine echte Erholung vom Alltag, geistig und körperlich! Wen hat der Märchenprinz denn nun wach geküsst? Dornröschen, Rotkäppchen oder Rumpelstilzchen??? Wie entfernen sich die meisten Frauen überflüssige Haare? Wann gilt eine Ehe als zerrüttet? Was war das „Kranzgeld“ und das „Jus primae noctis?“ Und was trug SIE in den 50ern so Auffälliges unterm Rock? Das sind doch mal lebensnahe Fragen, ich hatte richtig Spaß dabei, außerdem musste ich nicht dauernd aufrecht vor einem Monitor sitzen – wie angenehm.

Starten Sie neu!

Drei Tage gingen ins Land und immer werkte D. einige Stunden am Gerät: prüfte und analysierte, scannte und kopierte, vereinigte die softwäremäßig zu mehreren Partitionen zerhackte Festplatte C: wieder zu einer einzigen Platte, rettete meine dort befindlichen Daten, deren Sicherung auf D: leider nicht mehr ganz frisch war; sicherte auch mein Mailprogramm mit sämtlichen Kundenkontakten der letzten Jahre, und mühte sich schließlich redlich, Windows neu zu installieren – leider nur mit geringem Erfolg. Am Abend des zweiten Tages war ich schon alleine geblieben, um den Rest noch selber drauf zu spielen, als der Bildschirm schon nach der zweiten Installation einfror, ohne dass ich irgend etwas „Schlimmes“ getan hätte. Ich startete neu, kam aber nicht mehr weit: „SCHUTZVERLETZUNG am Modul User.exe, starten Sie neu!“.

Aha. Ich vermutete jetzt einen Hardwarefehler. Glücklicherweise war diesmal die Festplatte nicht wieder zerlegt, doch gelang es nun auch meinem unermüdlichen Helfer nicht mehr, Windows zu installieren. Es wollte einfach nicht. Also noch mal ein Virensuchprogramm über die Platten gucken lassen, ob sich vielleicht im Boot-Sektor der Teufel selber verbirgt: kryptische Fehlermeldungen, Speicherprobleme – ich war ja schon zufrieden, dass meine Daten sicher auf D: lagen und schlug nun vor, das Teil jetzt im Laden abzugeben, wo die Hardwarebastler ihre Künste üben. Wenn mal so was ist, gehe ich immer schon zu *INDAT: morgens bringen, abends holen, manchmal geht’s sogar noch viel schneller.

Diesmal war es allerdings Freitagabend – ich könne ihn Samstag ja gern vorbei bringen, meinte der freundliche Servicemensch. aber da würden sie höchstens noch mal von außen drauf gucken, weil Samstags kein Techniker da sei. Es wurde also Montag, meine PC-freie Zeit begann, sich wie ein richtiger Urlaub anzufühlen, ich verzichtete sogar eineinhalb Tage auf den Besuch im Internet-Café, um in die Mailboxen zu sehen. Die drei Kunden, die aktuell etwas von mir wollen, hatten mir gottlob ihr Mitgefühl signalisiert und nicht etwa Stress gemacht – eigentlich war der Ausnahmezustand, in den mich dieser GAU versetzt hatte, gar nicht mal so schlecht.

Montag hatte ich ihn wieder – und mittlerweile verspürte ich sogar wieder LUST auf PC! Ich las freiwillig die letzten drei Nummern Internet World, was ich die letzen Monate kaum mehr getan hatte, amüsierte mich köstlich mit dem Buch von Thomas Wirth „Über gutes Webdesign“, ja, ich freute mich auf ein frisch aufgebautes und aufgeräumtes Equipment, von dem aller Ballast und aller überflüssiger Datenmüll verschwunden sein würde. Tatsache ist, ohne IHN bin ich unvollständig und regelrecht behindert. Wichtige Teile meines Gedächtnisses, und zwar die, die mir das Überleben in dieser Gesellschaft halbwegs angenehm ermöglichen, befinden sich auf Festplatte und nicht etwa in der Wetware meiner Gehirnwindungen. Was meine Kontakte zu Mitmenschen angeht, so falle ich erst mal voll aus dem eigenen Netz, wenn ich vom Internet-Zugang abgeschnitten bin – wer ist heut schon noch mit seinen physischen Nachbarn befreundet! Und arbeitslos bin ich ohne Gerät sowieso, das Schreiben mit der Hand ist ja nicht wirklich eine konkurrenz-fähige Lösung.

