Claudia am 18. Dezember 2002 —

Weihnachten III: Vom Weihnachts-Irresein

„All‘ überall auf den Seelenspitzen sehe ich blinkende Bomben sitzen, und
innen, aus dem Herzenstor, schaut‘ mit großen Augen die Neurose
hervor…“

Diesen „Weihnachtsreim“ schrieb mir ein Freund, der als Arzt mit vielen Menschen regelmäßig in Kontakt kommt. In diesen allzu heiligen Tagen spitzen sich offenbar die Dinge zu: was lang ertragen wurde, wird jetzt unaushaltbar; das bisher locker Weggesteckte tötet den letzten Nerv. Der kleine Ärger wächst sich zum Großkonflikt aus, die Beziehung kriselt, der Lehrer entläßt entnervt die unbelehrbaren Schüler – der Mitmensch ist alles in allem eine richtige Katastrophe. Zwar sind viele damit beschäftigt, Geschenke einzukaufen, doch die Gedanken an „die Anderen“ werden nicht freundlicher, im Gegenteil. Und die Festtage selbst – so erzählen zumindest immer wieder die Polizeiberichte – beinhalten Dramen und ausagierte Feindseligkeiten, die den Rest des Jahres an Häufigkeit und Intensität deutlich übertreffen.

Was ist nur los an Weihnachten, dem „Fest der Liebe“? Vielleicht – ich spekuliere mal wild drauf los – ist es der Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit, der in diesen Tagen nicht mehr tolerierbare Ausmaße annimmt. Einerseits Friede, Freude, Lebkuchenduft und Lichterglanz, das Beschwören einer Harmonie, die auch mitten im vervielfältigten Konsumgeschehen Ziel bewußter oder unbewußter Wünsche ist; andrerseits der Blick auf die Realität, die in diesem Vergleich weit dunkler wirkt als üblicherweise: Niemand liebt. NIEMAND!

Was wir üblicherweise Liebe nennen ist ein ausgesprochen bedingtes und daher flüchtiges Erleben: Solange du meine Erwartungen zu einem gewissen Prozentsatz (der nach eigener Tagesform schwanken kann) bedienst, liebe ich dich – sobald das aufhört, erkenne ich Dich als Fremden: Himmel, was habe ich eigentlich mit dir zu tun? Und je nachdem, wie abrupt sich solche Bewußtwerdungen ereignen, umso unbehauster und verweifelter, einsamer und verlassener mag man sich dabei fühlen: ent-täuscht! Und dann?

Werden die persönlichen Welten aus Selbstbetrug und krampfhaft aufrecht erhaltenen Illusionen in Frage gestellt, reagieren viele äußerst feindselig, Wut, Ärger und Agressionen aller Art suchen ein Ventil – und in der Weihnachtszeit explodiert so mancher ganz unvermittelt, von dem man derartiges gar nicht erwartet hätte – nicht jetzt, nicht so!

Nun, das ist das „Weihnachtsirresein“ – und keiner ist davor sicher. Es ist kein wirkliches „Irre sein“ im Sinne von „ver-rückt“- im Gegenteil, es entsteht duch das Hereinbrechen des Lichts, in diesem Fall des Lichts der Erkenntnis über das, was ist. Wir sehen: aha, ich liebe nicht! Aha, auch der Andere liebt mich nicht, er schätzt es nur, wenn ich dies oder jenes ´rüber reiche: Streicheleinheiten, Vergnügen, Schutz, Anerkennung, Ermunterung, Dankbarkeit und so manches, das ich mir offensichtlich alleine nicht verschaffen kann.

Geschäftsbeziehungen sind von allen Beziehungen die ehrlichsten, denn sie formulieren üblicherweise einen Vertrag über Geben und Nehmen, über die Bedingungen des Miteinander, die sonst so gern verborgen bleiben. Je unausgesprochener und unbewusster diese „Bedingungen“, desto größer das Konfliktpotenzial, wenn das Licht darauf fällt, wenn sichtbar wird, dass sie nicht bzw. nur unbefriedigend erfüllt werden: zwischen Lebenspartnern, unter Freunden, in Familien, bei Kollegen, im Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler und selbst zwischen Autor und Publikum – wer schreibt schon gern für die Schublade?

Im christlichen Kontext des Weihnachtsfestes steht der kommende (lat: „ad-venit“) Jesus Christus für das In-die-Welt-Kommen einer bedingunglosen Liebe, einer Liebe, die nicht tauscht und berechnet: genau der Liebe eben, zu der wir nicht fähig und gewöhnlich auch nicht willens sind.

