Claudia am 07. November 2002 —

Vom Kleben am Problem

Da sagt Einer dem Anderen, wie es funktionieren kann. Was richtig und was wichtig ist, wie die wahre Wirklichkeit aussieht und wie man sich selbst, das Sein, das wahre Wesen findet. Dass das Suchen nichts bringt. Dass man im Grunde immer schon dort ist, dass es also keinen Weg gibt. Dass alle, die von Wegen sprechen, lügen und klammheimlich eigene Interessen verfolgen. Dass immer schon kein Mensch dem andern helfen kann, weil doch – eigentlich – gar kein Problem existiert. Weil das „Ich“ eine Illusion ist, dass da glaubt, ein Problem zu haben. Dass der Verstand das Problem selber erzeugt, um eine Haut zu retten, die keinen Besitzer hat. Dass das absurd ist, total verrückt, und dass alle, die einen Weg aus der Verrücktheit weisen, irgendwie lügen und eigene Interessen verfolgen.

Wenn ich jetzt mehr dazu sage, bin ich auch wieder „dort“. Reihe mich ein unter die Ratgeber und Problemlöser oder unter diejenigen, die die Ratgeber und Problemlöser kritisieren: weil es kein Problem gibt, und kein Rat möglich ist. Weil ja alles, was einer sagen kann, nur von denen verstanden wird, die es schon wissen.

Nun springt der logische Verstand an, mischt sich sogleich ein in das, was eher als ein Stück Literatur, als wortreiche Illustration eines Gefühls und nicht etwa als Analyse oder Kritik gemeint war. Und Seine Majestät merkt an:

„Selbst wenn alles Ratschlagen obsolet ist, weil immer nur derjenige versteht, der es schon begriffen hat, so liegt doch hier eine Ebenenverwechslung vor. Im Relativen haben Aktionen ihren beschränkten Sinn – auch Analyse, Suche, Weg und Rat. Dass wir in der Lage sind, denkend absolute Blickwinkel einzunehmen, sollte nicht dazu führen, die Welt des Relativen als nichtig abzutun – schließlich leben wir darinnen, Tag für Tag, es gibt kein Anderland, auch wenn man sich vorkommen mag wie vom andern Stern.“

Schöner Einwand, doch wie entsetzlich langweilig! Diese Abstrahierungen! Um sie allgemein verständlich zu machen, könnte man sich unter tätiger Hilfe anderer auf hunderten von Webseiten und Diskussionsforen damit beschäftigen, „Erkenntnisse“ auf Erlebnisse und Ereignisse anzuwenden, bzw. diese aus ihnen heraus zu lesen. Im konkreten Einzelnen würde man die Thesen untermauern, beweisen, rechtfertigen, als Wahrheit verteidigen oder als falsche Vorstellung entlarven. Jede Menge schreiben, diskutieren, argumentieren, sich dabei Freunde und Feinde machen, vielleicht ein Gefolge um sich scharen, dem man – Ökonomie ist immerhin Leben! – mit Glück demnächst etwas verkaufen könnte (zu Weihnachten wollte ich endlich mal eine „Digital-Diary-CD“ produzieren, fällt mir da wieder ein…).

Kein Draht zum Dasein

Warum macht man das alles? Warum verbringen unzählige Menschen freiwillig große Teile ihrer freien Zeit damit, ÜBER DAS LEBEN nachzudenken und diesem Nachdenken Gestalt zu geben, es zu verbreiten und sich mit anderen darüber auseinander zu setzen, anstatt einfach zu leben? (Mr.Logos mischt sich quengelnd ein: „Denken ist aber doch TEIL des Lebens…“ Shut Up!)
Nicht aus Sorge um sich selbst oder um die Welt. Nicht einmal aus einem konkreten Leiden heraus (obwohl praktisch jeder von sich glaubt, er wäre dabei, Missstände zu bedenken, zu besprechen und damit an ihrer Beseitigung zu arbeiten). Sondern weil gar nichts anderes möglich scheint als das „Leben im Modus des Denkens“, das Leben in Distanz zum Dasein. üblicherweise KENNEN wir nichts anderes und KÖNNEN es also auch nicht. Das ist das kleine schmutzige Geheimnis der „drüber stehenden und schreibenden Klasse“, heute die überwältigende Mehrheit. Eine art Impotenz.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich vor ein paar Jahren zu einem Freund, der viele Dinge gern allein macht, sagte:

„Es gibt mir nichts, einen schönen Sonnenuntergang alleine zu erleben. auch ein schönes Bild in einem Museum, ein Spaziergang durch den Wald: wenn ich dabei alleine bin, sehe ich zwar, dass es schön ist, aber es ist ein schmerzliches Gefühl damit verbunden, weil ich es mit niemandem teilen kann“.