All das nahm ich in dieser guten Woche Zwangsurlaub wahr, ohne es positiv oder negativ einzustufen. Bereit, den Ausnahmezustand zu genießen, ging ich in das nette, aber meistens leere Lokal gegenüber und ließ mir vom Macher seine Geschichte erzählen. Es gibt da Pasta und Suppen, Frühstück und Kuchen, Wein und klassische Musik – auf allen Tischen brennen Teelichte, es ist hell und freundlich und die Preise sind beeindruckend niedrig. Ich traute mich in den leeren Raum, denn ich hatte ja mit Peter schon eine Mail über *seine Website gewechselt, bestellte Pasta mit Pesto (3,60) und freute mich, dass sich nun auch andere herein wagten. „So voll ist es sonst nie“, meinte der Gastgeber. Ich wünsche ihm, dass sich das ändert, jedenfalls werd ich die Suppen alle mal probieren.
Aufhellungen

Und noch etwas ist mir aufgefallen: morgens im Treptower Hafen, an der Anlegestelle der weißen Flotte, gibt es ein Stück vermauertes Ufer, wo oft Eltern mit Kindern die Schwäne und Möwen füttern. Auch jetzt war da ein Vater mit einem kleinen Kind, sie packten einen Sack mit gesammelten Brotkrumen und Toast aus und warfen die Stückchen in die Luft und ins Wasser. Ich liebe es, diesem hektischen Treiben zuzusehen, die eher schwerfälligen Schwäne haben Mühe, überhaupt etwas abzubekommen, denn sie sind umgeben von schwarzen Teichhühnern, die ihnen alles wegschnappen und dazu schnalzende Laute ausstoßen. In der Luft wirbeln unzählige Möwen herum, richtige Ellenbogennaturen, die einander noch den letzten Fetzen abjagen, wenn sie können. Sie sind hübsch, aber irgendwie ausdruckslos und deshalb ein wenig gespenstisch. An diesem Morgen nun fielen mir die Stockenten auf, ganz gewöhnliche Stockenten, nur schillerten ihre Köpfe in der Morgensonne in einem nie zuvor gesehenen grellgrünen Neonschein, so dass ich sie nur anstaunen konnte. Es war mir bisher nie aufgefallen, obwohl ich die Enten oft sehe – aber eben nicht in der Morgensonne!

Der Morgen war eher nicht die Zeit der gemeinsamen Spaziergänge mit Manfred, doch jetzt lebe ich allein, war sogar ohne PC, warum also nicht? „Alles verändert sich, wenn du dich veränderst!“, sangen einst Ton, Steine, Scherben – auch die Stockenten, wie man sieht, mit denen es übrigens noch nicht vorbei ist. Nur wahre Dichterinnen und Dichter halten sich an einem besonderen Grün lange fest, und ich gehöre eher nicht zu ihnen. Vater und Tochter hatten mittlerweile ihr Brot weitgehend verteilt, ich trat den Rückweg an, war schon ein paar Meter gegangen, da sah ich die Stockenten im Sonnenlicht VIOLETT schimmern. Verdammt, dachte ich mir, wo sind denn jetzt die grünen hin? Ich blieb stehen und checkte sie alle durch: ihre Köpfe leuchteten eindeutig violett, nicht ein einziger noch grün. Ich ging zurück – und das Rätsel klärte sich auf: unter direktem Sonnelicht schimmern sie grün, auf der verschatteten Seite glänzen sie violett. Und das Ganze changiert ins farblos dunkle, leuchtet also nur sporadisch auf.

Das Wunder sind nicht eigentlich die Stockenten. Sondern dass ich echt 48 Jahre alt werden muss, um zu bemerken, wie sie aussehen. Offensichtlich hab‘ ich nie zuvor hingesehen, es gab immer WICHTIGERES. Meine Vorhaben zum Beispiel, meine Probleme und Befürchtungen, meine Wünsche und Träume – so langsam lichtet sich dieser öde Dschungel ein wenig und ich bin gespannt, was noch alles in Sicht kommt.

Ach ja, fast hätte ich’s vergessen: INDAT hat die Speichermodule gewechselt und das Netzteil. 129 Euro und die Kiste lief wieder. Im Prinzip – Aufbau und Neuinstallation aller Geräte und Programme hat noch bis heute gedauert. Und ab morgen mach ich eine VIEL bessere Datensicherung, ganz bestimmt!

Diesem Blog per E-Mail folgen…