Diese große Erzählung ist von wunderbarer Symbolkraft! Jeder kann sich davon ergreifen lassen, zumindest in diesem potenziell Gemeinschaft-stiftenden Moment der Sehnsucht: Wir erkennen einander als Unzufriedene, als Sehnende nach einer Liebe, die außerhalb unseres allzu menschlichen Vermögens liegt.

Dazu muss ich nicht mal Christ sein. Religionen sind ja ganz allgemein Tröstungssysteme, Therapeutika gegen die Unbehaustheit des Menschen in einem unfassbaren Universum. Wer es schafft, die eine oder andere religiöse Tröstung zu verinnerlichen, ist im Grunde zu beneiden – wir anderen dürfen hoffen, dass der Preis nicht zu hoch ist, dass nicht gleich das Fanatische die Oberhand gewinnt, um die gewonnenen Gewißheiten gegen „Ungläubige“ durchzusetzen. „Innere Sicherheit“ der einen kann Krieg gegen die Anderen bedeuten, wie wir wissen.

Was ist aber jenseits religiöser Geisteswelten, die ja nicht mehr für alle begehbar sind, zu alledem zu sagen? Gibt es auch ohne Jesus Christus, ohne Buddha, Dharma und Sangha einen aufrechten Gang? Ein Dasein, das nicht auf Illusionen baut, aber doch auch den Bezug zu jener unbedingten Liebe – und sei sie noch so unnerreichbar – nicht einfach negiert?

Tja, jetzt steht sie da, diese Frage! Ich kann bis zu ihr vordringen, sie aber nicht beantworten. Sowieso bestünde eine Antwort nicht aus Worten, sondern das je eigene Leben von Augenblick zu Augenblick ist die Antwort – oder ein Versagen. Immerhin erkenne ich immer besser, dass ich die Antwort nicht üBERNEHMEN kann: nicht aus Büchern und auch nicht von lieben Freunden und Lehrern. Sie geben zwar Hinweise, machen mit ihren je eigenen Antworten VORSCHLÄGE – aber all diese Vorschläge, und seien sie noch so intelligent, großartig, gar eingebunden in große Traditionen, werden als „übernommene“ immer auch relativiert, nämlich durch das konkrete Leben ihrer Verbreiter, soweit es auch in seinen Abgründen und Verfehlungen sichtbar wird.

Von Lehre und Leben

Lothar Reschke hat unter dem Titel „Heilige“ hierzu einen interessanten Beitrag verfasst – aus der Sicht desjenigen, der die „Heiligkeit“ als eine Art Bringschuld verspürt: wer sich lebenslang mit sich selber auseinander setzt und hier und da auch von anderen als Lehrender wahrgenommen wird – hat so einer nicht die Pflicht, im Alltag mehr als nur „politisch korrekt“ zu agieren? Sprich: immer lächelnd, alles verstehend, unangreifbar, über den Dingen schwebend ??? Sich also niemals über den Lärm des Nachbarn aufregen, niemals streiten und aus der Haut fahren? Immer hübsch gelassen bleiben???

Natürlich nicht. Wie Lothar das Ganze beschreibt, wird das Absurde gut spürbar, das in der Erwartung der „Heiligkeit“ liegt. Ganz erschöpft ist das Thema damit allerdings nicht: die angeführten Beispiele sind duchweg so, dass man sie unter „gerechter Zorn“ bzw. berechtigter Ärger subsumieren könnte – wie aber würde es sich bei echten Verfehlungen darstellen? Zum Beispiel beim Guru, der seine Schülerinnen sexuell ausbeutet? Oder beim Therapeuten, der Authentizität im Hier & Jetzt lehrt, aber die Trennung von seiner ahnungslosen Frau lang im voraus plant? Und was ist von „Lebensberatern“ zu halten, die bei eigenen Konflikten erstmal die Kommunikation abbrechen und sich in den Schmollwinkel zurück ziehen?
Können sie alle trotzdem Lehrer und Helfer sein?

Und ich frage weiter: Warum sollte ich eigentlich den kompromisslosen Ansichten eines Menschen folgen, mit dessen Leben in dieser Welt ich auf keinen Fall tauschen wollen würde? Kann denn ein katholischer Priester aus seinem Zölibat heraus Ratschläge bezüglich erotischer Vertrickungen geben? Ist liebendes Mitgefühl von jemandem zu lernen, dem andere Menschen in ihrer Beschränktheit so spürbar auf die Nerven gehen? Kann ich mein Leben besser ordnen mit Hilfe der Tipps eines Ratschlagenden, dessen Dasein an dieser oder jener Stelle ein Chaos ist?