Auf dieses hier offen aber ohne Gewahrsein ausgesprochene Unvermögen, etwas Schönes zu genießen, war ich sogar noch stolz! Dass ich den Anderen brauchte, um über den Umweg SEINER Freude und SEINER Lust wenigstens mittelbar etwas vom Leben mitzubekommen, sah ich nicht, sondern hielt mich für einen besseren, weil gemeinschafts-orientierten Menschen. Was für eine Ignoranz! Das „schmerzliche Gefühl“ war die Empfindung eines Mangels – als würde man Schokolade in den Mund stecken und überhaupt nichts schmecken.

Wer meint, ich übertreibe, möge doch mal sein eigenes Leben betrachten: WO ist der Platz und die Zeit für reine Lebensfreude, für das Erleben und Genießen, für das Fühlen, das Staunen, das spielerische Experimentieren ohne in die Zukunft weisende Zwecke? (Wenn dir jetzt ganz viel einfällt, wunder ich mich, dass du diesen Artikel bis hierhin mitgelesen hast!).
Klar, praktisch jeder kennt die drastischen Genüsse und vielversprechenden Glücksbringer: Essen & Trinken, Sex, mancherlei Drogen, die aus der Welt des Denkens kurz heraus führen. Doch all das ist entweder sozial problematisch oder hat seinen Preis. Der Kampf gegen das Übergewicht ist allgegenwärtig, von einer freien, liebevollen und unbelasteten Sexualität kann keine Rede sein (dieser Artikel wird wegen der bloßen Erwähnung des Wortes „Sex“ jetzt mancherorts schon ausgefiltert!). Legale und illegale Drogen bringen nur kurze Zeit Freude und Abenteuer, schon bald machen sie krank, irre oder süchtig.

Da wendet sich der Geistesmensch mit Grausen und wird Analytiker, wird Grübler, Denker und Kritiker. Steht künftig darüber und daneben, beurteilt, beschreibt und diskutiert, zeigt gar als Philosophin oder Lehrer Wege auf, auf denen die anderen fortschreiten mögen, nur selber bleibt man allzu gerne sitzen. Und wenn das dann nicht für alle Tage reicht, gibt’s ja noch das Reisen: Sich räumlich verändern, so oft wie möglich in Bewegung von hier nach dort versetzen und mit immer neuen EINDRÜCKEN versorgen. Das lässt vergessen, dass diese Eindrücke eben nur kurz, nur im Modus der Neuheit funktionieren – ansonsten ist es wieder nichts mit dem Genießen, selbst der Berg Kailasch wird langweilig, wenn man wieder und wieder um ihn herum laufen müsste.

Eindrücke, die nachhaltig wirken sollen, brauchen ein passendes Medium, in das sie sich einschreiben können: ein offenes, weiches, empfindliches Medium, dessen Oberfläche RUHIG und aufnahmebereit ist. Unstetig-nervöse Aufmerksamkeit, die ständig von diesem zu jenem zappt, ist kontraproduktiv. Es braucht Stille, braucht Leere, damit Form quer durch alle Wirklichkeitsbereiche zur Entfaltung kommen kann.

Doch kaum etwas in unsrer Welt unterstützt uns darin, leer zu werden. Wir sollen (wollen?) ja auch nicht genießen, sondern arbeiten – oder zumindest engagiert nach Arbeit suchen. arbeiten, um Geld zu verdienen und/oder um beim andern etwas zu gelten. Wir wollen immer etwas WERDEN, anstatt einfach so miteinander Spaß zu haben, wie wir gerade sind.
Für jetzt lasse ich es mal dabei bewenden, ich halte das Sitzen einfach nicht mehr aus. Draußen ist ein wunderbar blauer Himmel, die Sonne scheint, ich werde zum billigen Inder gehen und etwas zu Mittag essen. auf einen runden Schluss, einen Clou oder gar einen ordentlichen „Weg“ muss die Welt heut verzichten (und wird wenig von mir und meiner Schreibe halten…) – dafür genieße ich jetzt den Tag! :-)