Nein! Ganz spontan sage ich dazu nein. Aber stimmt das, auf’s Ganze gesehen? Man muss vorab unterscheiden, was mit „Lernen“ gemeint ist: Ich kann natürlich durch einen Choleriker, der laufend aufbraust und mich anschreit, Gelassenheit erlernen, genauso wie ich in südlichen Ländern lerne, mit sehr viel weniger Wasser auszukommen. Ich lerne hier DURCH eine Person oder ein Phänomen, also durch Lebenserfahrung, durch Praxis. Auf diese Weise kann ich von allem übel und jedem Schurken sehr viel lernen – und doch bleibt er ein Schurke!

Etwas Anderes ist das übende Erlernen einer Lehre, einer überlieferten oder neu propagierten Weisheit oder das übernehmen einer Theorie oder Weltanschauung: HIER ist das Spielfeld der oben gestellten Fragen nach dem Verhältnis von Lehre und Leben. Kann ich jemandem folgen, der selber nicht verwirklicht, was er lehrt?

Ja und nein! Es kann genauso lange funktionieren, soweit meine EIGENE MOTIVATION trägt. Schließlich spricht nichts dagegen, dass einer in einem bestimmten begrenzten Bereich ein guter Lehrender sein kann, auch wenn er nicht alle Erwartungen, die ich (!) mit der Lehre verknüpfen mag, im eigenen Dasein verwirklicht. Diese je eigene Motivation speist sich aus zwei Quellen: aus Erleben und aus Glauben bzw. Hoffen. Um überhaupt etwas verändern zu wollen, muss es mir spürbar schlecht gehen. Ich greife zu einer Lehre, einer übung, einer anderen Praxis, Lebens- oder auch nur Denkweise, um mich bzw. meine Lage zu verbessern. Unzufriedenheit und Leiden können hier ganz subtile Formen annehmen, doch bilden sie IMMER den Motivationhintergrund. Der zweite Punkt ist die Einsicht, das Denken und Auf-die-neue-Praxis-Hoffen, gespeist durch Worte, Texte und Vorbilder (!), evtl. die Kraft einer Gruppe, allesamt eher virtuelle Aspekte, die solange tragen sollen, bis sich spürbare Ergebnisse in der Lebenswelt manifestieren.

Je nach persönlichem Temperament und kulturellem Kontext sind wir hier mehr oder weniger Warte-bereit: Christen warten seit über 2000 Jahren auf die Wiederkunft Christi, Jehovas Zeugen warten insbesondere auf das Gericht und die Rettung der 144000, Buddhisten werden eingestimmt auf unzählige Leben, die bis zum Erreichen des Nirvana oder gar der Erleuchtung aller fühlenden Wesen noch durchzuhalten sind – während ich das schreibe fällt mir auf, dass Religionen sich offensichtlich darum bemühen, unseren Erwartungshorizont ins schier Unnerreichbare zu verschieben. Warum eigentlich?

Wäre es nicht besser, wir vertrauten dem eigenen Urteil? Ich probiere etwas eine Zeit lang aus – entweder es tut mir gut und bringt mich weiter oder eben nicht. Je nachdem, wie es sich damit verhält, verwerfe ich es wieder und gehe weiter, oder baue es ganz oder in Teilen für immer in mein Leben ein. Ich könnte auch experimentieren, eigene Varianten erforschen, vielleicht selber lehren, oder ich mache kein weiteres Aufhebens, sondern sehe zu, dass MEIN Nutzen durch Tun & Handeln in dieser Welt auch zum Nutzen anderer wird. Und entdecke vielleicht über kurz oder lang wieder eine andere Art Leid, das mich motiviert, wieder nach etwas Ausschau zu halten, zu suchen – das Leben ist Bewegung, kein Verharren in Stille. Ich beschwer mich da nicht.

Der Vorbildcharakter eines Lehrers ist also alles in allem hilfreicher Aspekt, keine notwendige Bedingung. Ein Vorbild benötige ich nur, solange ich nicht selber spüre, wie gut „die Sache selbst“ ist, ein Zustand, in dem wir so kurz wie möglich verweilen sollten. Glauben und Hoffen kann Erleben nicht wirklich ersetzen – mittlerweile haben das sogar die Börsianer gemerkt und das läßt für diese Welt hoffen.